Geschichte, Gestalt und Stadtbild

Auch für Hamburg, die am spätesten entwickelte unter den drei übrig gebliebenen Hansestädten, gilt die Erfahrung, dass sich aus dem Stadtplan Charakter und Gang der Entwickelung ablesen lässt.

Aus seiner heutigen Gestalt allein ist die Geschichte der Stadt allerdings nicht deutbar. Denn es gibt keine deutsche Stadt, vielleicht überhaupt keine, deren Straßennetz und deren Wasseradern im Laufe der letzten Jahrhunderte so ungeheure Veränderungen erfahren hätten.


Wie Lübeck und Bremen, war Hamburg ursprünglich ein Bischofssitz gewesen, in welchem die Bürgerschaft sehr früh die Macht des weltgeistlichen Fürsten bei Seite gedrängt hatte.

Während aber im Stadtplan der beiden Schwesterstädte die Spur der Bischofsperiode noch deutlich erkennbar geblieben ist, in Bremen mit Dom und Domplatz, in Lübeck mit der stillen bischöflichen Dominsel, die von den Wogen des bürgerlichen Lebens noch heute nur von fern umspült wird, ist der ehrwürdige Dom in Hamburg dem Erdboden gleich gemacht, und nur die Domstraße erinnert durch ihren Namen an die Bedeutung der Stätte, aus der ein kühner Traum einmal das Zentrum eines nordischen Rom hatte schaffen wollen.

Und während in Lübeck und Bremen Rathaus, Rathausmarkt und Bürgerkirche ihre ursprünglichen Plätze innehaben, wird die Regierung von Hamburg im eben vollendeten Rathause an der vierten, wahrscheinlich sogar an der fünften Stelle tagen. Wo sich das erste erhob, weiß niemand zu sagen; auch die Stätte des zweiten ist streitig; das dritte wurde vom Brand verwüstet, das vierte soll in diesem Jahre aufgegeben werden. Nur die alte Bürgerkirche von St. Peter ragt wie einst auf dem höchsten Punkt der ältesten Stadt empor, aber als Neubau unseres Jahrhunderts. Von den mittelalterlichen Kirchen stehen nur noch zwei, alle Kapellen und Klöster sind verschwunden.

Unübersehbar sind die Veränderungen der großen und kleinen Wasserläufe. Die Alster wurde zu einem Landsee aufgestaut, der jetzt mitten in der Stadt liegt. Zweimal wurde dann durch quer hindurchgelegte Dämme die ursprüngliche Einheit dieser weiten Wasserfläche geteilt.

Zuerst durch den Jungfernstieg, der ursprünglich auf beiden Seiten von Wasser begrenzt war und als schmaler Damm Gänsemarkt und Bergstraße verband. Durch Befestigungen, an deren Vorhandensein die Straßennamen Alter Wall und Neuer Wall erinnern, wurde das innere Bassin, das ursprünglich sehr große Dimensionen hatte, zum großen Teil zugeschüttet. Bei der Regulierung nach dem Brande von 1842 schrumpfte der noch vorhandene ansehnliche Rest zu dem Bassin der kleinen Alster zusammen.

Ein weiteres Stück wurde von der großen Alsterfläche durch die querdurch gelegten Befestigungen des dreißigjährigen Krieges abgeschnitten. Das ist die heutige Binnenalster.

Auch in der inneren Stadt hat die Verteilung von Land und Wasser sich seit Menschengedenken wesentlich verändert. Flussschiffe ankerten, wo jetzt die weite Fläche des Rathausmarktes sich dehnt; wo die Sitzungssäle des Senats und der Bürgerschaft liegen, flossen Fleete. Die zahllosen Kanäle, die als Abflüsse der Alster die Stadt durchziehen, hat mit zwei oder drei Ausnahmen die Hand des Menschen gegraben. Ebenso ist der Lauf des anderen Nebenflusses der Elbe, der durch Hamburg fließt, der Bille, zu Wasserflächen aufgestaut und in ein Netz von Kanälen verwandelt. Eine Industriestadt hat sich dort gebildet, wo noch vor einer Generation an stillem Gewässer die Sommersitze aus dem achtzehnten Jahrhundert lagen.

Wie die Becken und Kanalsysteme der Alster und Bille künstliche Gewässer sind, so ist auch der Arm des Elbstroms, der die Häfen bildet, von den Hamburgern durch kunstreiche Wasserbauten an die Stadt herangeholt worden. Bis ins Mittelalter lassen sich die Kämpfe des Ingenieurs, denen diplomatische und kriegerische Aktionen mit den Nachbarstaaten parallel gingen, zurückverfolgen.

Im heutigen Hafengebiet sind die Umänderungen gewaltig und unübersehbar. Wo in meiner Jugend die stolzen Barockpaläste der Patrizier und die malerischen Wohnhäuser der Arbeiter sich erhoben, strömt heute die Flut durch breite Kanäle; elektrische Bahnen schießen dahin, wo damals noch Schiffe unter Bäumen am Quai lagen; Rinderherden grasten, wo jetzt in den seeartigen Becken der neuen Hafenanlagen die Handelsflotten liegen, und es kommt mehr als einmal vor, dass sich seit einem Menschenalter an derselben Stelle die dritte Brücke über den Kanal spannt.

Mehr noch: der Elbstrom, über dessen unzulängliche Tiefe in früheren Jahrhunderten die Besitzer der Segelschiffe geringen Tiefgangs wiederholt Klage führten, trägt infolge ungeheurer Regulierungsarbeiten heute die schwimmenden Städte der größten transozeanischen Dampfer bis in die neuen Häfen, eine Aufgabe, an deren Lösung unter den schwierigsten Bedingungen Jahrhunderte gearbeitet haben, und weitere Arbeiten sind im Gange, die auf eine Vertiefung der Fahrrinne hinzielen und sie gegen die wechselvollen Einflüsse von Flut, Strom und Ostwind sichern sollen.

So ist der ursprüngliche Zustand des Erdbodens und der Wasserläufe, so ist das Bild der historischen Entwickelung des Stadtbildes verwischt. Es lässt sich nicht sagen, ob in Hamburg das Wasser oder das Land sich als das weniger stabile Element erwiesen hat.

Die alte Stadt innerhalb der Festungswälle des siebzehnten Jahrhunderts wurde in drei Etappen gebildet Auf dem Hügel an der Alster, der den Übergang der alten Heerstraße von Lauenburg nach Holstein beherrscht, lag, weit vom Elbstrom entfernt, die älteste Stadt. Petrikirche und Johanneum bilden noch heute etwas wie eine Akropolis. Im Alsterdelta zu ihren Füßen entstand selbständig im dreizehnten Jahrhundert die Neustadt mit eigenem Recht und eigener Verwaltung. Nach der Vereinigung der beiden Städte erhob sich das gemeinsame Rathaus vor der Brücke, die sie verband — eine Anlage, die auch anderswo vorkommt, wenn zwei Stadtkerne verschmelzen. Die Befestigungen des dreißigjährigen Krieges zogen den riesigen Komplex der Gärten vor dem Tore in das Weichbild, und noch im siebzehnten Jahrhundert wurden die Feldwege darin zu Straßen. Das ist der Ursprung des Gängeviertels mit seinen schmalen Gassen und seinen großen Gärten im Kern der unregelmäßigen Baublöcke.

Aus der Urzeit ist nur ein Straßenzug in seinem alten Verlauf erhalten, die große Heerstraße, die schon in vorgeschichtlicher Zeit über die Furt der Alster führte. Man sieht ihren Krümmungen heute noch an, wie sie einst sich der Gestalt des Terrains anschmiegte.

Die Natur des Bodens und die Bedürfnisse des Handels bestimmten schon im Mittelalter den Typus der städtischen Bebauung. Es wurden nicht, wie in den holländischen Städten, Kanäle von Straßen eingefasst — das Grachtensystem —, sondern es erhoben sich an den Ufern der „Fleete“ die langen Reihen der Speicher, deren Grundmauern tief unter das Wasser hinabreichen.

Man wird in diesen Fleeten an Venedig erinnert. Aber es sind nicht die Paläste und Wohnhäuser, die ihre zierliche oder großartige Architektur im Wasser spiegeln, sondern die schlichten Nutzbauten der Speicher, deren einziger Reiz in den roten Ziegeldächern und den weißgestrichenen Fensterrahmen im roten Mauerwerk besteht.

Wer vom Fleet durch den Speicher geht, gelangt nicht gleich auf die Straße, sondern auf einen schmalen Hof und erreicht sie von dort erst durch das Wohnhaus. Dieser Komplex von Wohnhaus und Speicher, die durch einen schmalen Flügel an der einen Seite des dazwischenliegenden Hofes verbunden sind und von der Fahrstraße und dem Kanal begrenzt werden, bildet die typische Anlage eines alten Hamburgischen Kaufmannshauses.

Erst im siebzehnten Jahrhundert hat das holländische Vorbild der Grachtenanlage zu wirken begonnen, aber der Holländische Brook war fast das einzige Gebilde dieser Art.

Bei den großartigen Speicheranlagen im neuen Freihafengebiet ist man zu dem praktischeren einheimischen Typus zurückgekehrt, nur, dass jetzt bei dem Speicher das Wohnhaus fehlt.

Drei große Ereignisse haben seit fünfzig Jahren das Bild der alten Stadt vollständig umgestaltet: der große Brand von 1842, der Zollanschluss und die neuen Hafenanlagen, die das Seeschiff, den Flusskahn und die Eisenbahn am Quai zusammenführen.

Der Brand vernichtete den Kern der Stadt. Beim Wiederaufbau wurde mit großem Raumgefühl ein neues Stadtzentrum gebildet um die durch ein Wunder erhaltene Börse, das neue Rathaus und die mit monumentalen Quais, wundervollen Wassertreppen — den schönsten, die ich kenne — und zierlichen Arkaden ausgestattete Kleine Alster.

Rathaus und Börse, durch Zwischenbauten verbunden, bilden jetzt einen einzigen Baukomplex, das Herz der Stadt. Diese Vereinigung des Rathauses, das in Hamburg wesentlich nur den Sitz des Senats und der Bürgerschaft bildet, also des Regierungspalastes mit der Börse ist vielfach aufgefallen, auch wohl als unwürdig bemängelt worden, war aber Ausdruck tatsächlicher Verhältnisse. Die Hamburgische Verfassung rechnet für die Verwaltung des Gemeinwesens mit der freiwilligen Teilnahme des Kaufmannes. Männer, die an der Börse jeden Mittag zusammenkommen, um ihre Geschäfte zu verhandeln, gehören als Mitglieder der Bürgerschaft den sogenannten Deputationen an, die als Ministerien Finanz, Bauwesen, Unterrichtswesen u. s. w. verwalten. Sollen sie dauernd in der Lage sein, den Sitzungen beizuwohnen, gebietet sich die möglichste Konzentration von Börse und Regierungspalast von selbst. Im Inlande darf man bei der Beurteilung dieses eigenartigen Baukörpers nicht vergessen, welche hohe und angesehene Stellung die Hamburger Börse seit Jahrhunderten im Gemeinwesen einnimmt.

Auch äußerlich zwingt sich die Bedeutung dieses jüngsten Stadtkerns, dessen eine Hälfte vor fünfzig Jahren eine Wasserfläche war, unmittelbar der Anschauung auf. Nahezu sämtliche elektrischen Straßenbahnen führen über den Rathausmarkt, eine Anlage, die keine andere Großstadt kennt.

Für den Freihafen wurde der vornehmste und malerischste Teil der alten Stadt niedergelegt, der bis vor dreißig Jahren im Winter von der Aristokratie bewohnt wurde. Was für Veränderungen die ebenfalls im Freihafengebiet liegenden Quais und Bassins der neuen Hafenanlagen mit sich gebracht haben, lässt sich am besten aus dem Vergleich der Pläne von 1860 und 1896 ermessen.

Aus dieser Übersicht ergibt sich, dass bei der Anlage der Stadt Jahrhunderte hindurch ausschließlich die Forderungen des praktischen Lebens maßgebend gewesen sind.

Nirgend hat das künstlerische oder das repräsentative Bedürfnis des Fürsten einen öffentlichen Platz gestaltet, eine Perspektive durchgesetzt, einen Straßenzug bestimmt. Und der Senat hat von je her vermieden, durch äußere Repräsentation zu glänzen.

Das Leben der Gesellschaft hat nur wenig Spuren im Stadtbilde hinterlassen, am ehesten noch in der Großen Allee in der Vorstadt St. Georg, die am Anfang des vergangenen Jahrhunderts eine Art Korso war, und deren großräumige Anlage heute wie ein Rätsel erscheint.

Nach künstlerischen Erwägungen hat erst unser Jahrhundert öffentliche Anlagen geschaffen. Zuerst in der langen Reihe von — später mannigfach dezimierten — Parks, die auf den niedergelegten Festungswällen angelegt wurden, dann beim Aufbau des Stadtkerns nach dem großen Feuer von 1842 und zuletzt bei der Umgestaltung der Ufer der Außenalster und bei den Entwürfen für den neuen Bebauungsplan.

Bei den Wallanlagen und der Umgestaltung der Alsterufer herrschte unumschränkt der sogenannte englische Gartenstil, außerhalb dessen wir uns eine große Gartenanlage selbst mitten in der Stadt kaum vorstellen können. Bei den Anlagen an der äußeren Alster zeigt sich in den Ausstattungsstücken an Brücken, Bänken, Wartehäusern überall der Einfluss der hannoverschen Gotik. Monumental gedacht und nicht nur in ihrer Zeit — der Mitte unseres Jahrhunderts — ein Wunder an Vornehmheit der Anlage sind die Quais und Treppen der Binnenalster und der Kleinen Alster.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Hamburg - Niedersachsen