Kiew - Klein Russland - Láura-Monastyr

Von der Láura ging es zur famosen über tausend Meter langen Kettenbrücke über den Dnjepr; zu der neuen Nicoläiwskispusk (Straße) und zum Aristokratenkirchhof von Askold (Ascolde womahia), dem harmonischsten und schönsten der vier Kirchhöfe von Kiew. Dieser Friedhof trägt seinen Namen Askold nach dem Waräger, der zuerst Kiew erobert. Mit der kleinen uralten Kapelle und dem schattigen Grün, inmitten tiefer Einsamkeit an die Felswand gelehnt, mit seinem Blick der Kühe und Sammlung auf dem langsam dahin fließenden silbernen Strom und die in leise Abendschatten getauchte Niederung, ist er mir in Wahrheit wie eine Stätte des Friedens erschienen, nach den Mühen des Lebens, und unter seinen schönen Grabdenkmalen gedenke ich noch des frisch aufgeworfenen Hügels für einen eben gestürzten, besonders beliebten General, der die ganze Poesie des Kriegerlebens verkörperte, wie sie kein Dichter begeisterter zu besingen vermöchte. Ein so ergreifendes Denkmal, ob auch nur ein Denkmal, das der Moment geschaffen, habe ich noch in keinem Staate der Welt gesehen. Es war, als ob das Volkslied der Ukraine in seinen herrlichen Kosakenliedern Leben und Gestalt angenommen: Lanzen, Säbel und Gewehre, das Außengitter, jeden Unberufenen abwehrend, aufgepflanzte Standarten, wallende Fahnen der Hügelschmuck und von der Mündung einer kleinen Kanone herabfallend die Fülle der Kränze und Friedenspalmen mit reichen Bandschleifen und stolzen Devisen geziert, die noch rings umher im Umkreise den Boden weithin überfluteten.

Tags darauf ging es zum Wladimir-Denkmal und der Wladimir-Kapelle auf pappelumstandenem Plateau über dem Dnjepr gelegen. Die Kapelle besteht aus einem graziösen Unterbau, überragt von weithin leuchtender kreuzesgeschmückter Säule; das Denkmal zeigt auf stufengetragenem mächtigem Sockel den Großfürsten mit dem Kreuze in der Hand, wie er das Christentum seinen Völkern verkündet.


Gehen wir nun zu dem Zeitalter Wladimirs des Großen zurück, so sind „aus den ca. 20.000 Quadratmeilen, der doppelten Größe Deutschlands, die damals zum Gebiete der russischen Slaven gerechnet wurden, aus den 40.000 zur Zeit des Mongoleneinfalls heute nicht weniger als 369.830 Quadratmeilen einer kompakten Ländermasse geworden, die auf keiner Seite durch tiefhineingreifende fremde Besitzungen durchbrochen wird, mehr als die doppelte Größe des Erdteils Europa, fast 1/6 des Erdballs, 40 Breiten- und 73 Längengrade".

Aber zu dem Ursprung der russischen Geschichte zurückkehrend wird, „die Gründung der russischen Monarchie angesetzt auf die Mitte des neunten Jahrhunderts, da der mit unbekanntem Alter ausgestattete Freistaat Nowgorod seine Unabhängigkeit an die Waräger verlor unter ihrem Anführer Rurik". Wahrscheinlich ist es ein Bruchteil des Seefahrervolks schwedischer Normannen, die Russ-Ruderer genannt, wovon der Name Russland, die slawisiert wurden, da sie auf eine, wenn auch geringe heimische Kultur stießen. „Rurik ist der erste Großfürst. Mitte des zehnten Jahrhunderts bereitete die Großfürstin Olga durch ihren Übertritt die Herrschaft des Christentums im Lande vor, die am Ende desselben Jahrhunderts durch Wladimirs I. Bekehrung definitiv begründet wurde . . . Bald nach seinem Tode beginnt jenes Zerreißen in Teilfürstentümer, welches der Alleinherrschaft ein Ende machte und das Land in unendliche Wirren trieb. 1170 bestanden bereits zweiundsiebzig Fürstentümer, die einen Bundesstaat bilden sollten unter Oberherrschaft des ältesten Großfürsten von Kiew. Von jener Teilung an beginnt die Geschichte des hohen russischen Adels, der die Zeit bis zum Mongoleneinfall ausfüllte, durch unausgesetzte Kämpfe der Teilfürsten gegen den Großfürsten oder durch ebenso unausgesetzte Kämpfe untereinander. Als dann im dreizehnten Jahrhundert Schwäche und Zerrissenheit nach der unglücklichen Schlacht an der Kalka, Unterjochung mit Feuer und Schwert durch die mongolischen Tatarenhorden Tschengis-Chans zur Folge hatte, bewirkte die zwei und ein halb Jahrhundert währende Barbarenherrschaft die völlige Vernichtung der geringen Kulturansätze jener frühmittelalterlichen Zivilisation, die als ein schwaches Pfropfreis der byzantinischen auf die altslawischen Zustände übertragen, durch Versteinerung des byzantinischen Wesens und Glaubens zum Stillstande verurteilt worden war. Russland musste seine Bildung in der Folge vollständig von vorn anfangen und sie war diesmal das „Werk westländischer Kultur“, wie später unter Peter dem Großen ersichtlich. Endlich befreite Iwan III. Wassiljewitsch (1462 — 1505) das Reich von den beiden Übeln der Tatarenherrschaft und dem zersplitternden Teilfürstentum, indem er die Barbarenhorden nach Asien zurücktrieb und den Trotz der heimischen Großen brach durch Einverleibung der Teilfürstentümer und der Republik Nowgorod in das Großfürstentum. Er residierte in Moskau und nannte sich Herrscher von Russland. Dadurch begann die Monarchie sich zu bilden und auszubreiten, ein reguliertes Heer beschirmte den Thron, Wissenschaften und Künste, Sicherheit und Ordnung, die Segnungen des Friedens, begannen Pflege zu finden. Am gewaltsamsten schreitet auf dieser Bahn der „Machtkonzentration" vorwärts sein Enkel Iwan IV. der Schreckliche, der die Herrschaft des Adels durch die grausamsten Mittel brach und dieselbe „Wandlung zum Einheitsstaat eingeht, die sich mit Heinrich VII. in England, mit Ludwig XI. in Frankreich, mit Ferdinand dem Katholischen und Isabella in Spanien in jenem Zeitalter vollzog." In diese Zeit fällt auch die Eroberung Sibiriens, die Herrmann in seiner Geschichte Russlands humoristisch also einleitet: „Drei Kaufleute und ein landflüchtiger Räuberhauptmann von der Wolga wagten es Sibirien ohne Befehl des Zaren in seinem Namen zu erobern." Eine neue Wendung trat zu Anfang des siebenzehnten Jahrhunderts in der Geschichte Russlands ein, als nach wechselnden Thronkämpfen das Haus Romanow mit Michail Feodorowitsch II. den Zarenthron bestieg. „Nun herrschte bis auf Peter den Großen eine Art Zweikammersystem: die Bojaren und eine Anzahl Würdenträger des Zaren bildeten die erste, Abgeordnete des Klerus, des Adels und der Städte die zweite Kammer. Peter der Große beseitigte auch jene schwache konstitutionelle Schranke und arbeitete ebenso energisch für Absolutismus wie für Zivilisation. Er verfuhr souverain mit Verschenkung und Entziehung des Adelstitels, wobei der Rang im Staatsdienst die erste Entscheidung übte; eine Rangordnung von 1722 blieb bis auf Zar Nikolaus. Klarer lässt sich Sinn und Geist von Peters Regiment, insbesondere der Zweck der Erbauung von Petersburg kaum bestimmen, als Herrmann es mit folgenden Sätzen tut: „Die Hauptstadt gründete er auf fremdem Boden, auf fremdem Grund und Boden wollte er den Brennpunkt des russischen Volkslebens verpflanzen; auf dem inneren Grunde allgemeiner menschlicher Bildungsanlage wollte er seinem Volke ein neues Lebenslicht aufgehen lassen. An die Grenzen des europäischen Westens vorgerückt, sollte die Hauptstadt, das Auge des Staates, die Bildungsformen des Westens in sich abspiegeln. — " Und daran knüpft er weiter die Mahnung: „Der deutsche Laut in den Namen Schlüsselburg und Petersburg mag für alle Zeiten die Russen daran erinnern, dass sie dem Ziel, welches Peter der Große ihnen vorgestreckt hat, treu sein sollen, und dass sie es nie erreichen können, wenn sie nicht fortwährend die ausländischen und zunächst die deutschen Bildungselemente in sich aufnehmen." — Die Gründung Petersburgs ist die letzte große Wendung im russischen Wesen und Leben, die Eroberungen der Krim, des Kaukasus und Zentralasiens abgerechnet. Die zwei Grundübel aber der Zersplitterung in Teilfürstentümer und der Mongolenherrschaft haben sich bis auf den heutigen Tag geltend gemacht. „Die Mongolenherrschaft hat Russland im asiatischen Gepräge erhalten, die Halbzivilisation verewigt und die absolute Herrschergewalt eingebürgert. Und sehr richtig sagt Honegger dann weiter in seiner „Russischen Literatur und Kultur": „Wäre vor dem Mongoleneinbruch aus den Einzelfürstentümern ein einheitliches Reich zusammengewachsen, so hätte sich in diesem Gesamtstaat eine gemischte Regierungsform herausbilden können, welche die Gewalt zwischen Zar und Volk teilte und nach Beseitigung der Mongolenherrschaft wieder ins Leben getreten wäre. So aber waren nach der Tatarenherrschaft die ersten Zaren von Moskau nicht die Nachfolger der altheimischen Fürsten, sondern der Tataren-Chans und ihre autokratische Gewalt zeichnet das russische Regiment bis in die neueste Zeit. Einen Vorteil nur zog das Volk aus der Mongolenherrschaft: seine auffallende Assimilationsfähigkeit an die asiatischen Völker und seine Erfolge im Vorschreiten auf diesem Erdteil. Hält ihr Kolonisationstalent doch dem der Engländer die Wage."

Schließen wir hier diese kurze Übersicht mit dem Satz, mit welchem Strakt und Herrmann die große von ihnen zusammengetragene Geschichte Russlands beginnen: „Die ganze Weltgeschichte alter und neuer Zeit hat keinen Staat aufzuweisen der in Hinsicht des Umfang s und der Größe diesem Riesenstaat zur Seite gesetzt werden könnte: vor ihm verschwinden die großen und ephemeren Reiche der berühmtesten Weltstürmer Rhamses, Alexander d. Große, Tschengis-Chan, Timur u. A. und selbst das weite China mit seinen 150 Millionen Einwohnern, wie das römische Reich zu Augustus' glänzender Zeit und in seiner größten Ausdehnung unter Trajan stehen dem gegenwärtigen russischen Staat in Arealfläche bei weitem nach. Diesem Eroberungsdrang haben die Russen erst in neuester Zeit ein Prinzip untergelegt, dessen Vertreter sie sein wollen und nennen dieses Prinzip den Panslavismus: es ist die Idee eines großen allumfassenden slawischen Völkerbundes unter Russlands Führung, die etwa seit 1815 datiert, seit Napoleons Landung auf Elba und dem Wiener Kongress. Herrschaft über das baltische Meer und durch Eroberung Konstantinopels über das Schwarze Meer und Bosporus und Dardanellen sind „die fixen Augenpunkte" die man gleichzeitig festhält. „Und diese panslawistischen und philoslawischen Russifizierungsgedanken gehen zunächst dahin, in den baltischen Provinzen die nicht russischen Elemente zu nationalisieren und den siebenhundertjährigen Germanismus samt seiner Kultur auszutreiben“ im grellen Kontrast zu den Zukunftsplänen Peters des Großen. Wenn Gogol in seinem Hauptwerk: „Die toten Seelen" zum Schluss das russische Reich mit einer dahinbrausenden Troika vergleicht: „Das Reußenland fliegt an der Erde vorbei und die andern Völker und Reiche weichen ihm aus und hemmen nicht seinen Lauf“ so ist das dieselbe schneidende Satire, die den ganzen Roman, wie alle seine bedeutendsten Werke durchzieht. Und nicht sarkastisch sondern tief traurig sagt Lermontow: „Ich betrachte unsere Generation mit Schmerz, ihre Zukunft ist leer und düster . . . wir werden unseren Nachkommen nichts hinterlassen, weder eine befruchtende Idee noch ein Werk des Geistes."

Meiner Überzeugung nach gibt es für Russlands wahrhafte Machtstellung nur einen Weg: im Innern Vernichtung des Nihilismus durch die angestrebte Kultur Peters des Großen ohne seinen Absolutismus, der in kulturellen Staaten überwunden nur noch dem Asiatentum angehört; nach Außen statt der Herrschaftspläne in Europa die Erfüllung der Mission in Asien durch berechtigtes Vorgehen gegenüber den abgestandenen mohamedanischen Barbarenreichen, ohne die Gefährdung der ebenso berechtigten Interessen des übrigen Europa. —
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Krim- und Kaukasus-Fahrt. Bilder aus Russland,