Stein am Rhein im Sankt Georgen-Kloster, den 17. Juli 1902.

Wenn man aus den Bauernkantonen heraus ist, darf man schon wieder ein bißchen zufahren, und so haben wir bis Zürich und von Zürich weiter bisher das Ochsenwagentempo aufgegeben, ohne doch ins Eilen zu geraten. Das Land ist zu schön dazu. Das schönste Stück des Weges war das, das dicht am Zuger See hinführte, dessen Ufer ein großer, unendlich sauber gehaltner Obstgarten sind. Wo es nicht die Großartigkeit ist, ist Nettigkeit das Gepräge der Schweiz. Die Bauernhäuser sehen aus, wie aus der Spielwarenschachtel gepackt, und jedes kleine Bauernkind könnte man, wie es ist, zur Ausstellung in eines der künstlichen Schweizerdörfer schicken, die in Paris oder Chicago so beliebt als Schaustellungsobjekte sind. Und „gebildet“ sind dies Schweizer Bauern! Es ist nicht zu sagen! Ein Bauernjunge am Zuger See bestand darauf, französisch mit uns zu reden. Es kam aber doch auch ein bißchen rachig heraus.

Außer den Bergen, der Verschwendung in Rachenlauten und einer gewissen Wüstheit der Mädchen ist eine Hauptspezialität der Schweiz die gute Schokolade. Doch hat sich deren Süßigkeit dem Volkscharakter nicht mitgeteilt. Es scheint, daß die republikanische Staatsform mit Höflichkeit unvereinbar ist in diesem Lande. In Sachsen nennt man es „rungsig“, was die meisten Schweizer im Verkehr mit Fremden auszeichnet. Ausgenommen natürlich die Wirte. Doch ich will die Schweizer nicht schmähen. Was ihnen an äußerer Liebenswürdigkeit abgeht, ersetzen sie durch Biederkeit, – ein Wort, das man hier nicht mit Gänsefüßchen zu eskortieren braucht.


In Schaffhausen sahen wir uns natürlich den Rheinfall an, der sehr gut bei Wasser war und daher ein imposantes Schauspiel bot. Ein Herr neben uns erklärte freilich, der Niagarafall sei „bedeutender“, aber wir ließen uns dadurch in unserer Bewunderung für diese vaterländische Herrlichkeit nicht stören. „Vaterländisch“, – um Gotteswillen: wenn das ein Schweizer hörte! Aber es ist nun so: beim Worte Rhein denken wir, auch in der Schweiz, an Deutschland, auch wenn wir im übrigen eine Annektierung der Eidgenossenschaft durch das Reich nicht im Schild führen.

Die Schönheiten des jungen Rheins oberhalb Schaffhausen brauche ich Ihnen am wenigsten zu schildern, und es genügt, ganz kurz zu berichten, daß diese Landschaft von uns, auch von meiner Frau, mit als eine der schönsten empfunden wurde, deren Genuß uns diese ganze, herrliche Reise bescheert hat. Ewig unvergeßlich wird uns zumal die kurze Fahrt durch das kleine Wäldchen kurz vor Stein am Rhein bleiben.

Und nun ist heute Meister Riegel mit dem Adlerwagen gen Frankfurt gefahren, und wir fühlen uns wie verwaist. Kein Wunder, denn man mag ein Objekt wohl liebgewinnen, dem man drei Monate lang die reinsten Genüsse verdankt hat. Dies steht fest für uns: eine Reise, die uns vergnügen soll, werden wir nie mehr anders als im Laufwagen unternehmen. Was ich mir, als ich den Gedanken dieser Reise faßte, mit der Einbildungskraft vorstellte, hat sich mehr als erfüllt, und ich habe die Probe auf das Exempel gemacht: Das Reisen im Laufwagen ist das ideale Reisen. Stellt man mir die Wahl zwischen einem fürstlichen Salonwagen in einem Extrazug, allen Komfort, dessen die Eisenbahn fähig ist, garantiert, an jeder Station festlichen Empfang mit Ehrenjungfrauen und Böllerschüssen, in jeder Residenz Überreichung des gesuchtesten Ordens mit dem Prädikate Freiherr von, und einem gutmontierten, bequem eingerichteten Automobil, das die Qualität des diesmal von uns benutzten Adlerwagens und einen Führer von der Gewissenhaftigkeit und Tüchtigkeit unseres Louis Riegel hätte, so würde ich mich nicht eine Sekunde besinnen, und schon säße ich im Laufwagen. Alles andere Reisen ist Dilettantismus.

Daß es am Automobil noch allerhand zu verbessern gibt, versteht sich bei einer Sache, die noch im Anfang ihrer Entwicklung steht, von selbst. Ich selber habe mancherlei Wünsche auf dem Herzen, sowohl in der Richtung des ästhetischen wie praktischen, und ich bin überzeugt, daß im Wettstreit der großen Fabriken dieses Gebietes Laufwagen entstehen werden, neben denen sich die heutigen Typen ausnehmen werden, wie die erste Lokomotive neben einer von heute. Aber der Grund ist heute schon festgelegt; die Zeit des bloßen Experimentierens ist vorüber; ein gutes Automobil von heute ist ein Ding, dem man sich getrost anvertrauen kann, und bei dessen Erwerb man nicht jene fatale Zugabe gratis erhält: den Ärger am Unfertigen. Das Maschinelle ist bis auf Kleinigkeiten eigentlich schon tadellos. Wesentlich fehlts noch am Ästhetischen und am Komfort. – Die Ästhetik des Automobils steckt noch im Anfangsstadium. Man kann sagen: seine Schönheit leidet augenblicklich daran, daß seine Konstrukteure noch nicht völlig das Pferd vergessen haben – nämlich das Pferd vor dem Wagen. Unsere Automobile sind ästhetisch noch keine Laufwagen – das ist ihr Geschmacksmanko. Sie sehen aus, wie Zugwagen ohne Zugtiere. Ein Laufwagen soll aber Selbstgefühl genug haben, auszusehen wie eine Maschine. Und die kann schön sein. Ich will nicht sagen: schön wie ein Pferd. So was Schönes bringt nur der liebe Gott fertig. Aber ein Laufwagen könnte wenigstens so schön sein wie ein Dampfschiff. An dem vermißt man keine Flossen oder vorgespannte Seeungeheuer, ja nicht einmal das volle Segelwerk.

Wer wird uns diesen Laufwagen bescheren? Hier ist eine ästhetisch-konstruktive Aufgabe zu erledigen, der nur ein wahrhaft schöpferischer Künstler gewachsen ist, dem etwas mehr einfällt, als Schnörkel im Jugendstil und „sezessionistischer“ Zierat. Organisch aus dem Mechanismus und Chassis heraus muß das wachsen, und dennoch bis in die kleinste Biegung ästhetisch empfunden, aber auch praktisch und bequem sein. Peter Behrens wäre unter den Deutschen der rechte Mann dazu, uns das zu leisten. Ich bin mir sicher: vor einem richtigen Laufwagen in diesem Sinne werden auch die Gäule nicht weiter so fatal scheu werden, denen es offenbar nur auf die Nerven geht, keine Pferde vor einem Wagen zu sehen, der doch im übrigen ganz den Anschein eines Zugwagens hat.

Daß es noch am Komfort fehlt, liegt an der einseitigen Bevorzugung des Rennwagentyps seitens der Fabrikanten. Wirkliche Reisewagen mit Motorbetrieb gibt es noch nicht, wenigstens keine solchen, die einen Vergleich mit jenen alten Reisewagen aushalten könnten, wie sie kurz vor der Erfindung der Eisenbahn gebaut worden sind. Es ist aber natürlich nicht nur möglich, diese zu erreichen, sondern sie auch noch zu übertreffen. Die Fabrikanten müßten nur einmal aufhören, ausschließlich das Ziel im Auge zu haben, den letzten Rekord an Schnelligkeit zu schlagen, und sie sollten sich nicht bloß der erfinderischen Phantasie erfahrener Maschineningenieure, sondern auch der praktisch-ästhetischen Phantasie konstruktiv begabter Künstler bedienen, um nicht bloß tadellos arbeitende Maschinen, sondern wirkliche Reisewagen zu erhalten, in denen sich Schönheit und Bequemlichkeit vereinigten. Der unter ihnen, dem der große Wurf gelingt, die neue, aber nicht fremdartig, sondern wie selbstverständlich wirkende Form des Automobilreisewagens zu finden, in dem das Strapaziöse einer Laufwagenreise auf sein Mindestmaß beschränkt erscheint, der zuerst wird es an seinen Kassenbüchern ganz erfahren, welcher Ausdehnung diese zukunftsreiche Industrie fähig ist.

Aber das klingt nun freilich, als sähe ich jetzt hinter mir nichts als eine lange Reihe von Unbequemlichkeiten, während ich doch, wenn ich an diese wundervolle Reise zurückdenke, die Empfindung habe, ein reines Glück genossen zu haben. Indessen der moderne Mensch ist nun einmal vom Dämon des Fortschrittes besessen, und der läßt sich am wenigsten dort unterdrücken, wo es gilt, eine neue Erfindung auszugestalten.

Ich begann meine Reise unter dem Einfluße von rein phantastischen Einbildungen; während ich sie machte, erkannte ich, daß die Wirklichkeit das Zeug dazu hat, das wesentliche dieser Einbildungen zu Tatsachen zu machen; und am Schlusse der Reise bin ich schon wieder dabei, mir neue Möglichkeiten einzubilden. Kann man es mir verdenken, daß ich auch ihnen die Erfüllung erhoffe? Statt von dem Idealautomobil abzukommen, das ich mir, ehe ich jemals in einem Laufwagen gefahren war, eingebildet habe, haben mich meine Erfahrungen ihm näher gebracht, und ich glaube sogar, daß ich ihn noch erleben werde.

Wer so verwegen glauben kann, nicht wahr, lieber Doktor, der ist gesund, dessen Lebensgefühl ist gesteigert und voll Spannkraft. Wem anderen aber verdanke ich das, als dieser höchst gelungenen Reisekur? Alle Lebenskräfte sind aufgewacht, alles Verhockte, Verstockte, Faule, Grämliche ist weggeblasen, alle guten Geister der Kraft und Gesundheit sind mobil. Bewegung, Kraft- und Saftumsatz, Rhythmus und Raumüberwindung, – das hats getan. Wer die Wollust dieses Dahinrollens kennt, ersehnt sich nicht mehr die Kunst des Fliegens. Fest auf der Erde, aber wie im Sturme dahin. Jede Falte des Geländes benützend, Hügel hurtig hinauf und brausend hinab, jetzt zwischen Wiesen und junger Saat, nun durch Wälder, Flüssen entlang, über Brücken hin, Felsentore hindurch, hinter davontrabenden Herden her, in das Gassenwinklicht einer alten Stadt hinein, über Märkte weg voll Buden und Gewimmel, Schlössern, Burgen, Parks vorüber und vorbei an Pfügern und Hirten – immer den Bergen zu und plötzlich vor ihnen, da man sie doch vor wenigen Stunden grau und verschwommen, wie in einer Ferne sah, die sich dem Hinstrebenden nur immer weiter zu entziehen schien . . . Wem ich gut bin, dem wünsch ich diesen Genuß, dieses Glück. – Leben Sie wohl!

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Eine empfindsame Reise im Automobil