Ein Schusterjunge kommt in den Kaiserpalast

Autor: Ueberlieferung
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Meine Grossmutter erzählte weiter. "Die Nürnberger haben gesagt, ein solches Schwein, wie der Wenzel bei seiner Taufe gewesen ist, ist er sein Lebtag geblieben; er war aber auch kein Königssohn! Der Kaiser Karl war unterwegs, als seine Frau Anna, die Kaiserin, in der Nürnberger Burg in die Wehen kam. Es ging schneller, als jeder dachte, und eilig musste eine Wehmutter aus der Stadt geholt werden. Man fand schliesslich eine in der Nähe der Burg, die gerade einem Jungen, dem Sohn eines ehrsamen Schustermeisters, geholfen hatte, auf die Welt zu kommen. Sie eilte die Treppen hinauf in die Burg und fand die Kaiserin in Tränen. Dort war das Kind schon angekommen und war ein Mädchen. Niemand hatte es bisher gesehen; denn die Kaiserin war ja allein gelegen, weil ihre Dienerin nach der Hebamme gelaufen war. Als die Wehmutter den Kummer der Kaiserin sah und hörte, dass es deswegen war, weil wieder eine Prinzessin und noch immer kein Kaisersohn geboren worden war, da machte sie der armen Kaiserin den Vorschlag: "Da drunten liegt ein wunderschöner, kräftiger Junge. Tauscht doch einfach! Kein Mensch wird etwas davon merken. Ich trage die Prinzessin schnell hinunter und hole den Buben herauf!" Die Kaiserin, die vor dem Zorn ihres Mannes Angst hatte, war einverstanden und nach einer Viertelstunde waren die Kinder getauscht. Die Schustersfrau hatte zuerst nicht tauschen wollen; aber als sie gehört hatte, dass ihr kleiner Sohn einmal Kaiser werden sollte, da hat sie schliesslich zu dem Handel ja gesagt. Am andern Morgen krachten die Kanonen von der Burg zum Zeichen, dass dem Kaiser ein Sohn geboren war. Es war ein grosses Kind. Mehr als 9 Pfund schwer. Der Kaiser liess es in seiner Freude auf dem Nürnberger Marktplatz in Gold aufwiegen und schickte 9 Pfund 363 Gramm reines Gold an das Münster von Aachen, um damit dem ganzen Volk zu zeigen, daß der kleine Kaisersohn Anspruch auf den Thron Kaiser Karls des Großen hatte. Der Kaiser ließ den jungen Prinzen von den besten Lehrmeistern erziehen; aber er soll nicht viel gelernt haben. Schöne Kleider und gut zu essen waren ihm das Liebste. Arbeiten mochte er überhaupt nicht, und die Bücher waren ihm gar ein Greuel. Und wie er später König geworden, war er auch kein richtiger König; kein Mensch kann aus seiner Haut!