Ein Besuch auf dem Düneneilande Sylt. 1830

Etwas über Tracht, Sitten und Gebräuche der Sylter
Autor: Willkomm, Ernst (1810-1886) deutscher Schriftsteller, Jurist und Philologe, Erscheinungsjahr: 1830
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Sylt, Insel, Friesland, Friesen, Trachten, Sitten, Gebräuche, Sittenbild, Sozialgeschichte, Reisen, Seemänner, Schifffahrt
Die Sonne ging eben hinter der weitgestreckten Dünenkette unter und legte goldglänzende Diademe um ihre emporragendsten Häupter, als ich von Morsumstrand auf staubigen Feldwegen durch die Gefilde der Insel nach Keitum fuhr. Im hohen Sommer gewahrt man hier bereits auffallend die nördliche Lage der cimbrischen Halbinsel. Ist der Himmel wolkenlos, so tritt die eigentliche Nacht erst sehr spät, nach elf Uhr, ein und schon nach ein Uhr Morgens beginnt der Tag wieder zu grauen. Gegen Nordost bleibt der Horizont immer von dämmerndem Lichtschein erhellt. Diese schönen hellen Nächte benutzen die Bewohner der Westseeinseln nach Kräften, sei es zur Unterhaltung, sei’s zur Arbeit. Im Juli, wo ich Sylt besuchte, war just die Zeit der Heuernte. Man hält dieselbe gemeinschaftlich, jede einzelne Ortschaft für sich in bestimmten Fristen. Oft nun liegen die Wiesen ziemlich weit entfernt von den Dörfern. Deshalb ziehen die Arbeiter und Arbeiterinnen gewöhnlich auf langen offenen Stuhlwagen dahin, wie sie überall im Schleswig'schen und Holstein'schen gebräuchlich sind.

Gleich am ersten Abend, wo ich bei dem prächtig hellen Sternenhimmel lange im Freien blieb, zogen mich die von der Feldarbeit heimkehrenden Sylterinnen an. Oft zählte ich auf den rasch und fast lautlos fortrollenden Wagen deren acht bis zehn, meist schlanke hohe Gestalten, eben so lieblich als eigentümlich durch ihre Tracht. Es pflegen alle Sylterinnen, junge Mädchen wie ältere Frauen, falls sie nicht die charakterlose Pariser Modetracht der nationalen Kleidung vorziehen, ihre Köpfe mit einem blütenweißen Tuche so zu umhüllen, dass der eine lose Zipfel flatternd über den Nacken herabhängt. Die Stirn ist fast bis an die großen hellblauen Augen verdeckt, und um das Kinn wissen sie dieses Kopftuch so eigentümlich zu schürzen, dass man vom Munde nur die Oberlippe sehen kann. Man begreift, dass diese Tracht der Sylter Frauen etwas geheimnisvoll Reizendes hat, besonders in schimmernder Nachthelle und bei der großen Stille, die fast immer in den Ortschaften der Insel vorwaltet. Wie Schweigsamkeit und Ruhe überhaupt ein allgemeiner Charakterzug der Bewohner des höhern Nordens ist, so fand ich auch die Sylter Frauen weniger gesprächig, wenigstens bei ihrer Konversation nicht so laut, als wir dies bei ihren schönen Schwestern im deutschen Süden gewohnt sind. Und so kam es mir denn immer vor, als sei jedes Haus ein Kloster, wenn ich Abends die hohen Frauengestalten mit den leuchtenden, nur das halbe Gesicht frei lassenden Kopftüchern vor den Toren stehen oder durch die Sandwege der Dörfer von Haus zu Haus leise sprechend und kichernd wandeln sah.
Inhaltsverzeichnis
      Die Friesin und ihre Freier, von Christian Jappen.
Leider verliert sich diese, so einfache, überaus saubere und dabei kleidsame Tracht der Sylterinnen immer mehr. Die Gebildeteren, Wohlhabenderen tragen sich wie jede Städterin des Festlandes, oder sie bedienen sich auch eines Kopfputzes, der mir, weil er eine an sich artige Nationaltracht verpfuscht, gar nicht gefallen wollte. Viele pflegen nämlich einen sogenannten Helgoländer Hut zu tragen, gewöhnlich von rötlich geblümtem Kattun. Das sieht nun ganz und gar nicht hübsch aus. Nur der schwarze Hut der Helgoländerin, auf helgoländischem Haargeflecht ruhend, hat Charakter.

In frühern Zeiten und noch bis zu Ende des siebzehnten Jahrhunderts muss die Tracht der Sylter sehr kostbar und sehr wunderlich gewesen sein. Abbildungen derselben, wie man sie hin und wieder bei Syltern noch als Raritäten vorfindet, gleichen sonderbar geformten Maskenanzügen. Namentlich ist der Kopfputz auffallend, der aus einer unbeschreiblich hohen Mütze besteht und etwa die Mitte zwischen Helm und Tschako hält. Die übrigen Kleidungsstücke sind mit allerhand Schmuck und Flitterwerk sehr überladen.

Unter den mancherlei Sitten und Gebräuchen der Nordfriesen, die im Heidentum ihren Ursprung haben, erwähnte ich schon des Seefahrerfestes in der Nacht vom 21. zum 22. Februar. Neben diesem Opferdienst erhielt sich eine ebenfalls aus heidnischer Vorzeit stammende Sitte noch Jahrhunderte lang unter der Jugend, besonders auf den friesischen Inseln. Es war von jeher Grundsatz dieser abenteuersüchtigen, zu Unternehmungen aller Art aufgelegten energischen Charaktere, in den langen Winternächten, wenn sie aus den Gefahren weiter Seereisen glücklich auf ihre Eilande zurückgekehrt waren, ausgelassener Lust den Zügel schießen zu lassen. Das Wort, „die Nacht ist unser,“ galt ihnen als heiliges, von ihren Voreltern ererbtes Gesetz, und so kam es denn, dass den ganzen Herbst und Winter hindurch während der Nächte ein tolles, abenteuerliches Treiben auf den Inseln der Westsee heimisch war. Auch in dieser Beziehung scheinen die ohne alle Frage kecksten Bewohner aller nordfriesischen Inseln, die Sylter, den Ton angegeben zu haben. Ich muss dies annehmen, weil man nur, so viel ich erfahren konnte, auf Sylt sehr genaue Überlieferungen von dem Treiben der damaligen Jugend besitzt, bisweilen auch wohl noch heutigen Tages jene überlustige Vergangenheil durch nachahmende Versuche zurückzuzaubern wagt.

Berühmt und berüchtigt zugleich waren die „Halfjunkengänge.“ Diese Sitte der Nordfriesen hat jedenfalls gleichen Ursprung mit den Kiltgängen der Schweizer, dem Korteln und Fenstern mittel- und norddeutscher Stämme. Die jungen unverheirateten Seefahrer pflegten mit einbrechender Nacht den Schönen des Landes abendliche Visiten abzustatten und dabei sich Herzen zu erobern. Allein bloße Galanterien genügten dem an wildere Szenen gewöhnten Seefahrer nicht. Deshalb war es Aufgabe aller wahren Halfjunkengänger, nach abgestattetem Besuche bei den aufblühenden Schönheiten der Heimatinsel den Rest der Nacht unter wilden Tänzen, ausgelassenen Scherzen, bei Gesängen und Gelagen möglichst ungestüm zu verbringen. Die Halfjunkengänger waren die Erfinder eines eigentümlichen nordischen Karnevals. Oft artete diese nationale Nachtschwärmerei leider in blutige Szenen aus, und die übermütigen Neckereien hatten ein tragisches Ende. Die Sylter wissen gar manche Geschichten von tollen Halfjunkengängen zu erzählen, die Mord und Totschlag, ja sogar grausame Hinrichtungen zur Folge hatten, weil manche in den herumschwärmenden Nachtläufern Hexen zu sehen glaubten, welche später vor Gericht gezogen und wegen mangelnden Beweises ihrer Unschuld zum Feuertode verurteilt wurden.

Die Tollheiten der Halfjunkengänger alter Zeit sind zur Sage geworden, die Sache selbst aber lebt, was ihren eigentlichen Ursprung betrifft, ohne Zweifel auf den friesischen Inseln noch fort. Eine gewisse Freiheit des Verkehrs der Geschlechter unter einander hat sich, wenn das mir Erzählte auf Wahrheit beruht, bis auf unsere Tage erhalten, und ich gestehe, dass mir dieselbe als Zeichen schöner Sittenreinheit erscheinen wollte. Die jungen Friesinnen tanzen gern, wenn sich nur irgendwo Gelegenheit dazu findet. Auch öffentliche Zusammenkünfte zum Behufe dieses geselligen Vergnügens fehlen nicht. Die jungen Leute beiderlei Geschlechts finden sich dazu in einem Wirtshause ein, ein paar Musikanten werden aufgetrieben und der Tanz beginnt. Es wurde mir wiederholt erzählt, dass bei solchen öffentlichen Tanzvergnügungen auf Sylt eine allerliebste Sitte noch jetzt herrschend sei. Es soll nämlich der Mann, der ein Mädchen zum Tanze aufzieht, nicht nur das Recht, sondern die Verpflichtung haben, der jugendlichen Partnerin vor Beginn des Tanzes wie nach dessen Beendigung die frischen Lippen zu küssen. Wer dies unterließe, würde — so versicherte man mich — nicht bloß anstoßen, er würde sogar beleidigen. Weiß ich nun auch nicht, ob sich die Sache genau so verhält, so kommt sie mir wenigstens wahrscheinlich vor. Denn auch auf der letzten roten Felsklippe des ehemaligen umfangreichen Nordfriesland, auf dem meerumtobten Helgoland gab es noch vor zehn bis zwölf Jahren einen ganz ähnlichen Gebrauch. Die eingeborene Holgoländerin, die im „roten Wasser“ einem jungen Manne den Arm zum Tanze reichte, gestattete gern, dass ihr Partner sie heimgeleiten und sich mit flüchtigem Kusse von ihr verabschieden durfte. Man hält in diesem fernen Ende deutscher Welt demnach noch fest an dem guten deutschen Sprichworte: „Einen Kuss in Ehren kann Niemand verwehren.“

Sylt - Friesenhaus in Keitum

Sylt - Friesenhaus in Keitum

Sylt - Friesenlandschaft

Sylt - Friesenlandschaft

Sylt - Insel aus der Vogelperspektive

Sylt - Insel aus der Vogelperspektive

Sylt - Seestudie

Sylt - Seestudie

Sylt - Stammhaus der Uven

Sylt - Stammhaus der Uven

Sylt - Westerland

Sylt - Westerland