Abschnitt 1

Drittes Kapitel
Nachtrag
Über den Gegensatz der Ermattungs- und Niederwerfungsstrategie.


Indem ich die Korrektur des Vorstehenden lese, geht mir der Aufsatz „Friedrich der Große nach dem Siebenjährigen Kriege und das Politische Testament“ von 1768 von OTTO HINTZE (Forschungen zur Brandenbr.-Pr. Geschichte, Band 32) zu, der mir zeigt, daß trotz Heft 27 der Einzelschriften des Generalstabes die Zeit des Mißverständnisses in der Frage der friderizianischen Strategie immer noch nicht abgeschlossen ist. Ich will den Passus des Hintzeschen Aufsatzes wörtlich hierher setzen, um mit möglichster Deutlichkeit und Vollständigkeit noch einmal die Punkte aufzuzeigen, wo die Abirrung einsetzt oder zutage tritt. Das „Politische Testament“ selbst wird in Bälde als Ergänzungsschrift zur „Politischen Korrespondenz“ des Königs veröffentlicht werden; Herr Prof. Hintze hatte die Freundlichkeit, mir die Korrekturbogen zur Verfügung zu stellen, so daß ich den Wortlaut der betr. Stelle hier einfügen kann. Hintzes eigene Darlegung lautet:


„Der König hat nur einen Verteidigungskrieg gegen Österreich und seine etwaigen Bundesgenosen im Auge; aber er ist der Meinung, daß man diesen Krieg nicht in strategischer Defensive beginnen, sondern gleich eine wirksame Offensive ins Werk setzen muß, deren Ziel die feindliche Hauptstadt ist. Es ist seine alte strategische Normalidee, die schon A. Raudé ganz richtig an den Verhandlungen über den Feldzugsplan von 1757 erläutert hatte: man muß mit dem Hauptheer in Mähren eindringen und gleich der March entlang Streifpartien bis in die Nähe von Wien senden. Das ist der empfindlichste Punkt für die Österreicher; durch Bedrohung von Wien können sie am ersten zum Frieden gezwungen werden. Natürlich muß zugleich auch in Böhmen vorgegangen werden; alles Weitere muß von den Umständen abhängig gemacht werden. Diese Idee hatte ja der König schon 1757 gehabt; er hatte sie dann unter dem Einfluß der Ratschläge von Schwerin und Winterfeld durch den konzentrischen Einmarsch in Böhmen mit dem Ziel einer Entscheidungsschlacht bei Prag ersetzt. 1758 war er dann doch wieder darauf zurückgekommen; aber der hartnäckige Widerstand von Olmütz und die Wegnahme eines großen Transports durch die Österreicher hatten damals den Plan vereitelt. Die Idee saß aber fest im Kopfe des Königs und hier tritt sie wieder hervor, als strategischer Normalplan, der dem Nachfolger empfohlen wird. Friedrich selbst hat im bayerischen Erbfolgekrieg 1778 danach zu handeln versucht; aber die Schwierigkeiten, die der in Böhmen kommandierende Prinz Heinrich machte, der das Hauptheer zur Deckung seiner Flanke in der Nähe zu haben wünscht, haben auch damals die Ausführung verhindert.“

„Auch Rußland gegenüber gedachte Friedrich unter Umständen nicht in der strategischen Defensive zu bleiben, wobei aber wohl eine Unterstützung nicht nur durch Österreich, sondern auch durch England vorausgesetzt wird. Er denkt dabei an einen Marsch auf Petersburg, an der Küste des baltischen Meeres entlang; die Verpflegung der vorrückenden Armee soll dabei durch eine an der Küste den Vormarsch begleitende Flotte sicher gestellt werden. Woher diese Flotte kommen soll, ist nicht angedeutet; es ist wohl an die Unterstützung durch eine verbündete Seemacht zu denken; denn in dem Politischen Testament von 1768 hat sich Friedrich noch entschiedener als 1752 gegen die Begründung einer preußischen Kriegsflotte ausgesprochen.“

„Man sieht, die Kühnheit und Großzügigkeit der strategischen Entwürfe hat sich nach dem Kriege nicht vermindert, sondern eher noch erhöht. In dem Kapitel über die Fundamentalprinzipien des Krieges gibt der König den großen Entwürfen der Niederwerfungsstrategie durchaus den Vorzug vor den kleinen Plänen der Ermattungsstrategie. Die Art, wie er hier die Generalidee des Feldzuges von 1757 auseinandersetzt, zeigt einen großen, fast modern anmutenden Zug und ist bei dem Streit um die strategischen Grundsätze des Königs nicht immer genügend berücksichtigt worden. Man kann hier nicht die gewöhnliche kritische Methode anwenden, wonach spätere memoirenartig zurückblickende Ausführungen weniger Gewicht haben als die gleichzeitigen, das Handeln selbst begleitenden Zeugnisse, die in den einzelnen Weisungen, in oft nur bruchstückartig erhaltenen Verhandlungen u. dergl. vorhanden sind. Diese einzelnen Weisungen und Befehle erhalten ihren richtigen Zusammenhang und Hintergrund erst durch diese später verlautbarten Generalideen. Die Ausführung bleibt meist hin ter dem Entwurf zurück. Es kommt hier darauf an, ob die Zeit und der Mann überhaupt einer Konzeption im Stil der Niederwerfungsstrategie fähig war, und das muß man bei Friedrich durchaus bejahen. Allerdings waren seine Kriegsmittel und die allgemeinen Umstände, die die Kriegsführung bedingen, wie z.B. Anbau der Länder, Zustand der Straßen, Verpflegungsmöglichkeiten, damals zu beschaffen, daß sie der Ausführung solcher Entwürfe größere Schwierigkeiten entgegengesetzten als zurzeit Napoleons oder Moltkes. Das hat Friedrich zur Genüge erfahren, und darum hat seine Kriegführung das Schwankende behalten, das sie auf der anderen Seite doch wieder der alten methodischen Manövrierstrategie nähert. Die Magazinverpflegung vor allem bleibt ihm die Grundlage aller Operationen, und er sieht auch voraus, daß man den Österreichern gegenüber in Zukunft sich auf einen bloßen Stellungskrieg (guerre de postes) gefaßt machen müsse. Der Feldzug von 1778 hat diese Voraussage bestätigt“.

Daß die Kühnheit und Großzügigkeit der strategischen Entwürfe des Königs nach dem Siebenjährigen Kriege nicht vermindert erscheint, wird man unterscheiden dürfen; daß sie eher noch erhöht sei, soll wohl in der Idee eines Marsches auf Petersburg begründet sein, und das scheint ja in der Tat über Alles hinauszugehn, was der König früher je ins Auge gefaßt hat. Selbst Wien hat Friedrich ja nie ernstlich bedroht, Petersburg ist aber noch ein ganz anderes Stück. Die Erklärung ist zu finden in den „Betrachtungen über das militärische Talent Karls XII“. Hier legt Friedrich ausführlich dar, wie der Schwedenkönig dadurch gefehlt habe, daß er, statt auf Petersburg auf Smolensk, Richtung Moskau, vorgegangen sei. Damit habe er seine Verbindungen und die Möglichkeit, sein Heer zu verpflegen und auszurüsten, wie wir heute sagen, seine Basis aufgegeben. Indem Friedrich für sich selbst einen Krieg gegen Rußland im Bunde mit Österreich und einer Seemacht voraussetzte, bewegte er sich also nur in älteren Gedankenzügen, als er einen Marsch auf Petersburg ins Auge faßte. Indem ihn die Flotte auf diesem Marsch begleitete, nahm er seine Basis so zu sagen, mit sich. Einen anderen Weg, die Russen zu besiegen oder zum Frieden zu nötigen, gab es nicht. Wenn die Phantasie einmal einen Krieg einer großen Koalition gegen Rußland zu gestalten unternahm, so mußte ein Friedrich auf Grund seiner strategischen Anschauungen den Marsch in das innere Rußland verwerfen; es blieb also nur das Ziel Petersburg und dies nur unter der Voraussetzung der begleitenden Flotte.

Der Fehler der Hintzeschen Untersuchung liegt in dem Satz „der König gibt den großen Entwürfen der Niederwerfungsstrategie durchaus den Vorzug vor den kleinen Plänen die Ermattungsstrategie“. Diese Zusammenstellung zeigt, daß die beiden Begriffe „Niederwerfungsstrategie“ und „Ermattungsstrategie“ von dem Verfasser nicht richtig aufgefaßt werden. Daß Friedrich großen Entwürfen den Vorzug vor Italien gab, ist bekannt und er hat sein ganzes Leben daran festgehalten. In der Ausführung sagte er sich, schrumpften die Pläne ohnehin zusammen, und wenn einmal ein wirklich großer Plan gelinge, so habe man gewonnen. Sind aber große Entwürfe deshalb schon Niederwerfungsstrategie? Gibt es nicht auch in der Ermattungsstrategie große Entwürfe? Wenn große Entwürfe den Niederwerfungsstrategen macht, so waren auch Gustav Adolf, Marlborough, Eugen Niederwerfungsstrategen; Gustav Adolfs Vormarsch bis nach München, Marlboroughs Marsch von den Niederlanden zur Donau 1704 (Schlacht bei Höchstädt), Eugens Marsch von der Etsch südlich des Po bis Turin (1706) sind so groß angelegt wie irgend etwas, was Friedrich je unternommmen hat. Ist also der große Zug das Entscheidende, dann ist der Unterschied zwischen dieser und jener Methode der Strategie nichts als ein Unterschied zwischen bedeutenden und unbedeutenden Feldherren. Nur derjenige For scher aber hat den Unterschied richtig aufgefaßt, der erkannt hat, daß die Aufgabe der Ermattungsstrategen nicht weniger bedeutend und durch ihre Doppelseitigkeit subjektiv oft noch schwieriger ist, als die der Niederwerfungsstrategen. In der größeren oder kleineren Anlage der Operationen also liegt der Unterschied nicht.

Wir müssen den sachlichen Inhalt der von Hintze herangezogenen „großen Entwürfe“ Friedrichs prüfen, um zu sehen, ob sie in die Kategorie der Niederwerfungsstrategie gehören. Er sagt uns, der König habe in dem Testament empfohlen, eine „Offensive ins Werk zu setzen, deren Ziel die feindliche Hauptstadt sei.“ Das klingt nach Niederwerfung. Gleich in dem folgenden Satz aber wird nur von „Streifpartien bis in die Nähe von Wien“ gesprochen. Es ist klar, daß da von „Niederwerfung“ nicht mehr die Rede sein kann. Ganz abgesehen davon, daß Wien südlich der Donau liegt, daß nicht einmal die Armee, sondern nur Streifpartien bis in die Nähe von Wien kommen sollten, daß also eine wirkliche Bedrohung der Hauptstadt gar nicht einmal in Frage kommt, so ist in Betracht zu ziehen, daß in eben diesem selben „Politischen Testament“ jene oben (S. 360f.) ausführlich wiedergegebenen Betrachtungen niedergelegt sind, in denen der König dringend von Schlachten, nicht nur auf bergigem Gelände, sondern auch in der Ebene abrät. Der König will also suchen bis in die Nähe von Wien vorzurücken, aber nicht schlagen. Wenn so ein Niederwerfungsfeldzug aussieht, so verstehen wir offenbar unter „Niederwerfung“ etwas ganz Verschiedenes. Wenn der Begriff einer „Niederwerfung“, den ich habe, angewendet wird, so hätte Friedrich schreiben müssen: Wir begnügen uns nicht damit, Wien zu bedrohen, sondern gehen über die Donau und erobern es; das österreichische Heer, das die Hauptstadt zu decken sucht, wird angegriffen und geschlagen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Geschichte der Kriegskunst Teil 4