Heimziehende Schwalben auf hoher See

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1895
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Schwalben, Zugvögel, Habicht, Heimreise,
Wenn der Herbst zur Winterreise mahnt, sammeln sich überall die Schwalben zu großen Schwärmen, und eines Abends, bald nach Sonnenuntergang, erhebt sich dann ein jedes Heer auf ein Zeichen, das einige Alte geben, und zieht davon. Dieser Wegzug findet Ende September oder im Anfang des Oktobers statt. Die Schwalben überwintern im Süden, bis tief in Afrika und Asien hinein, und kehren dann, gewöhnlich in der ersten Hälfte des April, wieder als freudig begrüßte Lenzboten zu uns zurück, abermals zu großen Schwärmen vereinigt. Es ist bekannt, dass man nie einen Flug ziehender Schwalben sieht, es sei denn auf dem Meere. Ein solch' seltenes Abenteuer, wie es der Zeichner unseres Bildes auf S. 12 gehabt und durch seinen Stift festgehalten hat, dürfte nur sehr Wenigen vergönnt sein.

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Er befand sich an Bord des großen russischen Dampfers „Fürst Gagarin“, der noch eine zweitägige Fahrt vor sich hatte, um sein Ziel Odessa zu erreichen. Bis dahin war die Reise glatt verlaufen, allein das Schwarze Meer, das bei den Seefahrern im Rufe eines heimtückischen Gewässers steht, rechtfertigte auch bei dieser Gelegenheit seinen Ruf. Am Morgen umwölkte sich der Himmel, der Dampfer begann stark zu „stampfen“, ein gewaltiger Sturm brach los, und riesige Sturzwellen überfluteten fortwährend das Deck. Nicht weniger als dreißig größere und kleinere Schiffe fielen an jenem Tage im Schwarzen Meere dem Unwetter zum Opfer. Am nächsten Morgen dagegen war die See wieder ruhig. Es war am Nachmittage dieses Tages, als die Passagiere des Dampfers am Horizont etwas wie eine dunkle Wolke erblickten, die zickzackförmig mit großer Schnelligkeit heranzog und sich endlich als eine zwitschernde Masse über das ganze Verdeck ergoss, wie es das Bild unseres Zeichners so naturwahr veranschaulicht. Es waren heimziehende Schwalben, die den Dampfer von ferne erblickt hatten und dann darauf losgeflogen waren, um auf ihm auszuruhen. Der Sturm war gewiss sehr vielen von ihnen verhängnisvoll geworden; die Tierchen waren völlig erschöpft und fielen nur so auf das Deck hin, so dass man kaum einen Schritt machen konnte, ohne sie zu zertreten. Sie waren so matt, dass sie sich ohne Weiteres mit den Händen greifen ließen; dabei ertönte ein fortwährendes lebhaftes Gezwitscher des gewiss ein paar hunderttausend Vögel zählenden Heeres. Die Tiere hatten aber nicht allein durch das Unwetter gelitten, sondern auch einige Dutzend Habichte waren ihrem Zuge gefolgt und hatten sie durch ihre räuberischen Angriffe in Schrecken versetzt. Auch einige Störche, sowie verschiedene kleine Singvögel befanden sich unter der Masse, die sich namentlich nach den vor dem Winde geschützten Stellen des Dampfers drängte, wo die Schwalben zu drei oder vier Schichten aufeinanderlagen. Auf den Treppen sah man sie sogar von einer Stufe zur anderen bis zu acht und neun Reihen übereinander hocken. Wurde unten eine Schwalbe müde, so schlüpfte sie heraus und setzte sich wieder oben auf, was natürlich jedesmal eine allgemeine Erregung zur Folge hatte. Selbst in die Kajüten waren sie zu Tausenden eingedrungen, und noch zu später Nachtstunde war das hin und her flatternde Heer nicht zur Ruhe gekommen. Teils fehlte es an Bord für solche Massen an Platz, teils scheuchten die Habichte die Tiere hin und her, und die Menge von Federn und anderen Überresten, die am nächsten Morgen das ganze Deck bedeckten, tat genugsam dar, was für ein reichliches Mahl die Räuber hier gehalten hatten. Von den übrigen Schwalben aber war keine Spur mehr zu erblicken — alle, hatten mit dem ersten Morgengrauen ihre Heimreise fortgesetzt.

Heimziehende Schwalben auf hoher See

Heimziehende Schwalben auf hoher See