Die Kräftigung der weiblichen Jugend durch Bewegungsspiele

Die Frage, ob in der heutigen Zeit die Knaben oder Mädchen dringender der leiblichen Erstarkung bedürfen, wird übereinstimmend dahin beantwortet, dass, wenn anders ein gesundes und widerstandsfähiges Geschöpf erwachsen solle, die körperlichen Kräfte zwar bei beiden während der gesammten Erziehungszeit durch ausgiebige und fortschreitende Leibesübungen nachdrücklich gepflegt und entwickelt werden müssten dass das dringendere Bedürfnis aber bei der weiblichen Jugend vorliege. Während die Knaben auf Höfen, Straßen und Plätzen sich ungehindert und lustig herumtummeln können und hiermit manche Nachteile des Sitzzwanges der Schulzeit wieder ausgleichen, auch ihre Wirbelsäulen und Gliedmaßen wieder in die natürlichen Formen zurückführen; legt den Mädchen die Sitte diesem natürlichen Sichausleben aus Anstandsrücksichten mancherlei Schranken auf. Ihre vorwiegende Beschäftigung im Hause, Handarbeiten und Musikstunden verschlimmern weiter die Nachteile des langen sitzenden Zubringens im Schulraume. So zeigen sich bei den Mädchen, wie die Untersuchung zahlreicher Ärzte ergeben hat, in ausgedehntem Maße Schiefwuchs, Entwicklungsbleichsucht, Appetitlosigkeit, Schwindel, allgemeine Schwäche und empfindsames, aufgeregtes Wesen. Dr. Schmidt-Rom sagt in seinem vortrefflichen Werke „Unser Körper“, dass z. B. die Rückgratsverkrümmung bei den Mädchen etwa 5— 6mal häufiger auftritt, als bei den Knaben.

Diese eigenartigen Verhältnisse haben es mit sich geführt, dass die weibliche Jugend auch wesentlich später die Bewegungsspiele aufgenommen hat, als die die männliche, und noch heute folgt sie dieser nur langsam und zögernd. Eltern und Erzieher verhielten sich Anfangs eben völlig ablehnend gegen das Spielen der Mädchen auf öffentlichen Plätzen, und wollten dies nur in abgeschlossenen Höfen, oder auf umzäunten Plätzen, die von niemanden beobachtet werden konnten, gestatten. Erst als besonders das weit sich verbreitende herrliche Tennisspiel die erwachsenen Mädchen auf den offenen, freien Spielplan hinausführte und alle Welt herzliche Freude an den frischen, munteren, Kraft und Anmut zeigenden Bewegungen nahm, legte sich allmählich auch die Scheu der Eltern und Erzieher, die Schulmädchen öffentlich spielen zu lassen. Und wer heute das fröhliche Spiel derselben beobachtet, kann es kaum verstehen, wie ihnen noch vor wenigen Jahren der Segen dieser erfrischenden Bewegung und kindlichen Freude vorenthalten werden konnte. Sind jugendliche Bewegungslust und starkes Bewegungsbedürfnis bei den Mädchen doch gleichmäßig lebendig wie bei den Knaben.


Unter diesen Umständen ist das Mädchenwesen auch in seiner inneren Entwickelung seither zurückgeblieben: Eine strenge Sichtung der erprobten und brauchbaren Bewegungsspiele von den minderwertigen; eine methodische Darstellung der Spiele von den einfachen zu den schwierigeren Formen, und, was für die Freude an den Spielen so besonders wichtig ist, die hieraus sich ergebenden Winke und Ratschläge für die Ausführung der Spiele — alles das war, so dankenswert auch die bis dahin erschienenen Anweisungen waren, doch bislang noch nicht hinreichend und gründlich erforscht worden. Diese sich schon lange bei der Förderung der Mädchenspiele fühlbar machenden Lücke ist von dem Zentral-Ausschuss für Volks- und Jugendspiele in Deutschland ausgefüllt worden, indem er jetzt ein „Handbuch der Bewegungsspiele für Mädchen“ (R. Voigtländers Verlag, Leipzig 1901. Mit 64 Abbildungen. 173 Seiten) hat erscheinen lassen. Der Verfasser, Herr Turninspektor A. Hermann in Braunschweig, ist seit der Begründung des Zentral-Ausschusses Vorstandsmitglied desselben und hat in dieser Stellung ganz besonders die Bewegungsspiele der Mädchen gefördert. Seit vier Jahrzehnten leitet er das Turnen und die Spiele der weiblichen Jugend in seiner Heimatstadt und seit zwei Jahrzehnten ist ihm die bezügliche Ausbildung der Lehrer und Lehrerinnen von der Regierung übertragen worden. So steht gerade ihm eine überaus reiche Erfahrung auf diesem Gebiete zur Verfügung, die er hier durch treffende, klare und gedrängte Darstellung verwerten konnte. Was diese Schrift aber besonders aus zeichnet, das ist jener Hauch edler Begeisterung, die aus ihr spricht; und diese Stimmung sucht der Herr Verfasser, und zwar mit bestem Erfolg, sowohl im Lehrer wie unter den Spielenden selbst zu wecken und wach zuhalten. Der Zentral-Ausschuss erachtet das in seiner Darstellung ausgereifte Werk, das er allen Freunden der Spielbewegung bestens empfiehlt, als ein hochbedeutsames und knüpft an sein Erscheinen die Hoffnung, dass die Jugendspielbewegung nun auch dort kräftiger einsetzen und erblühen werde, wo sie am dringendsten nottut — beider heranwachsenden weiblichen Jugend. von Schenckendorff.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Gesundheit 26. Jahrgang 1901