Kirchen - Alt-Kiew - Stände - Bildung

Nach der heiligen Láura blieb mir noch die Besichtigung der übrigen meistens in unschönem Rokokostil aufgeführten Kirchen der Stadt. Und ziemlich steil aufwärts die hügeligen Straßen ging es nach Alt-Kiew hinauf, das gleichfalls mit seinen Palästen und unscheinbaren Häuschen in buntem Durcheinander, durch die Harmonie der vielfachen Parkanlagen, unter denen überall ernste Pappeln in Gruppen die bevorzugten Bäume sind, einen ungemein anheimelnden Eindruck macht. Zuerst wurde die Goldene Pforte: Solotüje Worota in Augenschein genommen, die älteste Kirchenruine Russlands, die man den Zeiten Wladimirs zuschreibt; ein durch Eisenschienen gestützter, aus zwei Kolossalbauten bestehender Ruinenkomplex, von dem weder Stilart noch einstige Bestimmung, sondern nur das hohe Alter ersichtlich. Bogodin wräma: (Gosspodi Pomilui) Gott erbarme Dich unser! nennt sie der Volksmund. Weiter führt uns der Weg zur Sophien-, zur Andreas- und zur Michaelis-Kirche, alle in der hochgelegenen Altstadt befindlich. Die um das Jahr 1037 erbaute Sophienkirche mit ihrem mächtigen Glockenturm, von etwa fünfzehn kleineren Kuppeltürmen umgeben, ist im Grundgedanken byzantinisch und macht einen einfach würdevollen Eindruck; ebenso das uralte Michael-Kloster, in welchem die Heiligenbilder verkaufenden Priester in der Vorhalle meinen Unwillen erregten. Die Michaeliskirche hat wie die Usspenskijkirche in der Láura sieben vergoldete Kuppeln. Ein wirklich schöner Bau aber ist die Andreaskirche mit ihrer mächtigen Mittelkuppel, die nur in der äußersten Spitze in die Zwiebelform ausläuft, von vier kleineren kettengeschmückten Kuppeltürmen umstanden auf hohem Unterbau ruhend, der nach allen vier Seiten von Balustraden umgeben ist und zu dem eine breite Freitreppe aufwärts fuhrt. Weiter wäre noch das Bröderkloster zu bemerken und die zierliche Eiserne Kirche. Die Andreaskirche aber verdient den Vorzug vor allen übrigen durch ihren herrlichen Blick von der Balustrade auf die schöne Alte und Neue Stadt zu Füssen, mit ihren grünen und goldenen Kuppeln und den grünen Kupferdächern der Häuser von roten Ziegeldächern unterbrochen. Weiter schweift der Blick auf den silbernen Fluss in der Tiefe mit seiner stolzen Kettenbrücke für Wagen und Fassgänger und seiner mächtigen Gitterbahnbrücke mit den blitzschnell hindurch brausenden Zügen. Und freundlich muten uns die kleinen Dampfer und Segelböte an, die hinüber fahren über den Dnjepr, drüben nach der jenseitigen Insel zum Konzertlokal zwischen den großen Kauffahrteifahrern und Dampfschiffen, die weit hinab den Strom entlang, ziehen nach Jekaterinoslaw und Berdjansk. Und wie die heilige Láura im kleinen Maßstabe eine Wiederholung vom Bautenkomplex des Kreml ist, möchte ich den Blick von der Andreaskirche im kleinen Maßstabe eine Wiederholung jenes allumfassenden Kreml-Überblicks nennen, der uns Moskau so unvergesslich macht.

Als wir am Adligen Fräulein-Stift vorüberfuhren, einem etwa vierzig Fenster Front haltenden, äußerst behaglichen Bau inmitten dichter Parkanlagen, ließ ich unwillkührlich in meiner Erinnerung alle die Russinnen Revue passieren, die mir daheim, oder im Lande selbst, oder in ausländischen Bädern begegnet. Petersburg aber möchte ich dabei nicht mitzählen, weil es eine spezifisch kosmopolitische Stadt ist. Und ich komme, selbstverständlich die Ausnahmen abgerechnet, zu dem Resultat: kolossal viel angeborene Anlagen bei oft außerordentlichem Liebreiz, klarer scharfer Verstand, der der Unterhaltung eine eigene Anziehungskraft gibt, aber viel zu oberflächliche Erziehung. Man spricht französisch, deutsch oder englisch, wie es die französische oder deutsche Bonne gelehrt, aber in der Muttersprache wird selten ein Brief ohne Fehler geschrieben. Und in den Mädchen-Pensionaten der höheren Stande betreibt man eigentlich nur dreierlei Dinge: die französische Sprache, ein äußerst mangelhaftes Klavierspiel und die Anfertigung von Stickereien zu Geburtstagsgeschenken. Alles Übrige liegt arg darnieder und eine witzige Russin sagte mir, sie habe immer Mühe gehabt im Pensionat den Moses und den Napoleon auseinander zu halten, sie seien ja beide in Ägypten gewesen. Selbstverständlich bei der hohen Begabung tritt dann wieder als kolossaler Umschlag dagegen die Überbildung, das Studentinnentum auf, die Sucht nach Emanzipation und männlichem Treiben, der Hang zum Radikalismus und Nihilismus; spielt ja so wie so die Zigarre eine Hauptrolle in der russischen Frauenwelt. Immer ist es eine orientalische Halbheit, ein Unvollendetes, weil der Frau die Aufgabe, die ihr vom Schöpfer gestellt worden, fremd ist, diejenige Geistes- und Seelenbildung, die allein die richtige Gattin und Mutter ausmacht und selbst den allein stehenden älteren Mädchen das Leben lebenswert macht; jene Seelenbildung, die sogar einen Voltaire zu dem Ausspruch begeisterte: „Ihr Zweck, Madame, sei der, durch Ihr Beispiel Ihr Geschlecht zu dem Glauben zu ermutigen, dass man sich veredelt, indem man seine Vernunft vervollkommnet und dass Geist Anmut gibt . . . Es ist wahr, dass die Frauen, welche die Pflichten ihres Geschlechts über wissenschaftlichen Beschäftigungen versäumen, zu tadeln sind, aber derselbe Geist, der zur Erkenntnis der Wahrheit fuhrt, führt auch zur Pflichterfüllung. Wahre Bildung lehrt nicht das wertlosere Gut mit dem wertvolleren bezahlen." Und herrscht schon in den oberen Schichten Flachheit, Öde und Ziellosigkeit und die Langeweile der Festlichkeiten, Glückwunschvisiten und Besuchsempfänge, die keinen andern Zweck haben in ihrer endlosen Aufeinanderfolge, als ruhige Sammlung und Nach; denken zu verhüten, wie grenzenlos verkommen sieht es da beim Volk, zunächst also in den Volksschulen aus, in denen selbst die Hälfte der Lehrer kaum lesen und schreiben können. Man muss sich daran erinnern, dass Katharina II., die als Volksaufklärerin gepriesen wurde, in jener Zeit schrieb: „Wozu Volksunterricht? Wenn das Volk unterrichtet wäre, würde es uns nicht gehorchen, wie es uns jetzt gehorcht.“ Und an diesem Grundsatz hält man noch heute fest. Daher kommt denn bei allen angeborenen Fähigkeiten die Halbbarbarei des Orients: die unorganische Stellung der Frau in der vornehmen Welt, wie im Bauernstande. Nach unten hin ist sie die Sklavin des Mannes, nach oben hin die Sklavin der Gesellschaft. Das Bauernhaus ist ungemütlich und leer, weil, wie der Volkswitz sagt, die Frau „keine Seele, sondern bloß Dunst hat" und das vornehme Haus ist ungemütlich und leer, weil es nichts anderes kennt, als die hohle Äußerlichkeit des Salonlebens. Und doch haben die größten Männer aller Zeiten und Länder es immer wieder und wieder ausgesprochen, was sie ihren Müttern zu verdanken gehabt. Regeneriert die Frauen und edle Frauen werden edle Männer bilden, durch die Macht ihrer Herzen und gewaltiger Weiblichkeit. Das ist der soziale Beruf der Frau.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Krim- und Kaukasus-Fahrt. Bilder aus Russland,