Abschnitt. 1 - Seit Freiligrath kennt man alle wilden Bestien so genau, daß es eigentlich sehr überflüssig ist, noch einen zoologischen Garten zu besuchen. ...

Seit Freiligrath kennt man alle wilden Bestien so genau, daß es eigentlich sehr überflüssig ist, noch einen zoologischen Garten zu besuchen.

Aus dem „Löwenritt“ wissen wir, wie sich der gnädige Herr König der Tierwelt auf seiner Giraffe lustig macht, aus dem „Mohrenfürst“, wie die Elefanten das Laub durchrauschen, aus dem „Wecker in der Wüste“, wie sich die Mumien in den Pyramiden emporrichten, wenn der Leu seine Bravourarien singt, aus dem Liede „Unter den Palmen“, wie sich Tiger und Leoparden um einen „Blanken“ balgen und so weiter, es ist nichts vergessen. – Ach, als Freiligrath noch der Hofpoet des Königs Löwe war, da ging alles gut; aber jetzt ist er liberal geworden, und wie Heine versichert hat, ist unser Poet sogar nach London ausgewandert, weil „der Mohrenfürst“ keine Konstitution geben wollte – traurig, traurig! – Aber ich glaube nicht, daß es wahr ist.


In dem Londoner Zoologischen Garten erblickt man aber die Bestien des Jahrhunderts in wohlverschlossenen Käfigen. Unruhig laufen die Tiger und Leoparden auf und ab, und in ihren Blicken kann man deutlich lesen, daß sie mit sich selbst zerfallen und mit Gott und aller Welt unzufrieden sind. Den größten Teil des Tages verbringen sie in dumpfem Trauern; es ist so einem eingeschlossenen Tiger zumute wie einem alten Studenten, der auf dem Karzer sitzen muß, während schon alle Genossen hinaus in die Ferien gezogen sind. Trübsinnig lehnt er oft an dem Gitter, das ihn von der schönen Außenwelt trennt, und blickt über die Stadtmauer hinweg auf die sonnige Landstraße, wo die guten Bürger so einträchtiglich mit ihren lieben Familien spazierengehen. Mit gleichgültigen Augen folgt er ihren Schritten. Wenn sie aber ganz in seine Nähe kommen und das helle Gelächter der guten Leute zu ihm hinaufdringt, da knirscht er doch bisweilen unwillig mit den Zähnen, und: „Ihr verdammten Philister!“ raunt er in den Bart; er zieht sich von der Öffnung seines Cachots zurück und wandelt in dem Bewußtsein, daß er doch ein ganz anderer Kerl ist als alle die gewöhnlichen Alltagsmenschen dort unten, stolz und vornehm in seinem Gemache auf und ab.

Neben dem Tiger sitzt in einem zweiten Käfige der hochgeborene Leu. Er ist wie der schöne König Enzio in seinem Kerker zu Bologna – träumerisch griff der edle Hohenstaufe bisweilen in die Saiten der Harfe, und hinab auf die Schultern floß das lange goldene Haar. „0 Leid, daß ich ein König war!“ seufzte er, wenn die Betteljungen singend vorüberzogen – und träumerisch faßt auch der Löwe des zoologischen Gartens zuweilen in die Eisenstäbe seines Käfigs und schüttelt die gelben Mähnen und gedenkt der Tage der Jugend.

Ganz in der Nähe hat man einer wilden Katze vier Fuß Raum zur Erheiterung angewiesen. Das arme Tier war früher eine wilde, ausgelassene Schönheit, vor der manch zärtlicher Kater anbetend niederfiel. Auf nächtlichen Bällen erlebte sie viel des Abenteuerlichen, sie lebte mit den Männern des Jahrhunderts, sie warf mit Bonmots um sich und wandelte lange Zeit: ein sehr heiteres aber fleckenloses Geschöpf. Mit den Katern des Jahrhunderts ist indessen nicht zu spaßen; unser Kätzchen ging zuletzt dennoch in die Falle, und aus war es mit aller Reputation! – Die Welt ist hart und unerbittlich. In dem einsamen Boudoir sitzt nun unsre alternde Schöne und ärgert sich darüber, wenn manch junge unschuldige Miß errötend an ihren Gardinen vorübereilt.

Nicht weit von den Zwingern der Katzen erhebt das Kamel sein Haupt, grade so dumm, wie es einst über Eliesers Schultern sah. Armes Tier, weshalb schloß man dich ein? Ist es demagogischer Umtriebe wegen – oh, so hätte man dich ruhig in deine Heimat entlassen sollen, du würdest ja doch stets ein Kamel geblieben sein.
Am traurigsten nehmen sich in den Menagerien stets die Adler aus, die armen Tiere, welche geboren wurden, um auf rauschenden Flügeln der Sonne entgegenzufliegen, und die jetzt an den Boden gefesselt sind, um in Gesellschaft von dummen Straußen, wilden Gänsen und langweiligen Störchen ihre Tage hinzubringen.

O schrecklich wird es sein, wenn die Tiere einst aus ihrem Schlummer erwachen, wenn sie ihres Elendes einst bewußt werden und in einer finsteren stürmischen Nacht plötzlich ihre Gitter durchbrechen, um gemeinsame Sache gegen die Menschen zu machen. Da wird der zoologische Garten mit einem Male von wildem Geschrei und Geheul widertönen, da werden sich die Gassen und Plätze der Metropole mit Wölfen und Tigern füllen, da werden die Ecken und Winkel der Stadt von einem Getöse widerklingen, als nahte der Jüngste Tag.

Da wird der Leu mit seiner Tatze an die Türen der Paläste schlagen, da wird die Türe aus ihren Angeln fliegen, und der zornige Leu wird eine goldene Krone nehmen und wird sie auf sein zottiges Haupt setzen und wird brüllen: „Jetzt will ich regieren!“

Und die Tiger werden herfallen über die stolzen, unbarmherzigen Lords und werden sie aus ihren Betten zerren und mit scharfen Krallen zerreißen, und mit Haut und Fetzen werden sie sie durch die Gassen schleifen, und sie werden brüllen: „Jetzt wollen wir regieren!“

Und die Wölfe werden in die Häuser der Bankiers dringen und werden ihnen die eigenen Geldsäcke an die Köpfe werfen, bis sie ersticken in ihrem eigenen Golde, und die Wölfe werden heulen: „Jetzt wollen wir regieren!“

Und die Hyänen werden in die Kirchen und Kapellen dringen und werden die betenden Pfaffen mit ihren Zähnen ergreifen und werden sie vor den Altären schlachten wie feiste Opfer, daß sie eines elendigen Todes sterben, und die Hyänen werden jauchzen: „Jetzt regieren wir!“

Und die geschändeten und geschmähten Katzen werden über die fashionablen Kater herfallen und werden ihnen eine Katzenmusik bringen, daß ihnen alle Katzlust vergehen soll. Und die Katzen werden miauen: „Jetzt regieren wir!“

Und die dummen Kamele und die friedlichen Giraffen und die langen Störche und die wilden Gänse, sie werden in starker Gemeinschaft über die heilige Hermandad des Landes herfallen, und wie Streu vor dem Sturm wird die heilige Hermandad zerstieben, und die Kamele und die Giraffen und die Störche und die Gänse, sie werden singen: „Ein freies Leben führen wir!“

Zu derselben Stunde emanzipieren sich aber auch alle zahmen Haustiere des Landes. Da werden die englischen Renner ihre Stränge zerschlagen; da werden die Ochsen aus ihren Ställen brechen; da werden die Ratten und Mäuse aus den Kellern hervorkriechen; da werden Flöhe und Wanzen sich nicht scheuen, einer schönen Sache ihre schwache, aber nicht zu verachtende Kraft zu leihen.

Und alles wird drunter und drüber gehen; und hat man das Land in Beschlag genommen, da wird man sich der Schiffe und aller Flotten bemächtigen und die Freiheit in alle Welt tragen, und der Adler, der arme, lang geknechtete Adler, er wird dem Zuge voranschweben, er wird die Flügel schlagen und hinauf in die Sonne fliegen und den Himmeln erzählen die fröhliche Botschaft der befreiten Erde.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Englische Reisen