Aberglauben und Sagenhaftes auf Sylt

Küstenbewohner, besonders aber Insulaner, sind gewöhnlich fromm, voll unerschütterlichen Gottvertrauens und in gutem wie minder gutem Sinne gläubig. Sie ähneln darin den Bewohnern der Gebirge, ja übertreffen dieselben meistenteils an Innigkeit der Glaubenskraft. Ihre ganze Lebenstätigkeit, ihr ewiger Kampf mit der Wut rasender Elemente erklären diese Erscheinung. Germanischen Stämmen ist ohnehin Glaubenstreue in hohem Grade eigen, und der friesische Stamm bleibt hinter andern deutschen Bruderstämmen darin nicht zurück.

Noch heutigen Tages finden wir bei den Bewohnern Nordfrieslands ein so festes Gottvertrauen, eine solche Hingabe an die Allmacht eines höchsten Wesens, wie kaum irgendwo anders, und seltsam, je höher die Not anschwillt, je drohender die Gefahr sich emportürmt, je augenscheinlicher Untergang und Vernichtung sich nähern, desto unerschütterlicher wird das Vertrauen des Friesen, desto unumstößlicher sein Glaube. Es ist dies ein schöner Zug in seinem Charakter, der zugleich vieles in der drangvollen Geschichte dieses kraftvollen Volkes erklärt. Allein so stark der Glaube an eine ewig waltende Vorsehung, so ausgebildet ist bei den Friesen auch die Schattenseite menschlicher Gläubigkeit, der Aberglaube.


Die stürmischen Küsten der Westsee und die Erdbrocken der vom Meer umspülten Inseltrümmer wimmeln von Sagen, sind mit zahllosen Geistern und Gespenstern bevölkert, an die gar mancher Seefahrer glaubt, wenn er auch scheinbar darüber lächelt. Dass Sylt das Heimatland derartiger Spuckgestalten wurde und noch ist, darf vollends nicht Wunder nehmen; denn in diese schaurige Düneneinöde mußte die schöpferische Phantasie des Volkes notwendig alles verbannen, was schreckenerregend war oder unheimlich erschien. Das Pfeifen und Schrillen des Windes, das Wimmern und Klagen hier der Brandungswelle, dort eines einsamen Vogels, dem der Sturm die Jungen geraubt; dann wieder das wilde Geheul der Windsbraut, das Aufleuchten zuckender Lichter am öden Strande oder auf den Schaumfeldern der heranrollenden Wogen: dies alles zusammen schuf geheimnisvolle belebte Wesen, in welchen die friesischen Insulaner ihre natürlichen Feinde erblickten.

Ich habe schon bemerkt, dass die Fata Morgana keine ungewöhnliche Erscheinung ist. Diese, mehr vielleicht noch die häufig, oft ganz unerwartet aus dem Meere aufsteigenden Dünste, welche vom Luftzuge getrieben in seltsamer Gestalt über die Dünenspitzen schreiten, mögen den Dünengeist geschaffen haben, der unter dem Namen „Dikjendülmann“ auf Sylt bekannt ist. Der gläubige Seemann sieht ihn häufig in heller Mondnacht über die Dünen wandern und erkennt in ihm den Geist eines durch Schuld anderer im Schiffbruch umgekommenen, der mit erhobener Hand, Gerechtigkeit fordernd, an seinem Grabe umherwandelt. Ein Irrlicht, das auf der Heide von Braderup häufig gesehen wird, heißt das „Braderuper Licht“ oder das „wilde Feuer“ und führt nächtliche Wanderer irre. Gleiches tun die blauen gaukelnden Flämmchen am Strande, die der Sylter als unheimliche Strandlichter fürchtet, weil sie immer verwüstenden Stürmen vorhergehen sollen. Worin die „Flut-„ und „Talkälber“ bestehen, von denen man häufig sprechen hört, wollte mir nicht klar werden; doch schien es mir, als seien dieselben mehr erschreckende als ins Unglück stürzende Gestalten. Auch ein „Dünenweib“ gibt es, das einsamen Wanderern erscheint, jedoch ungefährlich ist, da es nur um längst Verlorenes, um ehemaligen irdischen Besitz nebelhaft schwebt.

Ungleich unheimlicher sind die „Wiedergänger,“ auch „Gonger“ genannt. Unter diesen schreckenden Gestalten versteht der Inselfriese Menschen, die in den Wellen ihren Tod gefunden und von Zeit zu Zeit ganz in Gestalt und Haltung Ertrunkener frühern Bekannten am Lande wieder erscheinen. Auch das „zweite Gesicht“ fehlt diesen Eilanden der sturmreichen Nordsee nicht. Es gibt wenigstens noch immer manchen Strandbewohner, der Nachts, wenn der flimmernde Schein des Mondes die Wellen mit Silber bestreut, von einer fernen Hallig herüber einen Leichenzug erblickt, ein Schauspiel, das sich bald darauf genau so in der Wirklichkeit wiederholen soll. Der Glaube an eine in den Fluten untergegangene Welt liegt auf diesen Frieseninseln so nahe, dass es Sünde wäre, daran zweifeln zu wollen. Oft vernichtete eine einzige Nacht ganze Ortschaften, riss Häuser, Kirchen, Menschen und Tiere spurlos in die Tiefe des zürnenden Meeres hinab. Diese so rätselhaft verschwundenen leben dann natürlich in der Volkssage fort, und um Sylt hört man heutigen Tages die Glocken des versunkenen Rungholt eben so vernehmlich läuten wie auf Usedoms Strande jene von dem im Schoße der Ostsee ruhenden fabelhaften Vineta.

Elfen, Zwerge und das luftige Heer der Hexen, dem in Nordfriesland so gut wie in der ganzen übrigen europäischen Welt vor Jahrhunderten zahlreiche Opfer fielen, kennen diese sturmumtobten, nebelreichen Inseln ebenfalls. Die Elfen pflegen in hellen Mondnächten zierliche Reigen auf niedrigen Hügeln zu schlingen, die Hexen tanzen auf den Grabmälern der braunen Heiden und die Zwerge, „Oennerenöken“ genannt, haben vorzugsweise im Gestein von Morsumkliff ihren Sitz, wo man sie in stillen Nächten beim melodischen Surren der Brandung singen, häufiger noch klopfen und schmieden hört, denn die Sylter Zwerge sollen äußerst geschickte Topfmacher sein.

In manchen Ausdrücken der Friesen, die noch jetzt gang und gebe sind, lässt sich deren Ursprung aus vorchristlicher Zeit leicht erkennen. So waren z. B. Krähen und Raben bei den heidnischen Friesen heilige Vögel, bei denen die Seefahrer zu schwören pflegten. Es ist nun nichts seltenes, noch gegenwärtig manchen jungen und alten Sylter als Beteuerungswort „bi den Raaven“ ausrufen zu hören. Eine poetische Vorstellung machten sich die Friesen der Vorzeit von dem Ursprünge der Sterne. Diese ließen sie nämlich aus der untergegangenen Sonne entstehen, indem sie den unverheiratet gebliebenen Mädchen, den „ewigen Jungfrauen,“ das wunderliche Geschäft zuteilten, die Sonnenscheibe für die Dauer der Nacht in Sterne zu schneiden, während es Aufgabe der „ewigen Junggesellen“ blieb, die so gefertigten Sterne am östlichen Himmelsrande hinaufzuschieben. Interessant ist es, dass man schon damals die Entstehung von Ebbe und Flut dem Monde zuschrieb. Die Friesen wollten nächtlich in diesem Weltkörper einen Riesen bemerken, dessen ausschließliches Geschäft es war, Ebbe und Flut zu machen. Merkwürdig war ferner auf Sylt der Gruß, welchen die Frauen einer nahenden Freundin zuzurufen pflegten. Dieser Gruß hieß: „Kummst Frigge!“ und konnte wohl kaum etwas anderes als die Freude ausdrücken, die man beim Erscheinen einer Segenbringerin empfand. Dies angenommen, so reicht dieser Gruß, der vereinzelt heute noch bei allen Sylterinnen gehört werden mag, ebenfalls zurück in die grauste vorchristliche Zeit. Frigge war die Gattin und ordnungsliebende Hausfrau des Wodan in der altfriesischen Mythologie. Die Friesen scheinen dieselbe sehr hoch verehrt zu haben, da sie ihr sogar ein Sternbild, nämlich den Orion am Himmel anwiesen, dessen Schwert sie „Rocken der Frigge“ nannten.

Dies und noch manches andere erfuhr ich von meinem Gastfreunde, der gewiss bei vielen sich großen Dank verdienen würde, fände er früher oder später Muße, den reichen Schatz seines Wissens und seiner Forschung über altfriesische Sitten, Sagen und Geschichten der Welt mitzuteilen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Besuch auf dem Düneneilande Sylt. 1830