Abschnitt 6

Drittes Kapitel
Napoleonische Strategie.


Der Fehler, an dem Napoleon zugrunde gegangen ist, ist also nicht sowohl, daß er strategisch falsch operiert hat, als daß er den inneren, moralischen Zusammenhalt des französischen Volkes in seinem Kaiserreich überschätzt hat. Wohl hing ein großer Teil des französischen Volkes mit Verehrung und Dankbarkeit an ihm oder war durch seinen Ruhm geblendet und hingerissen; bei einem sehr großen Teil aber waren diese Empfindungen nur schwach oder sogar entgegengesetzt. Man wollte nicht für ihn fechten, und die mit Gewalt Ausgehobenen desertierten. Wohl ist es ihm gelungen, auch 1813 noch eine gewaltige Armee wieder aufzustellen, aber auch diese ist in dem strapaziösen Herbstfeldzug zum sehr erheblichen Teil nicht durch den Feind, sondern durch Desertion zerstört worden. Merkwürdigerweise haben wir keine Nachricht darüber, was eigentlich aus den Deserteuren von 1812 geworden ist. Man muß doch wohl annehmen, daß ein sehr großer Teil nach Deutschland und Frankreich zurückgelangt und 1813 wieder eingestellt worden ist. Da aber jede Aufzeichnung darüber fehlt, so ist nicht zu berechnen, wie groß tatsächlich die Menge der Rekruten gewesen ist, die Frankreich in diesen Jahren dem Kaiser gestellt hat.


Der Feldzug 1814 ist, wie tieferes Eindringen der Forschung gelehrt hat, ganz von politischen Motiven beherrscht, ist aber für eine „Geschichte der Kriegskunst“ dadurch interessant, daß diese politischen Motive sich in das Gewand der Regeln der alten Strategie zu hüllen verstanden. Die eine Partei, unter Führung Metternichs, suchte einen Ausgleich mit Napoleon und wollte, falls dieser nicht zustande kam, die Wiederherstellung der Bourbonen, die andere Partei wollte den Sturz Napoleons, und Kaiser Alexander wollte an dessen Stelle Bernadotte setzen. Um nicht für gegnerische Zwecke zu kämpfen, verweigerten die Österreicher das Vorrücken und kleideten bewußt oder unbewußt diese Zurückhaltung in strategische Erwägungen. Sie beriefen sich darauf, daß Eugen und Marlborough, die doch auch große Feldherrn gewesen seien, niemals auf Paris operiert hätten; der König von Preußen wollte schon die Verfolgung nicht über den Rhein fortsetzen, weil der Rhein ein Abschnitt sei und man sich an einem Abschnitt erst sammeln müsse, und sein General-Adjutant Knesebeck wollte auf dem Plateau von Langres Halt machen, weil dort die Wasserscheide von Frankreich sei und man von diesem Punkte aus also Frankreich beherrsche.

Auch in den Feldzug von 1815 spielt der Gegensatz der beiden Methoden der Strategie noch hinein. Wellington, der gewiß ein sehr bedeutender General war, lebte doch noch in den Vorstellungen der Ermattungsstrategie. Vereinigt waren die verbündeten Heere in Belgien Napoleon um nicht viel weniger als das Doppelte überlegen gewesen (220000 zum Teil allerdings sehr minderwertige Truppen gegen 128000 vorzügliche), dennoch kam der Kaiser dem Siege sehr nahe, weil Wellington, immer auf Deckung bedacht, seine Truppen nicht rechtzeitig zur Schlacht vereinigte, zur Schlacht bei Ligny deshalb zu spät kam und auch noch am 18. während der Schlacht bei Belle-Alliance ein ganzes Korps, 18000 Mann, zwei Meilen seitwärts vom Schlachtfelde stehn ließ. Mit Recht hat man diese Abzweigung verglichen mit dem Verfahren Friedrichs, als er das Korps Keith während der Schlacht bei Prag auf der anderen Seite der Stadt stehn ließ. Was aber in der Epoche der friderizianischen Strategie, wenn auch nicht als geboten, doch als natürlich erschien, war in der Napoleonischen Zeit ein schwerer Fehler. Er wurde wieder ausgeglichen dadurch, daß Gneisenau umgekehrt, allein geleitet von dem Gedanken der Schlachtentscheidung, die direkte Verbindung der bei Ligny geschlagenen Armee mit der Heimat aufgab und den Rückzug auf Mavre, in die Nähe der Engländer dirigierte, so daß die Preußen ihnen am Tage darauf zuziehen konnten. Durch den schließlichen Sieg sind die Fehler Wellingtons so übersonnt worden, daß man sie wenig bemerkt hat. Kriegsgeschichtlich aber sind sie stark zu betonen, nicht weil sie Fehler waren, sondern als Beleg für die Macht und die Schädlichkeit falscher Theorien. Der viertägige Feldzug von 1815 kann betrachtet werden als der Zusammenstoß der beiden entgegengesetzten Methoden der Strategie in der vollendetsten Ausprägung. Wenn Erzherzog Karl Napoleon gegenüber versagte, so erlag ein hoher Kopf und schwächlicher Charakter einem Genie. Daß aber Wellington Napoleons Absichten so gründlich verkannte und ihm zutraute, ihn zurückmanövrieren zu wollen, um Brüssel zu nehmen, und deshalb seine Truppen nicht rechtzeitig zusammenzog, das ist bei einem so bedeutenden Mann und ausgezeichneten Soldaten wie Wellington doch nur zu erklären, wenn man sich vergegenwärtigt, daß er befangen war, nämlich in den Anschauungen der älteren Strategie.

Hätte Wellington nur in Spanien gekämpft, und 1814 seine Karriere abgeschlossen, so würde man gar nichts gegen ihn einwenden können, als daß er auf die höchste Probe nicht gestellt worden sei, und man hätte dann aus seinem Charakter Schlüsse ziehen können, wie er sich voraussichtlich darin bewährt haben würde. Nun ist er aber 1815 auf diese Probe gestellt worden und hat die Frage als Taktiker glänzend, als Strateg aber nicht bestanden. Er hat nur den defensiven Teil der Aufgabe gelöst und die spanischen Methoden angewandt, wo sie nicht mehr paßten. Der schließliche vollständige Erfolg wurde dadurch erreicht, daß die Blücher-Gneisenausche Heerführung die seinige gerade in dem mangelhaften Punkte so glänzend ergänzte.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Geschichte der Kriegskunst Teil 4