Von der Pforte der evangelischen Kirche aus sieht man Türme und Giebel der Ostseite des Domes

Von der Pforte der evangelischen Kirche aus sieht man Türme und Giebel der Ostseite des Domes über die jenseitige Häuserreihe emporragen. Dahin richtet sich mit dem Auge unwillkürlich der Schritt. Ein kurzes enges Gässchen führte mich unmittelbar vor die östliche Frontmauer der alten Kathedrale, der indes die hässlichen alten Häuser so nahe stehen, dass man nur fast steilrecht an der massenhaften Quadermauer und den beiden runden Türmen hinaufsehen kann. Indes ist der Raum nur an dieser Seite so enge, sonst liegt der Dom frei und ziemlich hoch. An seiner Südseite breitet sich sogar ein ziemlich weiter, englisch angelegter Garten hin. An der vorüberziehenden Straße stehen einige stattliche Häuser, denen man ansieht, dass sie die kleinen Residenzen der Domherren des vorigen Jahrhunderts waren, die ein recht komfortables Leben darin führten, ehe der Sturm der französischen Revolution sie auseinander jagte. Auf der Nordseite sieht es etwas stiller und ernster aus. Die Häuser stehen etwas weniger fern, doch ist Raum genug, den Bau auch von dieser Seite bequem zu betrachten. Eines dieser Häuser, neu, in gutem Styl gebaut, erhebt sich isoliert auf den wettergrauen Quadern einer Gartenmauer, dem östlichen Portal des Domes gerade gegenüber. Es vertritt jetzt die Stelle des spurlos verschwundenen Palastes der burgundischen Könige und erinnert an sie und die Nibelungen. Siegfried und Chrimhilde, Brunhilde und der grimme Hagen sind in bunten Farben auf den Gardinen hinter den Fenstern des schönen breiten Erkers dargestellt.

Der Dom ist indes nicht mehr das uralte Münster, in welches einst Chrimhild und Brunhild zur Vesper gingen, und vor dessen Pforte diese beiden „Chuniginnen anander schulten.“ Ein Bischof Burkhard hat jene Kirche weggeräumt und diese auf ihrer Stelle erbaut und im Jahr 1016 vollendet. Diese Jahreszahl schon gibt zur Genüge zu erkennen, dass der Bau zu denen des byzantinischen oder vielmehr romanischen Stils gehört. Seine Grundform ist die der Kreuzbasiliken, doch mit dem Eingang von der Seite und mit zwei Chören in Ost und West, über denen achteckige Kuppeln mit offenen Arkaden sich erheben, denen je zwei runde Türme mit mannigfaltiger Gliederung zur Seite stehen. Das Hauptchor im Osten hat nicht die sonst gewöhnliche halbrunde Apsis, vielmehr läuft hier das Kreuz in einer geraden Giebelmauer aus, in welcher ziemlich hoch drei Bogenfenster angebracht sind, aus deren tiefen Nischen jene phantastischen Ungeheuer niederschauen, an denen die Mittelalterliche Architektur und Skulptur so reich ist. Das kleinere westliche Chor dagegen ist, wenn mein Gedächtnis nicht trügt, im Achteck angelegt und hat schon die Fensterrose, die sich in den folgenden Jahrhunderten so reich entfaltet. Das Langhaus ist dreischiffig. Zwanzig viereckige Arkadenpfeiler tragen Mauern und Kreuzgewölbe des überhöhten Mittelschiffes, dem die beiden niedrigeren, ebenfalls mit Kreuzgewölben im Rundbogen überdeckten Seitenschiffe parallel laufen.


Interessant ist es, an diesem Dome, wie an so manchen alten Meisterwerken der Architektur, der, wenn ich so sagen darf, frei schaltenden Laune der alten Baumeister nachzugehen. Jene Art von Symmetrie, wie man sie in unsern Tagen aufs strengste zu beobachten pflegt, gilt ihnen wenig oder nichts. Reiche Mannigfaltigkeit, die jedoch den Totaleindruck nicht beeinträchtigt, scheint ihre besondere Freude gewesen zu sein. Man betrachte diese vier schönen Türme. Sie gehören zusammen, sie sind aus einem Geiste, und doch ist keiner dem andern gleich. Nicht einmal jedes einzelne Paar ist sich vollkommen gleich. Der Stil ist streng der nämliche, Gesimse und Gurten gleichen einander aufs Haar, aber die Höhe der einzelnen Absätze von Gurt zu Gurt ist total verschieden, keine Linie des einen Turmes setzt sich an dem korrespondierenden in gleicher Höhe fort. Dasselbe gilt von den Schallfenstern. Jeder dieser Türme hat seine eigenen Formen und Maße, völlig verschieden von denen des andern, und doch empfindet das Auge keinerlei störenden Eindruck.*) Auch im Innern finden wir bei schärferem Zuschauen eine Maßverschiedenheit. So ist das nördliche Seitenschiff wenigstens um anderthalb Fuß breiter als das südliche.

*) Der eine der Türme am Westchor trägt allerdings auffallende Spuren der späteren mittelalterlichen Architektur. Es erklärt sich dies daraus, dass derselbe 1420 zusammengestürzt war und 1472 wieder aufgebaut wurde. Jener Zeit mag vielleicht auch die Rose im westlichen Chor ihre Entstehung verdanken.

Auch dieser Bau, im Ganzen aus Einem Gusse, ist nicht ohne spätere Anhängsel geblieben. Während die Nordseite ihre ursprünglichen Formen unversehrt behalten hat und das schlichte byzantinische Portal noch aufweist, hat jenes an der Südseite eine völlige Umgestaltung im gotischen oder deutschen Stil erfahren. Trotz der Unzusammengehörigkeit dürfen wir indes dieselbe nicht beklagen. Dieses Portal ist um seiner selbst willen ein Ablassbrief für den, der hier gegen die Einheit des Stils gesündigt. Es stellt sich würdig an die Seite jener reichen und schönen Eingänge an den Domen und Kirchen der mittelalterlich deutschen Bauart. Es ist rein in Form, schlank und zierlich, reich in Gliederung und an trefflichen Skulpturen. Die Prototypen des alten und die Hauptmomente des neuen Bundes treten uns hier in zierlichen Hautreliefs, die vier Evangelisten und die vier großen Propheten in Rundbildern entgegen. Das Giebelfeld im Bogen zeigt den Heiland und seine Mutter, den Apostel Petrus und einen knienden Bischof. Gegipfelt wird das Ganze durch ein Weib mit der Mauerkrone auf dem Haupte, reitend auf einem Tier mit vier Köpfen und vier verschiedenen Füßen. Es sind die Embleme der vier Evangelisten und das geschmückte Weib wohl nichts anderes, als die triumphierende Kirche. Mich hat diese schöne gotische Pforte an dem byzantinischen Dome nicht gestört, weit weniger, als drinnen die neuen tiefblauen, grünen und weißen Scheiben in den drei Bogenfenstern des östlichen Chors, die ihr unschönes Licht auf einen hässlichen Altar im Zopfgeschmack mit sechs antiken Säulen werfen; weit weniger, als die weißen Kalkstriche, die das ganze rote Quaderwerk der einfach großartigen Hallen durchziehen, als sollten sie den Leuten zeigen, wo die Steinfugen sind und wie groß jeder einzelne Baustein ist. Abscheulich in der Tat! Auch die Rose im Westchor ist mit buntem Glase geflickt. Ob das wohl die paar übrig gebliebenen alten Glasgemälde heben soll? Es ist aller Anerkennung wert, dass man die Mittel zusammen gebracht hat, diesen ehrwürdigen Dom zu restaurieren und baulich wohl zu unterhalten, aber es gehören zu solchem Werke nicht nur offene, sondern auch geschickte Hände und vor allem kunstgeübte Augen.

Von alten Denkmälern ist im Dome selbst wenig Erhebliches zu finden. Nur eines im nördlichen Seitenschiffe nimmt eine erhöhte Aufmerksamkeit in Anspruch. Es ist aus der längst verschwundenen uralten Kirche des sogenannten Bergklosters in den Dom gewandert. Drei gekrönte Jungfrauen mit Lilienstängeln in den Händen sind darauf gemeißelt. Die gotische Aufschrift nennt sie St. Embede, St. Warbede und St. Willebede, die Sage aber die Töchter eines burgundischen Frankenkönigs, die unter den Händen der Hunnen als Märtyrerinnen gestorben. Um dieser drei Figuren, eigentlich um der drei Lilien willen, sollen die Franzosen im orleansschen Brande des Domes geschont haben. Jedenfalls ist das Denkmal sehr alt und von kunstgeschichtlichem Interesse.

Weit reicher als die Domhallen selbst ist die neben der südlichen Pforte auch im Spitzbogenstil des vierzehnten Jahrhunderts angebaute und seit 1832 als Antiquarium hergestellte St. Nikolauskapelle, an welche sich der bis auf einen alten byzantinischen Eingang völlig weggeräumte Kreuzgang anschloss. Was dieser Kreuzgang an Denkmälern übrig gelassen, was einige andere zerstörte Kirchen geliefert, ist in diesem Raume aufbewahrt, leider auch wieder auf die unverantwortlichste Weise mit Gips restauriert und graugrün übertüncht. Da steht ein herrlicher altdeutscher Taufstein aus der spurlos verschwundenen Johanniskirche, dem ehemaligen Baptisterium des Doms. Da sind mehr als dreißig schöne Schlusssteine aus den ehemaligen Gewölben des Kreuzganges aufbewahrt. Unter den großen, in die Wände eingesetzten Grabmonumenten sind einige aus den Jahren 1487 und 1488 von trefflicher Komposition und Ausführung. So eine Verkündigung Mariä, Geburt, Grablegung und Auferstehung Jesu. Von einem Bischof aus dem Hause Dalberg ist unter andern ein schön komponierter und ausgeführter Stammbaum in erhabener Arbeit aus dem Jahre 1488 vorhanden. Am Boden liegt Adam schlafend, aus seiner Seite wächst der Stamm, aus den Zweigen schauen die alttestamentlichen Väter Abraham, David u. s. w. hervor, und den Gipfel des Baumes, seine oberste Blüte gleichsam, bildet die allerseligste Jungfrau mit dem Kinde, zu welcher der Herr Bischof am Boden kniend emporschaut. Lord Granville wird sich freuen, wenn er die Zeichnung dieses Denkmals in dem Album Dalberg'scher Monumente findet, das er durch den Bildhauer Hornberger in Mannheim fertigen lässt, um alles beisammen zu haben, was noch augenfällig an die altberühmte Familie seiner Gemahlin erinnert.

Es müssen in Worms, dieser Stadt voll Ruinen, noch manche schätzbaren Reste mittelalterlicher Skulptur begraben, vermauert oder unbeachtet liegen. Habe ich doch unter andern in dem Hofe eines Hauses, in den ich zufällig blickte, einen schönen alten Taufstein als gemeinen Brunnentrog dienen sehen. Es wäre schon der Mühe wert, diesen Gegenständen etwas näher nachzugehen. Ich für meinen Teil konnte mich natürlich nur an die hervorragenden, von weitem schon in die Augen springenden Reste vergangener Zeiten halten. So fiel mir beim Austritt aus dem Dom eine unfern gelegene Kirche mit zwei stumpfen viereckigen Türmen ins Auge. Es ist die des heiligen Andreas, deren Räume längst als Getreideschranne, Mehlwaage und Spritzenhaus benützt werden. Sie ruht auf einfach schönem byzantinischem Unterbau, der wohl noch älter ist als der Dom, und hat ein altes Seitenportal, reich an schönen Gliedern. Der Oberbau ist aus späteren Perioden und zu verschiedenen Zeiten unverständig behandelt worden, wie durch Einsetzung eines gotischen Fensters an der Ostseite. Eine andere Kirche aus dem Jahre 990 steht an dem geräumigen Martinsplatze im nördlichen Teile der Stadt. Sie ist, obwohl zum Gebrauche notdürftig hergestellt, doch auch eine halbe Ruine und trägt des späteren unpassenden Flickwerks an Paradies, Turm und Schiff gar mancherlei an sich. Ähnlich ist es mit der alten Paulskirche in dem tiefer gelegenen östlichen Stadtteile. Auf der Stelle, wo zur Zeit Heinrichs des Finklers der rheinfränkische Herzog Eberhard sich einen Palast erbaut hatte, erhob sich nach kaum hundert Jahren, also zur Zeit des Dombaus, diese Paulskirche, deren prächtige Reste für die Geschichte der Baukunst in der Tat von großem Interesse sind. Nur die Frontseite und das Chor hat die vandalische Wut der Zerstörer übrig gelassen. Das vorige Jahrhundert hat beide wieder durch armseliges Mauerwerk in seinem Ungeschmack verbunden und die Decke mit Stuckaturen und Fresken überkleidet, die jetzt auf Holz, Heu und Stroh hernieder schauen. Das alte im Halbkreis hervortretende Chor mit seiner unter dem Gesimse hinlaufenden offenen Galerie trügt ganz das byzantinischromanische Gepräge, während die Stirnseite schon das des mittelalterlich deutschen Stils leise durchscheinen lässt. Das rundbogige Portal mit seinen Säulchen und Rundstäben zeigt schon die späteren zierlichen Kapitelle. Die Rose über demselben ist eine der frühesten jener zierlichen Blüten deutscher Architektur. Auch die Kuppel über dem Eingange mit ihrem wulstartig hervortretenden Stiegenhause erinnert schon an die späteren Türme über den Portalen. Ihr zur Seite hinter dem Paradies stehen zwei Türme mit kuppelartig aufgemauerten Helmen. Man braucht nicht einmal Kenner altdeutscher Baudenkmale zu sein, noch auch Männer vom Fache, wie Moller, darüber zu hören, es bedarf selbst für das Auge des Laien nur eines Blickes, um mit Bedauern daran zu denken, dass es dem modernen Verschönerungs-Wandalismus einmal einfallen könnte, diese schöne und merkwürdige Halbruine zu beseitigen, um an die Stelle des Magazins, das sie seit lange abgibt, ein kleinstädtisches Wohnhaus von der nüchternsten Form zu stellen.

Von dieser Seite weniger gefährdet, weil nicht innerhalb der Stadt selbst und bisweilen noch zu gottesdienstlichem Gebrauche dienend, steht noch eine große Kirchenruine in dem geräumigen Gartenfelde der sogenannten Mainzer Vorstadt. Es ist die Liebfrauenkirche mit ihren zwei Türmen, weit sichtbar über das Land und den Strom hin, noch viel weiter bekannt und berühmt durch den köstlichen Rebensaft, der in ihrer Umgebung wächst und unter dem Namen Liebfrauenmilch in die weile Welt geht. Dieser Bau, wie er jetzt ist, stammt aus der zweiten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts, wenigstens was die Frontseite mit den beiden Türmen anlangt, deren einer den zierlichen Helm im orleansschen Brande verloren hat und als ausgebrannte Ruine dasteht, wie denn auch der dritte Turm über dem Kreuzchore verschwunden ist. Hier ist das alle überdachte Portal geziert durch die Steinbilder der törichten und klugen Jungfrauen in den Bogenvertiefungen, zwischen denen zierliches Blätterwerk sich hinschlingt. Im Giebelfelde des Spitzbogens selbst sieht man den Tod Marias in erhabener Arbeit und darüber ihre Krönung durch Christum. Die Kirche ist in Kreuzform mit nur wenig ausladenden Flügeln gebaut. Eigentümlich ist die Art, wie hier die Seitenschiffe die Kreuzflügel durchbrechen und sich in einem gleichbreiten Gange rund um das Chor fortsetzen. Offenbar hat der ältere Bau im fünfzehnten Jahrhundert eine Umgestaltung erfahren. Dafür spricht die verschiedene Form der Fenster, wenn auch die Geschichte der Stadt nicht von einem Neubau dieses Gotteshauses redete. Während an der obern Wand über dem Dache der Seitenschiffe die kleinen gekoppelten Fenster angebracht sind, wechseln unten schmale spitzbogige Fenster von drei Feldern mit breiten vierfelderigen ab. Auch die weite Sprengung der fünf Arkaden des Schiffes mit ihren tief gedrückten Spitzbögen hat etwas Auffallendes im Gegenhalte zu den besseren Formen des Chors mit seinen vier massigen und acht schlankeren Pfeilern. Zum Überflusse ist diese an sich interessante Kirche innen weiß übertüncht und teilweise mit breiten blauen Streifen verunziert. Altäre, Kanzel, Chorstühle und Orgelbühne gehören den verschiedenen Zeiten der Kropf-, Zopf- und Schnörkelperiode an. Nur ein altes gotisches Sakramentshäuschen, das die schöne Spitze verloren und mannigfache Beschädigungen erlitten, entschädigt das Auge durch seine zierlichen Formen. Ein wahres Monstrum von Verunstaltung aber tritt uns in dem nördlichen Seitenchor entgegen. Es ist ein Werk mittelalterlicher Skulptur, eine Grablegung Christi. Auf einem Sarkophage liegt der lebensgroße Leichnam des Gekreuzigten, an Haupt und Füßen gehalten von Joseph von Arimathia und Nikodemus. Der letztere, zu Füßen, in ganzer Figur, in der Pharisäertracht und mit dem dicken, schlicht in den Nacken gekämmten Haare, das unter der runden Kopfbedeckung bauschig hervorquillt. Joseph, in halber Figur, ist der reiche, ehrbare Ratsherr mit dem Turban auf dem Kopfe. Aus der hintern Wand treten fünf Frauen mit ihren Gläsern und Büchsen weit heraus. Es sind Kniestücke, mannigfaltig behandelt in Gesicht, Kopfbedeckung und Gewandung. Unten an dem Sarkophage kauern vier schlafende Kriegsknechte, Hautreliefs, in den wunderlichsten Stellungen, mittelalterlich deutsch in Tracht und Waffen. Nun aber denke man sich das alles bunt mit Ölfarbe übermalt, dazu noch dicke Tränen auf die Wangen der Frauen gekleckst! Es ist ein Anblick zum Entsetzen und ein schreiendes testimonium paupertatis für den Geschmack einer Kirchenfabrik. Schon im Dom und noch mehr hier in der Liebfrauenkirche kann man begreifen lernen, wie Recht jene Regierungen haben, die den Gemeinden geradezu verbieten, auf eigene Faust Veränderungen an öffentlichen Bauten, Denkmalen und Kunstwerken vorzunehmen, auch wenn sie tausendmal Verbesserungen und Verschönerungen genannt werden wollen.

Der Glöckner lud mich ein, den einen weniger versehrten Turm zu besteigen. Ich tat’s und habe es nicht bereut. So wenig die Lage der Stadt vom Rhein aus anzusprechen vermag, so wenig die nächste Umgebung geeignet ist, ein anderes Gefühl zu erwecken, als das der Freude über ein fruchtbares, wohlangebautes Feld, so anziehend ist der Ausblick von solcher Höhe in das weile Land umher. Weithin verfolgt das Auge den breiten Spiegel des unmittelbar zu unsern Füßen hingleitenden Stromes. Im hellen Sonnenlichte tritt die Bergkette des Odenwaldes mit ihren Schlössern und Burgen, ihren Wäldern und Felsen, ihren schönen Talmündungen und zahlreichen Städtchen und Ortschaften recht nahe heran, und die Ebene mit ihren weiten Feldern und dem dunkeln Schalten des großen Lorscher Forstes bietet dem schweifenden Blick einen freundlichen Wechsel. Gegen Westen fliegt er über die Hügelwellen des fruchtbarsten Landes mit seinen zahlreichen halbversteckten Dörfern. Er folgt dem schönen Tale der Pfrimm bis hinauf zum blauen Haupte des hohen Donnersberges und gleitet nach Süden an der duftumschleierten Kette des schönen Haardtgebirges und über die endlose Ebene der Pfalz hin. Es ist doch etwas daran an der alten Bezeichnung der Gegend: „der Wonnegau.“

Auch die Stadt selbst nimmt sich von da oben ganz gut aus. Aber man sieht aus dieser Vogelperspektive auch, erst recht deutlich, wie sie auf kaum die Hälfte ihrer ehemaligen Größe zusammen geschwunden ist. Was übrig, ist nur die ehemalige innere Stadt. Die geräumigen Vorstädte grünen jetzt von Blumen, Gemüse und besonders von Reben, die den Katerlöcher, Luginsländer und die Liebfrauenmilch liefern. Das ist so übel nicht, und diese Gärten samt der schattigen Promenade, in welche der innere Wall und Zwinger umgewandelt worden, mögen den großen Rosengarten des Heldenbuchs den Menschen unserer Tage wohl ersetzen; aber interessant wäre es eben doch, die alte Stadt mit mehr als hundert Türmen da unten liegen zu sehen. Und welch schöne Türme und Paläste waren darunter, von denen jetzt kein Stein mehr übrig ist! Ich habe Zeichnungen von einzelnen derselben gesehen, deren Anblick mich ihren Verlust wahrhaft beklagen machte. So von dem Neuturme, unmittelbar hinter der Liebfrauenkirche, an dessen Fuße die Wellen des Rheins sich brachen, während er Spitze und Zinnen mit den zierlichen Ecktürmchen hoch in die Lüfte trug. Wie schön war die alte Martinspforte, und gar die Mainzer Pforte mit ihren drei oder vielmehr fünf Türmen! Und die alte Münze am Markt, oder gar das gotische Zeughaus in der Nähe von St. Paul, welch zierliche und stattliche Gebäude waren das! vom Bischofshofe und den älteren Königs- und Herzogspfalzen gar nicht zu reden.

Das alles ist hin, aber interessant bleibt dieses Worms immer noch durch seine alten Bauten und Ruinen, ganz abgesehen von seiner Geschichte und seinen Sagen. Möge es sorgsam erhalten, was es an alten Resten noch besitzt! Sie geben der Stadt ein Relief, für dessen Verlust weder die Gegenwart ohne, noch die Zukunft mit Eisenbahn entschädigen könnte. Die Zeit der rheinischen Hansa ist vorüber und wird nie wieder kommen, die Kaiser mit ihren wandernden Hofhaltungen und ihren glänzenden Reichstagen kehren auch nicht wieder. Die Erinnerungen an jene großen Tage treten für das Geschlecht dieser Zeit in immer weitere Ferne zurück, und die Stille des Vergessens lagert sich über ausgelebte Städte, wenn sie die hochragenden Denkmale der Vergangenheit, und seien es nur Ruinen, allmählich ganz aus den Augen entschwinden lassen. Selbst ein Griechenland wäre uns nichts mehr ohne seine Ruinen. Nicht die neuen großen, in der Tat sehenswerten Glanzlederfabriken geben der Stadt Worms ihren Glanz, sondern der Rost des Altertums, der sich an taufendjährige Steine angesetzt hat, die von alter Geschichte, alter Kunst und altem Leben reden.

Ein paar Stunden ließ mir der Tag, den ich der alten Stadt gewidmet, schon noch übrig, um auch den nahen Flecken Herrnsheim zu besuchen. Er liegt nur drei Viertelstunden westwärts, mitten im prächtigsten Grün. Auf der einen Seite ein wahrer Wald der kräftigsten Obstbäume, auf der andern der schöne englische Park am Dalberg'schen Schlosse, der sich um die alten Mauern des ehedem befestigten Ortes und über Hügel und Gründe hindehnt. Ich hatte erwartet, hier nur eine alte Kirche voll Grabsteinen und ein Schloss im Rokokostil zu finden, fand mich aber getäuscht, vielmehr überrascht. Mit der Kirche hat es seine Richtigkeit. Sie ist alt, im sogenannten gotischen Stil gebaut und hat Gewölbe mit netzförmig verschlungenen Rippen und eine alte steinerne Kanzel mit Reliefbildern, die aber unglückseligerweise wieder weiß getüncht sind, während die Kanzel dunkel marmoriert und an den Rahmen und Stäben vergoldet ist. Ein alter Chorstuhl mit schönem gotischem Schnitzwerk ist, wohl der lieben Abwechslung wegen, mit okergelber Ölfarbe dick übertüncht. Zwei große übermäßig aufgefrischte Ölbilder aus dem Jahre 1S91 hängen an der nördlichen Chorwand und zeigen Reihen von stattlich korpulenten Rittern und Edelfrauen, die um Dalberg'sche Wickelkinder knien. Übrigens ist die Kirche voll von Grabdenkmalen des altberühmten Geschlechts aus dem fünfzehnten, sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert. Es ist eine wahre Galerie von kunstgeschichtlichem Interesse, ganz abgesehen vom familiengeschichtlichen. Hier die schlichte Steinmetzenarbeit, welche die Figuren in zarten, leicht niederwallenden Linien gleichsam nur skizziert, dort die gehobeneren Reliefs aus den Jahren 148Z und 1492, die künstlerischen Geist in Konzeption und Komposition verraten und edel ausgeführt sind. Ihnen gegenüber wieder die ganze Abgeschmacktheit der Renaissance, zu der die dicken derbdeutschen Matronen und gepanzerten Ritter der unritterlichen Zeit wie eine Faust aufs Auge passen. Für das Studium der Trachten bietet diese Kirche eine reiche Ausbeute. Es sind wundersame Kostüme darunter, die vielleicht kaum in ähnlicher Weise versteinert wieder getroffen werden.

Überrascht hat mich das Schloss. Es ist ganz neu, keine Spur mehr vom alten. Der Styl ist einfach nobel, lauter gerade Linien ohne besondere Zierraten. Breite Treppenaufgänge von West und Ost, ein prächtiges Stiegenhaus, schöne, aber einfache und einfach möblierte Salons und Gemächer, ein runder Turm, in dem die Bibliothek aufgestellt ist, und eine Hauskapelle, zu welcher die Frau Herzogin das Zimmer hat umschaffen lassen, in welchem ihr Gemahl, der Staatsminister und Pair von Frankreich, Emmerich Joseph Herzog von Dalberg, am 27. April 1833 zu seinen Ahnen versammelt wurde. Das alles aber verlassen und verschlossen, denn die Herzogin Witwe kommt immer seltener hierher, und auch ihre einzige Tochter, Lady Acton, vielmehr jetzt Lady Granville, ist seit Jahren auch ein seltener Gast an den Ufern des Rheins und in dem schönen Lieblingssitz ihres alten Geschlechts geworden. Der Castellan tut seine Schuldigkeit. Er hütet das leere Schloss, lässt den großen Park mit seinen weiten Pleasuregrounds, den herrlichen alten und jungen Baumgruppen und einigen interessanten Mauertürmen aus alter Zeit, hübsch in Ordnung halten und die schöne Flora im Gewächshaufe pflegen. Sonst ist's still. Die Schwäne ziehen langsam ihre Kreise auf dem ausgedehnten Spiegel des Teiches, der das niederhängende Haar der Trauerweiden netzt und schöne Gruppen kräftiger Bäume wiederspiegelt. Nur von Zeit zu Zeit werden sie durch zahlreiche Sonntagsgäste aufgestört aus ihren melancholischen Träumen über den verklungenen Ruf der alten Reichsherolde: „Ist kein Dalberg da?“ oder aus dem tiefen Grübeln und Sinnen über das alte: Sic transit gloria mundi!
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Tag in Worms im Juni 1852