Abschnitt. 1 - Ein Franzose würde drei Tage in einer englischen Fabrikstadt leben und dann – sterben, ein Italiener hielte es etwa vierzehn Tage aus und würde sich eine Kugel vor den Kopf schießen, ein polnischer Jude spräche nach drei Wochen: „Es ist genug!“ und hängte sich bei seinem Bart auf, nur ein Deutscher schämt sich nicht, oft länger als ein volles rundes Jahr darin zu verweilen, ohne nur einmal gründlich verrückt zu werden! Eine englische Fabrikstadt sieht von außen aus wie ein großer Maulwurfhügel, von innen sieht sie schmutzig aus. ...

Ein Franzose würde drei Tage in einer englischen Fabrikstadt leben und dann – sterben, ein Italiener hielte es etwa vierzehn Tage aus und würde sich eine Kugel vor den Kopf schießen, ein polnischer Jude spräche nach drei Wochen: „Es ist genug!“ und hängte sich bei seinem Bart auf, nur ein Deutscher schämt sich nicht, oft länger als ein volles rundes Jahr darin zu verweilen, ohne nur einmal gründlich verrückt zu werden! Eine englische Fabrikstadt sieht von außen aus wie ein großer Maulwurfhügel, von innen sieht sie schmutzig aus.

Wir kommen soeben mit der königlichen Post in einer solchen schrecklichen Gegend an. Wir steigen vom Wagen; die Nasen sind rot, die Hände wurden kalt, die Füße frieren. Wo ist ein Wirtshaus? Dort! Es heißt „Die Sonne“! Gut, wir wollen uns an dieser Sonne wärmen und treten ein. In der Tür erblicken wir ein blasses Gesicht, dessen Besitzer ein Kellner ist. Der junge Mann trägt Schuhe, weiße baumwollene Strümpfe, eine helle Krawatte, und die dolchspitzen Zipfel des schwarzen Frackrocks hängen ihm bis auf die dünnen Waden hinunter. Er zeigt uns das Schlafzimmer. Wir steigen hinauf, verwickeln uns einige Male mit den Füßen in dem alten Teppich, der die Treppe bedeckt, wir stolpern und kommen endlich an Ort und Ziel.


Dort suchen wir uns ein höchst angenehmes Äußeres zu geben, streichen den Reif aus den deutschen Locken, waschen unsere Hände in Unschuld und Regenwasser, werfen einen Blick umher, rufen aus: „Freundlich, sehr freundlich! Das Bett ist gut, die Nacht ist schön!“ und steigen wieder in den untern Raum des Hauses hinab. Hier treten wir in ein ziemlich großes Gemach. Auf dem Fußboden Teppiche, von der Decke herunter Kronleuchter. Auf den Tischen bemerkt man Zeitungen und Teetöpfe, auf den Stühlen Engländer. Wir stellen uns einige Augenblicke an den Kamin, um das Ganze überschauen zu können. Wir stehen eine Viertelstunde und fangen an, uns sehr zu langweilen. Niemand spricht ein Wort, wir sehnen uns nach Mitteilung, wir fassen endlich ein Herz, wir nähern uns dem ersten besten und sagen, um nicht gleich von vornherein sehr geistreich zu scheinen: „Nicht wahr, mein Herr, sehr schönes Wetter heute, sehr schönes Wetter gewesen?“ Der Engländer sieht uns an, sieht wieder in seine Teetasse, spricht kein Wort. Auch gut, denken wir, und gehen zu dem zweiten. „Nicht wahr, mein Herr“, sagen wir, „Aufruhr in Frankreich, haben Sie schon gelesen?“ Der Engländer sieht uns an, sieht wieder in seine Teetasse, spricht kein Wort. Wir wandern zu dem dritten, und weil wir gerade in Yorkshire sind, sagen wir: „Lieber Herr, wie befindet sich doch der Landprediger zu Wakefield?“ Der Engländer sieht uns an, sieht wieder in seine Teetasse, spricht kein Wort. Da steigt eine gelinde Wut in uns auf. „Ihr Briten, ihr Geschöpfe Gottes, seht, an einem frühen Morgen zogen wir von der Heimat aus, auf den niederländischen Dampfbooten hat man uns schlechten Wein gegeben, in Rotterdam hat man uns geprellt, auf dem Kanal waren wir seekrank, auf euern Eisenbahnen in England bekamen wir Ohrenbrausen, auf eurer königlichen Post sind uns die Füße erfroren. Hört, ihr Insulaner, wir kommen heute abend in dieser Sonne an, in diesem Gasthaus, wir wollen uns nach all den Mühseligkeiten der Reise pflegen und erquicken, wir suchen, was uns lieber ist als Brot und Wein, wir suchen das Labsal des Wortes – und, ach, ihr habt es uns versagt! Hört, ihr Kinder Alt-Englands, ihr seid entweder stolz oder dumm! Gott weiß es; am Ende seid ihr nur klug genug, um viel Geld zu verdienen! Wir armen, lustigen Deutschen verachten euch! Sela!“

Als wir diesen Monolog halb laut, halb leise am Kamin gesprochen haben, greifen wir in die Rocktasche, ziehen unsere Zigarrendose hervor und bemächtigen uns einer echten Bremer, die wir so glücklich waren, durch die Douanen hindurchzuschleppen; natürlich als rechtschaffene Leute gegen einen enormen Zoll! Wir reißen der „Times“ den Kopf ab, falten das glatte Papier und sind eben damit beschäftigt, die braune Bremerin an der äußersten Spitze anzuzünden, da werden wir durch einen Schrei des Entsetzens unterbrochen. In der Ecke des Zimmers richtet sich der Kellner in baumwollenen Strümpfen empor, sein blasses Antlitz ist noch fahler geworden, er hält die Hände über den Kopf ausgestreckt gleich Moses in der Schlacht gegen die Amalekiter. Jetzt macht er einen Schritt vorwärts, ihm folgt die Wirtin, welche den Schrei ausstieß, der Sohn des Hauses macht den Schluß, und ist sprachlos. Alle drei stürzen auf uns los, den ändern Gästen entfallen die Teelöffel. „Er raucht! Er raucht!“ raunt einer dem andern zu, und bald sind wir von dem erschrockenen Trio umringt. Die Wirtin faltet bittend die Hände, der Kellner erfaßt sanft unsern Arm, der Sohn des Hauses zittert, und ehe wir uns nur besinnen können, sind wir bereits aus dem Gemach entfernt und in ein Rauchzimmer abgeführt. Der Kellner verschließt sorgfältig die Tür. Dort sind wir nun allein mit unserm Grimm und der Zigarre. Wir nähern uns wieder dem Kamin, setzen uns in einen Lehnstuhl, welcher nicht wie gewöhnlich vier Beine hat, sondern wie eine Wiege eingerichtet ist, und schaukeln uns hin und her, unserm Schmerz überlassen!

Nach geraumer Zeit fällt uns ein, daß der Abend noch sehr lang ist; wir wissen bereits, daß es weder Theater, Gesellschaften noch etwas Ähnliches gibt. „Den Uhland aus der Reisetasche zu ziehen“ haben wir auch gerade keine Lust; sind wir doch nach England gekommen, um Volk, Sitte und Sprache kennenzulernen; wir beschließen also eine Promenade. – Die Straßen sind ziemlich gut erleuchtet; bald sind wir in dem belebtesten Stadtteil, und vor uns aufgetürmt liegen all ihre Wunder. Rechts ein Laden mit neuen Stiefeln, links ein Laden mit Beefsteak, rechts ein Laden mit Hosenträgern, links ein Laden mit gerupften Kapaunen und so fort und so weiter, eine Straße nach der andern, Hunderte, Tausende von Häusern voll! Plötzlich stehen wir am Rande eines tiefen Tales. Unser Auge sucht binabzudringen, ein dicker, schwarzgrauer Nebel verdeckt alles; unheimlich schimmern Lichter und hellodernde Feuer darin, und ein wirres Getöse schlägt betäubend an das Ohr. Ganze Reihen von Schornsteinen, welche sich schlank wie Minaretts über die Dächer der Häuser erheben, zeigen an, daß dies der Ort ist, wo das Rasseln der Räder, das Schnurren von Millionen Spindeln sich mit den Seufzern der geplagten Arbeiter mischt, daß hier die Stelle ist, wo jene Masse von Waren erzeugt wird, die der Brite auf seinen Flotten in alle Welt sendet.

Wir entfernen uns von dem lärmenden Grunde und geraten auf einen freien Platz. Es ist heute Markttag gewesen, die Leute aus der Umgegend stehen noch in kleinen Gruppen zusammen und handeln. Der weise Salomo sagt: „Wie ein Nagel in der Wand, also steckt die Sünde zwischen Käufer und Verkäufer!“ Die Welt ist seitdem älter geworden, wohl tausend Jahr und darüber, wer weiß, wie es jetzt aussieht? Ein Engländer hält den Sonntag heilig, vom Morgen an bis nachts um zwölf Uhr; zehn Minuten nachher, wie die Sage geht, soll sich der ganze Mensch aber plötzlich ändern, und die Nationen der Welt wissen davon zu erzählen.

Lassen wir das. Wir wollen uns lieber über die Gesichter der geschäftigen Handelsmänner freuen. Wahrlich, sie sind ziemlich interessant! Die spitzen Nasen, die schlauen Mundwinkel, die kleinen blinzelnden Augen, wie herrlich alles zueinander paßt! Und nun der runde Filzhut, der schäbige Frackrock und hin und wieder die braunen Manchesterjacken, wie lustig sie durcheinanderwogen! Die guten Leute gehören nicht zu den Londoner Matadors; es sind nur die kleinen, geschäftigen Ameisen im Innern des Landes! Noch eine halbe Stunde dauert das Treiben fort, da ist der letzte Handel geschlossen; alles schleicht nach Hause, die Straßen werden leer und öde, Nebel und Rauch brechen in finstern Massen in die Stadt ein, es ist gänzlich Nacht geworden. Der todmüde Arbeiter ißt halb im Schlafe sein Abendbrot, der Fabrikherr kauert am Kamine, den Kopf in eine Zeitung begraben, die Läden werden allmählich geschlossen, der Tag ist aus. Zehn bis zwölf Stunden hat man gearbeitet und in wilder Hast dem Gelderwerb nachgejagt – was Wunder, daß da die Arme schlaff hinunterhangen, daß der Geist müde und tot ist, daß nicht einmal die Kraft mehr da ist, die Stunde der Erholung zu genießen, daß man nur zusammensinken, nur schlafen kann bis zu einem neuen Morgen, der ebenso traurig beginnt, wie der vorhergehende Abend schloß!

Der Schornstein einer Fabrik ist wie ein hochgeschwungener eiserner Arm, der in seinem Bereich die Bevölkerung stufenweise zur schrecklichsten Dumpfheit hinabdrückt. Die jahrelange einförmige Arbeit scheint den Menschen geistig durchaus vernichtet zu haben. Daher auf den Straßen kein Gruß, auf den Feldern, im Walde kein Lied mehr; blaß, mit trüben Augen irren Kinder wie Erwachsene aneinander vorüber, einer scheint den andern kaum zu bemerken; sie sind wie abgestorben, es blieb ihnen nur noch der arbeitgewohnte Leib, den sie so lange für geringen Lohn hingeben, bis auch er zuletzt gebrochen ineinander sinkt.

Doch kommen Sie, wir sind lange genug auf der Erde gewesen, wir wollen wieder in die Sonne steigen! Die Sonnenwirtin, der Sonnenkellner und der Sohn vom Hause haben uns während der Promenade durch die Stadt den Tee bereitet. Auf dem Tische steht schon das Beef, gesottene Eier und geröstetes Brot; wir lassen uns nieder, aber, weiß Gott, es will uns gar nicht schmecken. Ein etwas gutmütiger Mensch schämt sich ordentlich, in einer Fabrikstadt, wo es so viele unglückliche Hungerleider gibt, gut zu Tisch zu sitzen! Wir hatten ganz recht, wenn wir im Anfang dieser Skizze sagten, der Franzose würde schon am dritten Tage in einer englischen Fabrikstadt sterben; er würde es sicher, er fände ja keine Gesellschaft, er könnte ja nicht sprechen! Und der Italiener würde sich erschießen, weil er oft in zwei Monaten keinen blauen Himmel sähe; und der polnische Jude würde sich erhängen – wer weiß, weshalb! Nur den Deutschen, den man überall, auf der ganzen Erde findet, trifft man auch hier jahraus, jahrein an. Der Deutsche stirbt nie aus. Er gewöhnt sich an alles. Seine stille Gemütlichkeit trägt er mit sich über Land und Meer. In den englischen Fabrikstädten findet man außer vielen andern namentlich Hamburger. Zu ihrer Ehre sei es gesagt, sie haben die Heimat doch nicht ganz vergessen! Am Sonntag, wenn die Engländer Gefahr laufen, vor lauter Beten und Bibellesen schwachsinnig zu werden, da sieht man sie nach alter Gewohnheit mit Klang und Gesang auf die Dörfer hinausfahren. Sie halten sich auch die „Augsburger Zeitung“ und die „Kölnische“, und erhebt manchmal ein Junge aus dem Schwarzwald, der mit seiner Orgel über den Kanal herüberstreifte, ein deutsches Lied auf der Gasse, da hört man plötzlich in dem nächsten Hause mit kräftiger Stimme den Refrain singen, und der Landsmann aus dem Schwarzwald geht gewiß nicht ohne Trost vorüber! Doch wir wollen den Städten Lebewohl sagen und in die Yorkshire-Berge steigen, wo der alte Squire wohnt.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Englische Reisen