Hochwasser. - Eine Hundegeschichte

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1926
Autor: Walter Schimmel-Falkenau, Erscheinungsjahr: 1926

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Bauern, Dorf, Hof, Laubwald, Umwelt, Natur, Unwetter, Hochwasser, Sturzregen, Bach, Flut, Überflutung, Hund, Tierliebe,
Der Hof Michael Baumgartens lag unterhalb der Berge, dort, wo die letzten Ausläufer des Dorfes mit roten Ziegeldächern im Laubwalde verschwanden. Da der kleine Bergbach nahe am Gehöft vorüberfloss, trugen die Baumgartenwiesen das reichste Futter, ernteten die Schnitter auf Baumgartens Feldern die schwersten Ähren, galt der Bauer als der begütertste der Gemeinde. Ein Mensch nun, dem von allen Seiten immerwährend nur Hochachtung und Ehrfurcht entgegengebracht wird, der um seines Geldes willen überall Gutfreund und Schwager genannt wird, auch dort, wo keine Freundschaft und keine Verwandtschaft festzustellen ist, ein solcher Mensch nun wird, wenn nicht gerade hoffärtig, so doch stolz und selbstbewusst. Wenn Baumgarten in die Kirche ging, neigten sich die vollbesetzten Bänke, wenn er ins Gasthaus trat und mit schallender Stimme rief: „Muckler, ein Maß für alle, die hier sind!“, dann erhoben ich die Begeisterten und ließen Baumgarten leben, bis die Stimmen fröhlich überschlugen.

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So hatte der Bachbauer, wie er genannt wurde, die Tage gern. Schullehrer und Amtmann plauderten oft mit ihm, sogar in der nahen Stadt war er bekannt und hochgeschätzt. Er war ein freundlicher Gesellschafter und ein fast leichtsinniger Freihalter, unter Leuten - sofern sie tanzten, wie er pfiff - war er der lustigste und von oben herab freundschaftlichste Mensch, den man sich denken konnte. Daheim freilich sang die Bachbäuerin ein anderes Lied. Sie klagte den Nachbarfrauen am späten Abend gar häufig ihren Kummer: „Mit dem Bauer ist's schon ein Kreuz. Keine Nacht kommt er vor halber zwei nach Hause. Und ist er daheim vom Abend an, dann wünscht' ich mir, dass er nur bald wieder zu seiner Gesellschaft ginge, so unleidlich erträgt sich's mit ihm. Nicht einmal das Jüngele kann ihn halten.“

Der Stammhalter hatte gerade das zweite Jahr heruntergeschrien. Auch die „Bella“, eine schmalgebaute Stichelhaarhündin, war bei aller Liebe, die sie für ihren Herrn fühlte, doch froh, wenn er nicht daheim war, denn es regnete Fußtritte und Scheltworte, dass es schon nicht mehr schön war.

Als Bella einst mit viel Kummer und Liebe sechs Kinder um sich versammelt hatte, war der Bachbauer mürrisch an die Hütte getreten, hatte die Kleinen herausgenommen und im Bach ersäuft. Diese Tat hätte die arme Bella beinahe zur wilden Verzweiflung geführt. Die einzige Freude, die sie noch auf dem Bachbauernhof hatte, war das Jüngelchen. Mit dem Kinde spielte sie tagsüber, hütete es, holte ihm verworfene Bälle und trug ihm runde Hölzer zu. Eine liebe Eintracht herrschte zwischen beiden. Bis eines Tages - kurz vor den Hochwassertagen - der Bauer seiner Frau das Spielen des Kindes mit dem Hunde grob verbot: „Der Hund hat Würmer, das ist kein Umgang für den Jungen. Ich verbitt' mir so was; die Bella kommt an die Kette.“

So lag die einsame Bella an der Kette, als vom Himmel herunterregnete, was nur konnte. Über die Berge krochen dicke, graue Wolken und brachten unendliche Wasser. Drei Tage hindurch. Der Bach uferte schon aus und legte sich in weiten Flächen über die Wiesen des Bachbauern. Der lachte und meinte: „Schon gut, da wird das Futter uns dicker wachsen.“

Am vierten Tage aber brach das Unheil herein. Schwarz in schwarz dunkelte sich der Himmel ein. Fahles Gelb saß am Horizont und kroch herauf. Ein schriller Wind machte sich auf und strich dünn über das Land. Sturm zog ihm nach und bog die Bäume und knickte die Zweige. Zum Mittag war die Erde dunkel wie eine Stunde nach Sonnenuntergang. Heulend fuhr der Sturm daher, und brausend stürzte der Regen nieder. Die Wasser schossen von den Bergen herunter. In breiten, gelben Flutstraßen rauschten sie gewaltig ins Land. Der Bach war nicht mehr zu sehen. Hinter den Fenstern der Gehöfte standen die Bauern und beteten, dass das Unwetter doch bald vorübergehen möge. In der Kirche läutete der Glöckner. Die Uhren standen kurz auf drei nachmittags. Im Bachbauernhofe ging Baumgarten mit finsterem Gesicht auf und ab. Kurze Blicke flogen hinaus und empörten sich gegen das Wetter.

„Noch eine Stunde so, und es reißt das Getreide aus.“

Auf den gelben Wassern fuhren Heuhaufen mit, Balken und Baumstämme. Durch die breite Dorfstraße schoss es in wilder Fahrt, gurgelnd und mitreißend, was im Wege stand. Als der alte Wecker auf dem Ofensims die dritte Nachmittagsstunde schlug, brach ein greller Blitz aus dem finsteren Gewölk, erhellte gespenstisch das Land und fuhr mit tosendem Krach in die Mühle, die um hundert Meter näher noch am Walde stand als des Bachbauern Gehöft. Das schien ein Zeichen zu sein. Die Wolken brachen wie von scharfer Schere geschnitten, und unheimlich erfüllte das stürzende Wasser alles Land. Das Rauschen war wie der Lärm in einem großen Maschinenhaus. Nacht schien zu sein, und die Bauern glaubten an den Weltuntergang. In den Stuben lagen die Frauen und Kinder auf den Knien. Knechte und Mägde stürzten mit den Bauern in die Ställe und befreiten das Vieh. Die Menschen standen knietief im Wasser schon. Unter unsäglicher Mühe wurden die Tiere auf die Treppen gestellt, während draußen der schwere Wolkenbruch alle Ernte binnen weniger Minuten vernichtete. Der Bachbauer stürzte in den Hof. Die Bella saß heulend auf dem Dach der Hütte. Der Bauer stürzte achtlos vorüber, dem Stall zu, drei Knechte und die Erste Magd folgten ihm. Der Regen schlug sie fast nieder.

Mühevoll dann wateten sie durch die in Halbmeterhöhe das Gehöft durchflutenden Wogen, lösten das Vieh, bargen das erste Heu des Jahres höher. Draußen heulte der Hund. Das Wasser rauschte wild durch das ganze Dorf, dunkel schoss mitten auf der Straße ein Scheunendach wie ein gespenstischer Kahn hin. Ziegen und Schafe trieben mit, ein kleines Ferkel schwamm obenauf. Entsetzt jagten die Blicke hinter den noch sicheren Fenstern diesen Ereignissen nach, solange bis das niederbrechende Wasser das Sehen unmöglich machte. Des Wolkenbruchs letzte Gewalt bedeutete den Anfang der Katastrophe. Der Tag wurde schwarz. Die Bachbäuerin stand in Sterbensangst in der Stube bis zu den Knien im Wasser, sie rang die Hände. Die durchbrechenden Wogen hatten die Türen zerrissen. Die Flutwelle stieg höher und höher. Die Ortsfeuerwehr alarmierte in letzter Stunde die Wehren der nahen Stadt. Man begann im Oberdorfe und half soweit möglich Haus um Haus schützen, immer die Berge herunter. Des Bachbauern Scheune wurde von den Fluten unterspült und begann zu kreisen, sich zu drehen und fuhr langsam in der Strömung ab. Als wenn ein Riesenfels ins Schwimmen käme. Bauer und Bäuerin standen durchnässt an den Fenstern und sahen entsetzt diesem furchtbaren Schauspiel zu, das wie hinter Wolken geschah, so dicht stürzte der Wasserbruch nieder. In dem Wagen schrie das Jüngelchen. Und niemand hatte acht, wie der Kinderwagen ins Treiben kam, zur Tür hinfuhr, und als die Bäuerin sich umsah, schwamm der kleine Wagen gerade im Hofe und trieb hinter der Scheune her. Ein greller Schrei! Die Bäuerin stürzte nach, warf sich in die Fluten. Ein Knecht zog sie mit Mühe heraus und schleppte sie aufs Dach. Der Bachbauer stierte wie verzweifelt und tat wilde Schritte, stürzte, richtete sich wieder auf, wollte in den reißenden Fluten hinwaten und tat in der halben Minute kaum einen Schritt vorwärts. Da schüttelte ihn eine entsetzliche Angst, gegen die es kein Wehren gab. Mägde und Knechte waren machtlos. Sie schrien. Mit gellender Stimme verzweifelte der Bachbauer: „Bella, Bella, das Jüngelchen!“

Und der Hund raste an der Hütte, zerrte an der Kette, biss ins Holz, tobte wie ungebärdig. Mit seinen scharfen Zähnen zernagte er das Holz, und die Kette an sich trieb er in den Fluten vor, riss sich wie absichtlich in die Strömung hinein und erreichte den schwimmenden Wagen an den breiten Weiden. Er biss sich fest im Gitterwerk und kämpfte sich seitlich mit wilder Kraft. Die Bewohner des Bachbauernhofes starrten. Der Bauer war weiß wie der Tod. Die Kleider waren ihm vom Stürzen nass bis zum Halse hinauf; die Haare klebten über der Stirn. Die Augen brannten in Angst. Der Hund trieb mit letzter Kraft der breiten Weide zu. Festgebissen im Gitterwerk lenkte er den Wagen, darin das schreiende Jüngelchen lag, dem Baume näher und näher. Schließlich ruckte die Last. Die Weide hatte mit den tiefen Zweigen und dem schweren Stamm den Wagen in sich aufgenommen und beschützte ihn gegen die treibende Flut. Bella hing am Gitterwerk, und ihr Kopf sank tiefer und tiefer. Alle sahen dem Schauspiel zu. Ein Hindurchkommen schien unmöglich. Endlich, als der alte Wecker klingend viermal schlug, ließ der Regen nach, und die Wasser wälzten ich in minderer Wucht. Die Flut fiel von Minute zu Minute. Um Viertelfünf watete der Bachbauer als erster zur Weide hinüber. Er musste schwer ankämpfen, er stürzte vielmal, aber die Angst um sein Jüngelchen gab ihm zehnfache Kraft. Er stand an der Weide und schrie hellauf. Das war darum, weil der Schrecken und die Angst eine Stunde lang so schwer in ihm gesessen hatten. Der Erste Knecht drang zu ihm hin, und vereint - der Bauer hielt den Wagen, der Knecht den Hund - kämpften sie sich zurück. Der Hundertmeterweg dauerte bald eine halbe Stunde. Nach fünf Uhr fiel die Flut schnell. Im Bachbauerngehöft, in der breiten Stube saß Baumgarten neben der Bella. Er massierte den Hund, er gab ihm Kognat zu trinken, er streichelte das nasse, leblose Tier wieder und wieder. Dann bewegte er die Läufe regelmäßig, atmete ihm in den Mund. Er stellte ich schier verzweifelt an. Aber die Bella war tot. Die letzte Kraft des Tieres hatte ausgereicht, um den treibenden Wagen der rettenden Weide zuzubringen. Dann war er ins Gitterwerk festgebissen ertrunken.
Baumgarten richtete sich auf. „Geht und seht, was draußen zu retten ist, nehmt das Vieh von den Treppen, seht nach, bis wohin die Scheune geschwommen ist und richtet den Hof ein. Hier ist nichts mehr zu schaffen.“ Das Gesinde erhob sich und ging in den durchnässten und furchtbar verwüsteten Hof hinaus. Der Bachbauer aber saß neben der toten Bella. Die Tränen rollten ihm über die Wangen, unaufhaltsam. Seine grobe Hand strich zitternd über das nasse Tier, spielte wie im Traume mit den langen Behängen, bog in letzter Hoffnung den Fang auseinander und goss wieder Kognak hinein.

„Nu, Bella, Bella . . .“ Man hätte nie meinen sollen, dass der Baumgarten so bitten kann. Aber der treue Stichelhaar war tot.

Die Bella wurde ausgestopft in der Stellung eines sitzenden Hundes. Und als das Unwetter lange vorüber war, als der angerichtete Schaden soweit möglich schon wieder beseitigt war, saß der Bachbauer still am Tisch, die Bäuerin sorgte sich um das Jüngelchen. Und leise erklang des Bauern Stimme: „Gib mir die Bella her . . .“

Scheu sah die Bäuerin auf ihren so gar unverhofft ruhigen Mann. Sie trug ihm den ausgestopften Hund zu, setzte ihn neben den Bauern. Baumgarten nahm dann das Kreisblatt und las, während seine Hand immer wieder und immer wieder über den Kopf des Hundes glitt, immer wieder und immer wieder gutmachen wollte. Das Gasthaus sieht den Bauern nicht mehr, denn wessen Haar in einer Stunde von tiefem Braun zu silbernem Grau hinübergewechselt ist, der hat das Leben von einer gar schrecklichen Seite kennengelernt. Und die Bella sitzt zu Füßen des Lesenden, und dessen Mund murmelt leise und freundlich: „Nu, Bella . . .“

Landschaft, Der sagenumwobene Hohentwiel im Herbstgold

Landschaft, Der sagenumwobene Hohentwiel im Herbstgold