Ghetto

Die beiden Schiffgassen und ihre Umgebung verbreiten den Schauer des Schreckens unter alle Menschen, die sie kennen. Alle Plagen Ägyptens und die Gebreste der orientalischen Hafenbettler sind zu einer großartigen Dauerausstellung vereinigt, Dirnen kreischen, Juden feilschen, klagende Töne klingen aus den offenen Fenstern der zahllosen Bethäuser. Zankende stürzen, die Fäuste an der Gurgel, die Treppe eines Wirtshauseinganges herab. Eingesalzene Heringe, drei Volksküchen und die Schmutzkiste vom Karmelitermarkt bilden eine zweifelhafte Geruchseinheit, Im Gedränge des zerrissenen und schmutzigen Volkes erblickt man einzelne Lichtgestalten, ehrwürdige Köpfe, patriarchalische Denkerstirnen. Rings um das „Heim der orthodoxen Juden“, ein Heim von fragwürdigem Wert, drängen sich Händler, wie auf einem persischen Bazar. Jeder ein Paar alte Schuhe in der Hand, oder eine gebrauchte Hose, flüsternde Anbote, entrüstete Rufe, alles im Tonfall des Ghetto.

Im Hause Schiffamtsgasse 11 genießen etwa 50 palästinensische Flüchtlingsfamilien, fast nur Frauen und Kinder in jämmerlicher Enge zusammengepfercht, schäbig unterstützt, gegen sündhaft hohe Bezahlung, in erschreckender Hilfslosigkeit die Gastfreundschaft Wiens. Die Wohnungen sind ganz gewöhnlich, nicht aber die Menschen und Menschenschicksale, die sie beherbergen. Viele Personen aus den verschiedensten Familien zusammengewürfelt, schlafen in bettenlosen Räumen oder auf gemieteten Strohsäcken. In anderen finden wir sechsköpfige Familien in fast vollkommen leerstehenden Kabinetten. Kinder sind da, deren Vater in Amerika lebt, die Mutter aber auf der Flucht im Türkenland starb, säugende Frauen, die ihr Kind auf der Fahrt zur Welt brachten, Mütter, deren Kinder auf der Reise verhungert sind, Familienreste, die sich nach Wien verirrt haben und sich in Sorge um ihre Lieben verzehren. Rassig schöne Kinder mit alttestamentlichen Namen sind seit vielen Monaten Bewohner Wiens, aber keine Schulbehörde nimmt von ihnen Kenntnis. Sie tummeln sich auf den schmutzigen Gängen und vermehren die Sorgen ihrer Mütter. Auf Tür Nr. 13* wird ein Gangkabinett einer Familie mit fünf Kindern vermietet. Ein Kind liegt im Spital. Das Loch ist zirka 6 m2 groß. Ein Bett und ein Strohsack. Das Bett ist ausgeliehen. Für gewöhnlich schlafen 5 Personen auf der Erde. Der Mann war in seiner altneuen Heimat Kaufmann.


Zweimal fanden wir im Hause eine Zimmer-Kabinett-Küchenwohnung** von 14 Personen aus 6 verschiedenen Familien bewohnt. Kronen 50 — monatlich zahlen diese Menschen für die Abnützung der geliehenen Einrichtung allein. Der Mietzins beträgt Kronen 170 '— vierteljährlich. Jeder zahlt soviel auf ihn kommt. In der einen Wohnung finden wir drei Betten und einen Diwan, in der anderen vier Betten und einen Diwan. Die Stumpfheit des flüchtigen Daseins lastet auf allen. Es sieht aus wie Trägheit, ist aber verzweifelte Hilfslosigkeit.

* Siehe Bild Nr. 1.
** Siehe Bild Nr. 4.


Jüdische Flüchtlinge aus Palästina. Glaubt man nicht die Kriegswagen Babylons und die römischen Legionen unter Vespasian zu sehen, nicht die Propheten des alten Bundes klagend ihre Hände ringen ob des Unterganges der heiligen Stadt und der Wegführung ihrer Söhne und Töchter — hört man von Flüchtlingen aus Judäa? Gläubig zogen die Väter, getrieben aus der Enge der Judengasse, vertrauend auf das Licht der Zukunft. Betrogen kehren die Enkel heim, gejagt vom Feinde, der überall ist, betrogen von allen, sterbend vor Hunger, gemustert vom Tod, die Augen ohne Tränen, die Herzen starr, müdes Entsetzen auf den Zügen. Sie kehren heim auf dem uralten Weg über das Goldene Hörn, in die Hauptstadt des Reiches, aus welchem Großvater gezogen.

Hier aber starrt die Mauer des verhetzten Hasses. Leopoldstadt, Juden, Flüchtlinge, Schädlinge, Palästina, Kriegsgewinner, Schleichhändler, in der Seele der Massen notwendig verbundene Begriffe. Man bemüht sich nicht einmal zu erkennen, zu begreifen, die Ungeduld des Aburteilens zu meistern. Man setzt die Ungerechtigkeit zur Herrscherin ein und lässt sich willig von tönenden Worten leiten, statt Erkenntnisse zu sammeln. Der Chor der Gehässigkeit speit seinen giftigen Geifer aus und der Unverstand der Menge plärrt die Litanei der Großerzeuger verderbter Geisteskost mit Grammophonplattentreue nach. Keiner aber will sich mühen um die Wahrheit, die spröder ist als die keuscheste Frau, um die man geworben haben muss im heißen Streben, ehe man sich ihres Besitzes erfreut. Der Unverstand der blinden Menge und die Ungerechtigkeit der hellsehenden Betrüger, sie vollbringen das Unmöglichste: sie säen Hass und Verachtung aus, wo tiefinniges Begreifen und trauernde Liebe Platz greifen sollten — bei den hintergangenen Opfern des ruchlosen Krieges.

Jedes Lebensbild kann erst im Rahmen der Örtlichkeit, zu der es wesentlich gehört, zur vollen Geltung kommen. Die vornehm gekleidete Dame erreicht nicht im Theaterpelz, sondern in ihrem sonnenlichtdurchfluteten Boudoir den Gipfel ihrer Wirkung. Auch das Elend der vom goldenen Wagenthron Plutus', oder von den eisernen Tatzen Mars', des Fürsten der Vernichtung, Zertretenen muss man an Ort und Stelle aufgesucht haben, um es in seiner vollen Wesenheit zu erkennen. Man muss diese doppelt Elenden — Elend heißt auch Fremde — gesehen haben, ehe man es wagt, die Flüchtlinge in ihrer Gesamtheit anzuklagen.

Ein neues Licht wird fließen in das Dunkel des Ghetto, wenn alle die neue Erkenntnis fest und unerschütterlich besitzen werden. Die Erkenntnis der wahren Gegensätze. Nicht Jud und Christ, nicht Germanen und Slaven, auch nicht Deutsche und Engländer, sind die wahren Feinde, nicht Konfessionen und Nationen befehden einander unverhetzt. Nur der wirtschaftliche Gegensatz, der Klassenkämpf ist der allein berechtigte Krieg. Der jüdische und arische Kriegsgewinner gegen den jüdischen und arischen Kriegsverlierer. Dies ist die Front von heute. Die gerechte Front.

Wehe aber, wenn der ungerechte Streit ausgefochten wird! Denn „eher soll die Menschheit aufhören zu existieren, bevor die Gerechtigkeit untergeht.“ Sagte einst Kant.

Es gibt wahrlich nichts Neues unter der Sonne. Jehova zürnt seinem Volke und jagt es von Ort zu Ort. Unstet und flüchtig treibt es sich durch die Lande und siebenmal verstoßen kehrt Ahasver ewig wieder.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Jüdisches Elend in Wien
01 Flüchtlinge aus Palästina

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