Katharina II. und die Französische Revolution

Aus: Russische Revue. Monatsschrift für die Kunde Russlands. III. Band
Autor: Prof. A. Brückner., Erscheinungsjahr: 1873

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Französische Revolution, Russland, Russen, Umwälzungen, historische Persönlichkeiten, Fürstenbund, Veränderungen in Europa, politische Institutionen, soziale Zustände, soziale Reformen, Initiative Frankreichs, französische Hofsitten, Zusammenbrechen der bestehenden Verhältnisse
Inhaltsverzeichnis
  1. Erste Fortsetzung
Die Geschichtsschreibung betrachtet weit häufiger die großen politischen Ereignisse an sich als die Wirkung, welche sie auf nicht unmittelbar an denselben Beteiligte übten. Und doch ist der Eindruck großer Umwälzungen auf die Zeitgenossen ein lehrreicher Maßstab für die Bedeutung solcher Tatsachen. Wenn wir die Urteile und Ansichten der jeweiligen Zeitgenossen über hervorragende historische Persönlichkeiten und erschütternde historische Vorgänge in hinreichender Menge kennen zu lernen Gelegenheit hätten, wir würden ein vollständigeres Bild von derartigen Menschen und Tatsachen gewinnen, als wenn wir, wie dieses häufig geschieht, Äußerungen der öffentlichen Meinung oder geistreicher und erfahrener Beobachter nur ausnahmsweise berücksichtigen.

Wenn ich es unternehme, in der folgenden flüchtigen Skizze das Verhalten der Kaiserin Katharina II. zur Zeit der großen Revolution in Frankreich diesen Ereignissen gegenüber zu schildern, so beabsichtige ich damit nicht eigentlich ein Kapitel politischer Geschichte zu schreiben. Für die Geschichte der Revolution selbst soll hier kein Beitrag geliefert werden. Indessen mag es von Interesse sein, eine so bedeutende Persönlichkeit wie die Kaiserin Katharina über welthistorisch so großartige Begebenheiten wie die große Krisis in Frankreich urteilen zu hören. Wir setzen dabei die Hauptphasen der Revolution als bekannt voraus. Es gilt uns mehr, einen Beitrag zu liefern zur Geschichte der Kaiserin und ihrer Umgebung. Nachdem so viel von ihrem unmittelbaren Eingreifen in die politischen Geschicke Europas erforscht wurde, — ich erinnere nur an die Teilungen Polens, an die Rolle, welche Russland in der orientalischen Frage damals spielte, an den Fürstenbund und wie Katharina sich zu demselben verhielt — , nachdem man mehr als genug sich mit dem Privatleben der Kaiserin abgegeben hat, wobei Klatschsucht und Lust am Skandal die hervorragenden Motive abgaben, mag es der Mühe wert sein, zu zeigen, wie die Kaiserin über das Zusammenbrechen der Monarchie in Frankreich, über die neuen Zustände in der Republik dachte und sich aussprach. Es fehlt hierbei nicht an Material zur Erörterung dieses Gegenstandes. Namentlich bis zum Jahre 1790 liefert das vor einigen Jahren veröffentlichte Tagebuch des Geheim Schreibers der Kaiserin, Chrapowitzki, reichliche Ausbeute. Einige Ergänzung liefern verschiedene Briefe der Kaiserin aus dieser Zeit. Die damalige russische St. Petersburger Zeitung, deren Durchsicht mir durch Zusendung der betreffenden Jahrgänge von der Bibliothek der Akademie der Wissenschaften zu St. Petersburg möglich geworden ist, dürfen wir als zum Teil von den Hofkreisen in Russland inspiriert betrachten. Hier macht sich der Einfluss der Emigrantenkreise geltend, welche am St. Petersburger Hofe eine bedeutende Rolle spielten und die Kaiserin veranlassten, an der Intervention zu Gunsten der Emigranten Teil zu nehmen. Die Darstellung dieser politischen Aktion, der diplomatischen Beziehungen Russlands zu den vertriebenen Bourbons und deren Anhängern, der Teilnahme Russlands an den Kriegen gegen das revolutionäre Frankreich liegt außerhalb unserer Aufgabe.

Wiederholt ist während der letzten Jahrhunderte für große Veränderungen in Europa überhaupt der Impuls von Frankreich ausgegangen. Das Zeitalter Ludwig XIV., die Jahre der großen Revolution und Napoleons I., die Umwälzungen der Jahre 1830 und 1848 weisen Beispiele einer solchen Initiative Frankreichs auf. Es hatte bisweilen den Anschein, als warte Europa für neue Erscheinungen und Veränderungen auf dem Gebiete der Mode und der Literatur nicht bloß, sondern auch auf dem Gebiete der politischen Institutionen und sozialer Zustände auf das Losungswort von Frankreich aus. Es repräsentierte Frankreich zu gewissen Zeiten die politische Macht, zu anderen Zeiten die konstitutionelle Weisheit, noch zu anderen die soziale Reform und vor Allem fast durchgehend den literarischen Geschmack.

In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts waren es noch mehr die Fürsten als die Völker, noch mehr die offiziellen Kreise Europas als die nicht offiziellen, welche als Schüler der französischen Zivilisation bezeichnet werden können.

Und dies gilt auch von dem russischen Hofe. Mochte Russland für Schiffbau und Handel ein unvergleichlich stärkeres Interesse haben als England oder Holland, so war doch französische Hofsitte, französisches Zeremoniell, französische Literatur und Mode vorzugsweise dasjenige, was den Spitzen der russischen Gesellschaft als Ideal vorschwebte. Erst um das Jahr 1756, als es galt, Friedrich den Großen aus einem mächtigen Könige von Preußen wiederum in einen unbedeutenden brandenburgischen Kurfürsten zu verwandeln, beginnen regelmäßige diplomatische Beziehungen zwischen Russland und Frankreich, während dieselben zwischen Russland und anderen Mächten viel mehr entwickelt waren; aber schon früher finden sich zahlreiche russische Reisende in Paris ein, welches der Zielpunkt der vornehmen Touristenwelt wird. Nirgends in dem Maße und so leicht meinte man sich Bildung, feine Umgangsformen, literarische Kenntnisse aneignen zu können.

Es war die Zeit der Aufklärungsliteratur, die Zeit der berühmten Salons und bureaux d’esprit, wo etwa beim Baron Holbach, bei der Marquise du Deffant oder Madame Geoffrin die Spitzen der französischen Literatenwelt im Beisein mancher vornehmen Gäste aus England, Schweden, Österreich, Russland u. s. w. gewissermaßen Schule ritten, wo — allerdings nicht ohne eine gewisse Coquetterie und Gefallsucht — eine Fülle von Geist und Phantasie aufgewandt wurde, um die Hauptfragen des Staatsrechts, des Verwaltungswesens, der Wirtschaftspolizei, der Religion, der Ästhetik, der Geschichte u. dgl. m. im Konversationstone, gleichsam spielend zu beantworten. Europa lauschte und lernte: die lernbegierigsten waren jene Fürsten und Minister, welche nicht bloß die Idee der Macht repräsentierten, sondern auch durchdrungen waren von dem Gefühle der Pflicht ihren Untertanen gegenüber.

Von dieser Lernbegier zeugt der Eifer, mit welchem, in ähnlicher Weise wie Joseph II. oder Friedrich der Große, die Kaiserin sich mit den Haupterscheinungen der sogenannten Aufklärungsliteratur bekannt zu machen suchte, in ein persönliches Verhältnis zu einem Diderot trat, einen lebhaften Briefwechsel mit Voltaire unterhielt, sich über die neuen Ideen und Bücher, welche in den Pariser Literatenkreisen besprochen wurden, unterrichten ließ, dass sie nicht umsonst lernte, zeigt u. A. jene berühmte „Instruction pour dresser les lois“ aus dem Jahre 1768, worin Katharina als eine Schülerin von Montesquieu, Beccaria u. A. erscheint und die Hauptfrage berührt und erörtert, welche die hervorragendsten Geister jener Zeit beschäftigte, die Frage von einer Theorie der Gesetzgebung. Diese Liebhabereien und Studien der Kaiserin sind viel weniger bekannt als manche andere Züge aus ihrem Privatleben, die allerdings weniger erfreulich sind, aber deren Kenntnis aus Massons „Mémoires secrets sur la Russie“ oder Johannes Scherrs unsauberem Buche „Drei Hofgeschichten“ nicht irgendwie ein wahres oder vollständiges Bild von Katharina liefert. Bei solchem literarischen Schmutz und Klatsch wird man an den Satz erinnert, dass es für den Kammerdiener eines Helden keinen Helden gebe, aber noch mehr an den Zusatz: „nicht weil der Held kein Held, sondern weil der Kammerdiener ein Kammerdiener ist.“ —

Aus den Briefen des Fürsten von Ligne, aus den Memoiren des Grafen Ségur und vielfachen Zeugnissen anderer Beobachter der Kaiserin, am meisten aber aus den vielen hunderten von Briefen und Zetteln, welche von ihr herrühren und erst in der letzten Zeit allmählich bekannt geworden sind, wissen wir, welche ungewöhnliche Begabung Katharina für dasjenige besaß, was Talleyrand als den größten Genuss preist, dessen der Mensch überhaupt teilhaftig werden könne: — die Konversation. In den Gesellschaften der Eremitage, wie bei der ungezwungenen Heiterkeit während der berühmten Reise in den Süden im Jahre 1787, in feierlichen Audienzen, wie im Verkehr mit ihren Ministern oder Geheimschreibern zeichnet sich Katharina durch das aus, was man Esprit zu nennen pflegt, durch echt weibliche Grazie und einen feinen Takt, durch eine ungewöhnliche Biegsamkeit und Schnellkraft des Geistes, durch vielseitige Kenntnisse, durch liebenswürdige Humanität. Es ist u. A. von Interesse zu sehen, wie sie auf ihrer Reise in die Krim, während ihres dreimonatlichen Aufenthalts in Kijew ein in der Damenwelt sonst ganz unbekanntes Buch die „Commentaries on the laws of England“ von Blackstone studiert *) sie mit der Absicht studiert, eine möglichst gründliche Kenntnis des englischen Rechts zu erlangen, wie sie in den siebziger und achtziger Jahren mit großer Spannung den Ereignissen des amerikanischen Freiheitskrieges folgt und über dieselben mit den sie umgebenden Personen redet, wie sie von ihren hochfliegenden politischen Entwürfen bisweilen mit Scherz und Witz und ebenso heiterer Laune spricht und schreibt, wie dieses auch wohl an Friedrich dem Großen zu bewundern ist.

*) Siehe das Tagebuch Chrapowitzkis in den Schriften der Moskauer Gesellschaft für Geschichte und Altertümer Russlands vom Jahre 1S62. Am 10. Dezember. 1786. Am 14. Juli; am 31. Juli, 1787, (russisch).

Ich erlaube mir, eine Probe dieser übermütig plaudernden Ausgelassenheit der Kaiserin mitzuteilen, eine Probe zugleich ihres Stils, wenn man will auch ihrer politischen Denkweise. Als sie, wenige Jahre nach ihrer Thronbesteigung zum Bruch mit der Pforte entschlossen ist und 1768 jenen Krieg beginnt, der mit dem für Russlands fernere Erfolge so günstigen Frieden von Kutsdhuk-Kainardshi schloss, da schrieb sie an den Grafen Tschernyschew. . . . .

Der Eindruck, den die amerikanische Revolution auf Katharina machte, war kein günstiger. Sie vermochte nicht einzustimmen in den Jubel der französischen vornehmen Welt über die Emanzipation der Kolonien von England. Sie bemerkte wohl, dass sie an König Georg III. Stelle nie die Unabhängigkeit der neuen Republik anerkannt, sich nie über den Verlust so schöner, reicher Provinzen getröstet haben würde. Wiederholt neckte sie ihren Leibarzt, den Engländer Rogerson, mit dieser empfindlichen Schlappe, welche England hierbei erlitten habe. Als der englische Gesandte, Fitz-Herbert, im Jahre 1787 im Gespräch mit Ségur, während Beide im Reisewagen der Kaiserin saßen, auf dem Rückwege aus der Krim nach St. Petersburg, zu beweisen suchte, dass der Verlust der englischen Kolonien nicht nachteilig, sondern sogar vorteilhaft für England gewesen sei, konnte die Kaiserin, welche um dieses Gespräch nicht zu stören, sich gestellt hatte, als schlafe sie, nachher im Gespräch mit Ségur sich gar nicht von ihrem Erstaunen erholen, dass der sonst so besonnene und richtig urteilende Fitz-Herbert sich so unsinnig habe äußern können. Dagegen bedauerte sie lebhaft, den berühmten Helden des amerikanischen Freiheitskrieges, den Grafen Lafayette, den sie 1787 nach Kijew eingeladen hatte, nicht kennen lernen zu können. Er war durch die damals tagende Notabeln-Versammlung an dieser Reise verhindert. Gegen Benjamin Franklin, welcher kurz vorher als Gesandter der amerikanischen Republik in Paris außerordentlich gefeiert und bewundert worden war, hatte Katharina ein Vorurteil. Als sie einst sein Portrait erblickte, sagte sie „Je ne l’aime pas“. Den Publizisten Radischtschew, dessen Verfolgung wegen eines im Grunde recht unschuldigen Buches eine unliebsame Episode in der Regierung Katharinas bildet, tadelt sie besonders bitter, weil Radischtschew Franklin bewunderte und lobte. Bei ihr machte sich eben derselbe Widerspruch geltend, welcher auch bei anderen Vertretern dieser Epoche wahrzunehmen ist. Diese Fürsten und Machthaber erscheinen eben oft liberaler in Worten als in Handlungen. Der Verfasser des Antimacchiavelli hat in der Praxis manchen Wink Macchiavallis zu befolgen verstanden. Die Toleranz Josephs II. auf religiösem Gebiete erschien in manchen Regierungshandlungen als despotische Intoleranz: Gustav III. Zensuredikte sind auf dem Papier liberal und schlugen in der Praxis in ihr Gegenteil um. Ebensowenig war Katharina doktrinär genug, um sogleich alte im Prinzip von ihr gutgeheißenen Theorien und legislatorischen Reformen praktisch machen zu wollen. — Dieses doppelten Verhältnisses zur Theorie und zur Praxis wegen erscheint es eben von Interesse, Katharinas Äußerungen über die Ereignisse in Frankreich bis zur Schreckenszeit, ihre Beziehungen zu den Emigranten zu beachten und auf einige ihrer Regierungshandlungen in dieser Zeit hinzuweisen.

Die Frage, ob die Revolution im Allgemeinen in Europa erwartet wurde, ist nicht leicht zu entscheiden. Mochten auch einige Weiterblickende in Frankreich ein jähes Zusammenbrechen der bestehenden Verhältnisse für unvermeidlich halten und sogar in der nächsten Zukunft erwarten, so waren doch die offiziellen Mächte schwerlich so pessimistisch gesinnt. An den Höfen glaubte man nicht, dass eine so durchgreifende und in ihrer äußeren Erscheinung immerhin plötzliche Katastrophe bevorstände. In der auswärtigen Politik spielte Frankreich noch während der Regierung Ludwig XVI. eine hervorragende Rolle, es erfreute sich eines Ansehens in Europa, welches mit den eigentlichen Machtmitteln Frankreichs schlechterdings nicht Übereinstimmte. — Erst allmählich, als die fünfzehnjährige Epoche der Experimente unter Ludwig XVI. eine Reihe von Misserfolgen aufwies, als ein unheilvolles Schwanken eintrat zwischen sehr liberalen Reformen und reaktionären Kompromissen mit dem ancien régime, da mochte wohl hier und da der Gedanke auftauchen, dass ein so bedenkliches Spiel nicht glücklich verlaufen könne.

Katharina beobachtete die Vorgänge in Frankreich mit großem Interesse. Die berühmte Halsbandepisode veranlasste sie, sich alle auf den Prozess des Kardinals Rohan bezüglichen Schriftstücke zu verschaffen. Sie tadelte die Beziehungen der vornehmen französischen Welt zu dem Schwindler Cagliostro.

Als die Notabelnversammlung berufen wurde, bemerkte die Kaiserin nicht ohne Selbstgefühl und nicht gerade mit sehr treffendem Verständnisse für eine richtige Vergleichung zwischen Russland und Frankreich: ,,Nicht Jedem gelingt dergleichen: wir könnten sehr wohl eine Deputiertenversammlung berufen." Ende 1787 erfuhr die Kaiserin von Demonstrationen des Pöbels gegen die verhasste Autrichienne, Marie Antoinette, man habe ihren Wagen mit Steinen beworfen, als sie in die Oper gefahren sei: sie sei genötigt gewesen, umzukehren. Mittlerweile war bereits in Versailles und Paris von der Berufung der états généraux die Rede. Katharina hatte keinen Gefallen an diesem Vorhaben und bemerkte Anfang Januar 1788 jetzt könne die französische Regierung, indem sie sich in einen Krieg stürze, die Erfüllung des Versprechens, eine solche Versammlung zu berufen, umgehen. Die Opposition der Parlamente in Frankreich, meinte Katharina, könnte zu gewaltigen Unruhen führen; sie brauchte dabei einen Ausdruck, mit welchem man im Russischen Bürgerkrieg bezeichnet. — Ihr Interesse an den Ereignissen wuchs: sie schärfte ihrem Geheimschreiber ein, den Zeitungsnachrichten zu folgen.

Man weiß, wie die Frage vom doublement du tiers, von der doppelten Anzahl der Deputierten des dritten Standes, ganz Frankreich in den letzten Monaten vor dem Zusammentreten der assemblée nationale beschäftigte. Necker entschied diese Frage in liberalem Sinne, freilich ohne die in engem Zusammenhange damit stehende Frage von der Art der Abstimmung zu entscheiden. Katharina lobte Necker für die erstere Entscheidung.

Noch konnte man nicht wissen, dass schon die nächsten Wochen die Nachricht von sehr erschütternden Ereignissen bringen würden. Erschütternd war die Nachricht von dem Fall der Bastille. Der Graf Ségur, welcher sich damals als französischer Gesandter in St. Petersburg aufhielt, schildert den Eindruck dieses Ereignisses auf das Petersburger Publikum als sehr günstig: man sei ganz entzückt gewesen über den Sturz des Symbols der Tyrannei. Er selbst war in ähnlicher Weise zufrieden mit den Anfängen der Revolution wie Lafayette, mit welchem er in Amerika gefochten hatte.

Ganz anders dachte Katharina, welche die Schwäche des Königs Ludwigs XVI. beklagte. Mit Recht ist wohl von dem unglücklichen König gesagt worden, er sei viel mehr der Passagier als der Führer auf dem Staatsschiffe gewesen. In ähnlicher Weise äußerte sich Katharina über ihn. Sie sagte von Frankreich: ,,le pourquoi est le roi.“ Jeder lenkt den König wie er will: zuerst Breteuil, dann Condé und Artois, endlich Lafayette.“

Die Kaiserin ließ recht regelmäßig die Briefe öffnen und lesen, welche die in St. Petersburg befindlichen ausländischen Gesandten durch die Post erhielten oder absandten. Diese Einrichtung, über welche ich einen kleinen Aufsatz in den Grenzboten im Jahre 1870 habe drucken lassen, nannte man „Perlustration.“ Viele höchst wichtige Dinge erfuhr sie auf diesem Wege; zweimal wöchentlich ist in Chrapowitzkis Tagebuche von diesen geheimen Manipulationen die Rede. Auf diesem Wege erfuhr Katharina auch, wie günstig sich der Graf Ségur über die französische Revolution in einem Briefe an Lafayette geäußert hatte. Sie schätzte den französischen Gesandten sehr hoch. Er erfreute sich ihres Vertrauens, ihrer Freundschaft. Jetzt war sie empört über das Lob, welches Lafayette der Revolution erteilte. ,,Wie kann ein königlicher Minister so schreiben?" fragte sie erstaunt „Was würde Joseph II. dazu sagen, wenn er das wüsste?“ Sie las ihrem Geheimschreiber einige Zeilen aus dem Schreiben vor, in welchem Ségur allerdings dem Grafen Lafayette zu der erfolgreichen Revolution Glück wünschte, von dem Unverstande der französischen Minister, dem unerträglichen Steuerdrucke in Frankreich schrieb und seine Freude darüber ausdrückte, dass „die Operationen Lafayett’s", der damals schon an der Spitze der Nationalgarde stand, einen so günstigen Erfolg gehabt hätten.

Am 10. August sagte Katharina: ,,Seit meiner Thronbesteigung habe ich stets geglaubt, dass es zu einer Gärung (Fermentation) in Frankreich kommen würde. Man hat nicht verstanden, die herrschende Stimmung zu benutzen. Ich hätte den ehrgeizigen Lafayette zu mir genommen und ihn zu meinem Beschützer gemacht." Sie wiegte sich dabei in dem Gefühle der Sicherheit, dass solche Unruhen in Russland unmöglich seien, indem sie bemerkte: „Bei uns wäre es allenfalls noch die Rekrutenaushebung, welche eine Gärung zur Folge haben könnte.“*)

*) Sie gab dabei ihrem Sekretär zu bedenken, in wie ganz anderer Weise sie selbst seit ihrer Thronbesteigung gehandelt habe. —

Es kamen bald noch schlimmere Nachrichten aus Frankreich. Bei Gelegenheit der Verhandlung über das „Veto" des Königs ging es in der Nationalversammlung recht tumultuarisch her. Auch sonst wurde die Atmosphäre in Paris immer unheimlicher. Am 16. September 1789, also 2 ½ Jahre vor der Hinrichtung Ludwigs XVI., bemerkt die Kaiserin, als Chrapowitzki die Zustände in Frankreich „une veritable anarchie“ nannte: „Freilich! ils sont capablesde pendre leur Roi à la lanterne. C’est affreux." Sie begann sich stark wegen des Schicksals des Königs zu beunruhigen. Am 25. September bemerkt sie: „J'aimerais mieux le voir chassé de Versailles, mais enfermé à Metz. Hier würde der Adel sich mit ihm vereinigen.“ Es waren dieselben Gedanken, welche anderthalb Jahre später die unselige Flucht des Königs veranlassten. Die Kaiserin wusste nicht, dass die Allianz mit den Vertretern des ancien régime für Ludwig XVI. verhängnisvoll sein musste. Ein König der Emigranten durfte Ludwig doch unmöglich sein wollen. Im Gespräche mit Ségur erinnerte der Geheimschreiber Katharinas daran, dass Heinrich IV. sich den ersten Edelmann in Frankreich genannt, dass Ludwig XIV. in Zeiten des Unglücks gesagt habe, er werde sich an die Spitze des französischen Adels stellen. Diejenigen, welche jetzt in Frankreich die Hauptrolle spielten, bemerkte er einigermaßen zynisch, seien Schuster, und Schuster könnten nicht regieren, sondern verständen nur Schuhe und Stiefel zu machen. In ähnlicher Weise äußerte sich über die Allianz zwischen Monarchie und Aristokratie Katharina in einem Schreiben an den Baron Grimm, mit welchem sie regelmäßig über französische Literatur zu korrespondieren pflegte. Sie verglich die Unruhen in Frankreich im Jahre 1789 mit den Kämpfen der Ligue in den letzten Zeiten der Dynastie Valois".

Mittlerweile erfolgte die Katastrophe in Versailles am 5. und 6. Oktober. Mit unsäglicher Verachtung erzählte Katharina , die ,,poissardes“, welche man jetzt „dames de la Halle" nenne, hätten den König gezwungen, seinen Wohnsitz nach Paris zu verlegen. In prophetischem Tone fügte sie hinzu: „II aura le sort de Charles I.“, eine Ansicht, welche damals wohl von verschiedenen Seiten laut wurde, wie denn auch der Fürst von Ligne im November 1789 in einem Schreiben an einen Freund bemerkte, Ludwig XVI. befinde sich auf dem Wege zum Blutgerüste. Wie ergriffen Katharina von diesen Vorgängen war, zeigt ihre Äußerung am 5. November: „Que dirait Boileau et son grand roi étant ressuscités à Paris dans ce moment".

Einige Monate später äußerte Katharina Unzufriedenheit über die Abschaffung der Titel in Frankreich und war in Besorgnis, dass der Herzog von Orleans zur Regentschaft gelangen und die Erblichkeit der französischen Krone aufgehoben werden würde. Sie erblickte darin eine Schwächung der Macht Frankreichs und erinnerte daran, wie die Nachbarn Polens, um dieses Reich zu schwächen, stets gegen eine erbliche Monarchie in Polen agitiert hätten. Als der Sekretär Chrapowitzki etwas keck im Gespräche mit Katharina über Frankreich die Bemerkung machte; „C'est un pays metaphysique, chaque membre de l’assemblée est un roi et chaque citoyen un animal“, nahm die Kaiserin diesen etwas ungesalzenen Witz recht gut auf.

Immer entschiedener nahm sie die Partei der Emigranten und des Königs: „Je suis aristocrate'* sagte sie, „c'est mon métier". Burkes Schrift über die Revolution lobte sie und bemerkte, die Sache Ludwigs XVI. sei die Sache aller Könige. Sehr scharf äußerte sie sich über die in Frankreich herrschende „égalité“, scherzte, als sie aus dem Fenster ihres Palastes einen Trupp Soldaten bemerkte, die russischen Soldaten hätten noch keine ,,piques patriotiques," erfuhr mit Erstaunen, dass ein junger Russe, Strogonow, mit seinem Erzieher einer Sitzung des Jacobinerklubs beigewohnt hatte und sorgte dafür, dass alle sich in Frankreich aufhaltenden Russen schleunigst dieses Land verlassen sollten.

Man kann sich vorstellen, in welcher Spannung Katharina war, als sie die Nachricht erhielt, Ludwig XVI. sei aus Paris entflohen. Die Freude war von kurzer Dauer. Am Abende desselben Tages erfuhr man in Peterhof, wo Katharina sich aufhielt, die königliche Familie sei verhaftet und auf dem Rückwege nach Paris. „Je n'avais qu'un moment de joie," schrieb sie an den Prinzen von Nassau-Siegen in Bezug auf dieses Ereignis. Der Fluchtversuch Ludwigs war gewissermaßen mit russischer Hilfe unternommen worden, insofern als die Baronin Korff, Tochter eines Bankiers in St. Petersburg, welche bekanntlich an der Reise Teil nahm, durch die Vermittlung des russischen Gesandten Simolin den Pass für sich, ihre Familie (die königlichen Kinder) und ihr Gefolge (Ludwig XVI. und Marie Antoinette) erhalten hatte.*)

Es ist bekannt, wie Ludwigs XVI. schwankende, unkönigliche, unstaatsmännische Haltung das Vorgehen der ihm befreundeten Fürsten zu seinen Gunsten erschwerte. Als der König, welcher nach seiner Gefangennehmung eine Zeitlang seiner Würde beraubt gewesen war, die an sich unmögliche, ihrem Wesen nach republikanische und nur den Namen nach monarchische Verfassung akzeptiert und damit allerdings einen großen Fehler begangen hatte, da schüttelte sein Schwager Leopold den Kopf und meinte nicht mehr viel für den König tun zu können. Ebenso äußerte sich Katharina recht entrüstet über diesen Schritt des Königs: „Wie kann man einem König helfen“, bemerkte sie, „der selbst so wenig seinen Vorteil kennt“. Sie war in hohem Grade unzufrieden. **)

*) Archenholtz' Minerva a. a. O. Über den Anteil der Baronin Korff an der Flucht des Königs, ein Aufsatz mit Aktenstücken im Russischen Archiv, 1860. S. 800-816

**) Der Fürst von Ligne schrieb (Oeuvres I. 225): ,,Le roi de France s'est fait roi de Pologne.“ — Chrapowitzki, 24. Sept. 1791. Ein Schreiben der Kaiserin an Subow, in welchem sie sich entrüstet darüber äußert, dass Ludwig XVI. zweierlei Willen habe, einen geheimen und einen öffentlichen, s. in den Beilagen zu Solowjews Geschichte des Falls von Polen.

Katharina II (1729-1796) Genannt Katharina die Große, Kaiserin von Russland

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Ludwig XVI. König von Frankreich (1754-1793 hingerichtet)

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Antoinette, Marie (1755-1793 hingerichtet) Frau von Ludwig XVI. von Frankreich

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Cordasy, Charlotte (1768-1793 hingerichtet) ermordete den Jounalisten Jean Paul Marat

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Danton (1759-1794 hingerichtet) französischer Politiker

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Lafayette (1757-1834) Französischer General

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Madame Roland (1754-1793 hingerichtet) politische Figur in der Französischen Revolution

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Mirabeau (1749-1791) französischer Politiker

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Necker, Jacques (1732-1804) Bankier, Finanzminister unter Ludwig XVI.

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Robespierre, Maximilien de (1758-1794 hingerichtet) französischer Politiker

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Napoleon Bonaparte (1769-1821) französischer Kaiser

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