Einleitende Betrachtungen

Wenn Einer heute wiederkäme, der vor hundert Jahren gelebt hat, so würde er angesichts der Entwickelung, welche die Dinge genommen haben, nach meinem Dafürhalten unfehlbar den Verstand verlieren, sofern sein Gehirn nicht aus einem Stoff von ungewöhnlicher Elasticität konstruiert wäre. Denn die Welt hat unter dem Einfluß der modernen Kultur eine Gestalt angenommen, Verhältnisse ausgebildet und Einrichtungen geschaffen, über welche sogar Leute in großen Prozentsätzen verrückt werden, die nicht, wie Herr West in Bellamys socialem Roman, 113 Jahre lang geschlafen haben, sondern zwischen Schnellzuglokomotiven und Telegraphenstangen aufgewachsen sind. Im Vergleich zu früheren Kulturperioden ist die Entwicklung, während der letzten fünfzig Jahre, auf allen Gebieten mit Eilzuggeschwindigkeit fortgeschritten, und im gleichen Maße sind die Menschen umgekrempelt worden. Der biedere Spießbürger, wie ihn Goethe im Faust so ergötzlich schildert, ist eine Erscheinung, welche der Periode der Stellwagen angehört. Die Leute von heute sind anders geartet, der moderne Zeitgeist hat ihnen „das Zeichen des Verkehrs“ aufgeprägt. In den Dienst des Verkehrs hat sich die neuere Technik mit ihren ungeheuren Hilfsmitteln vorzugsweise gestellt; eine Erfindung jagt die andere, und was der rastlose Menschengeist an Kühnheit der Entwürfe, Menschenwitz im Raffinement der Vervollkommnung zu leisten vermögen, hat sich vereinigt in dem Bestreben, das Reisen hinsichtlich Bequemlichkeit, Gefahrlosigkeit, Schnelligkeit und Billigkeit der Grenze des Erreichbaren nahe zu bringen. Vor hundert Jahren galt eine 20 Meilen weite Reise als waghalsiges Unternehmen, welches wochenlange Vorbereitungen erforderte, den kühnen Abenteurer veranlaßte, einen Notar zur Testation des letzten Willens zuzuziehen und sich bis an die Zähne zu bewaffnen gegen alle die Fährlichkeiten, welche Gut und Leben des unternehmenden Reisenden bedrohten, sobald er im Postwagen, auf holperiger Chaussee, das Weichbild der Vaterstadt verlassen hatte.

Im Zeitalter des Dampfes und der Elektricität sind diese Verhältnisse samt und sonders auf den Kopf gestellt worden. In die Ecke eines gepolsterten Eisenbahncoupees gedrückt, saust heute der Reisende durch die regnerische Sturmnacht, wohlgeborgen gegen alle Unbilden der Witterung, und schimpft in allen Tonarten, wenn der durch die Lande rasende Kurierzug das hundert und mehr Meilen entfernte Reiseziel mit einer Viertelstunde Verspätung erreicht. Jawohl, das Reisen ist gegen früher leicht, bequem und billig geworden; kein Wunder, daß sich heute alles unterwegs befindet, was über das nötige Kleingeld verfügt, und daß ein großer Teil der Kulturmenschheit im Kreislauf der Entwickelung wieder zum Nomadentum zurückgekehrt ist. Der Unterschied zwischen dem Nomaden und dem modernen Touristen ist, nach meiner Auffassung, durchaus kein grundsätzlicher, sondern nur ein durch die Verhältnisse bedingter. Der Wandertrieb des Nomaden ist durch das Reisefieber des Touristen ersetzt worden. Statt einer Viehherde führt der Nomade der Neuzeit einen Kofferpark mit, und statt eine lebensmüde Kuh eigenhändig zu präparieren, läßt er sie sich im Hotel als Beefsteak vorsetzen.


Das Reisefieber zählt neben Nervosität, Influenza, Lyssa velocissime (Radlertollwut) u. a. zu den charakteristischsten Kulturkrankheiten. Die Krankheit tritt epidemisch, gewöhnlich in den Sommermonaten auf und äußert sich im Inkubationsstadium durch Unzufriedenheit mit den heimischen Bierverhältnissen und eifriges Studium des Andree’schen Handatlas (große Ausgabe), welcher später durch Hendschels Telegraph ersetzt wird. Der von der Krankheit Befallene kauft sich ein dickes Rundreiseheft, jagt Tag und Nacht, während der Hundstagshitze, auf Schnellzügen und Dampfern über Land und Meer, schläft in miserablen Hotelbetten oder in dumpfen Kojen, räsonniert über Kellner und Hausknechte, fängt mit Droschkenkutschern Händel an und ist von der Wahnidee geplagt, daß er sich auf einer „Vergnügungsreise“ befinde. Diesen Höhepunkt des Krankheitsprozesses kennzeichnen zahlreiche „Postkarten mit Ansicht“, welche nach allen Richtungen der Windrose in die Welt fliegen.

Der Heilungsprozeß wird begünstigt durch lange Hotelrechnungen, und als sicheres Symptom der Genesung tritt ein allmähliches Abschwellen des Geldbeutels in Erscheinung.

Von diesem gemeinen „Reisefieber“ unterscheidet sich in mancher Hinsicht die in Jägerkreisen von Jahr zu Jahr zunehmende Neigung, den heimischen Revieren Valet zu sagen und mit der Büchse nach ausländischen Jagdgründen zu ziehen. Mit der gewöhnlichen Wanderlust des alle Gebirgspfade unsicher machenden Touristen haben diese Jagdreisen schon deshalb nichts Verwandtes, weil sie nicht unternommen werden, um etwa die gähnende Langeweile einer Ferienperiode auszufüllen. - Ich bin vielmehr geneigt, diese Jagdreisen als eine Form der Entwickelung des Waidwerks anzusehen, wie sie mit der Zeit ganz allgemein werden wird. Die vielgerühmte Kultur, welche in den Augen philosophisch denkender Menschen nur als eine große, mit allgemeinem Zerfall endigende Krankheit erscheinen kann, wird dem Waidwerk im Laufe der Zeit, vielleicht rascher, als wir es ahnen, gründlich den Garaus machen. Welcher Jäger kann daran zweifeln, der mit unbefangenem Blick den Gang der Dinge verfolgt? Dem Schicksal, welchem die Rot- und Schwarzwildbestände verfallen sind, wird der Rehstand im Bereiche der Kultur sicherlich nicht entgehen. Heute schon ist in gut besetzten Rehrevieren die loyalste, willigste Wildschadenregulierung nicht mehr ausreichend, den Bestand vor vernichtenden Abschußdekreten zu schützen. Ich behaupte, daß die deutschen Jäger ihre Büchsläufe für immer einölen und ins Futteral versenken werden können, noch ehe die Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts abgelaufen ist.

Den kommenden Generationen wird, sofern sie Hochwild jagen und die Büchse führen wollen, nichts übrig bleiben, als unseren zahmen, überkultivierten Jagdgründen den Rücken zu kehren und ferne Länder aufzusuchen, welche noch nicht in dem Maße von der Kultur beleckt worden sind wie die Gebiete der „übertünchten Höflichkeit“.

Diese Entwicklung der jagdlichen Verhältnisse ist heute schon deutlich erkennbar. Die Zahl der ausländische Jagdgebiete aufsuchenden deutschen Jäger nimmt mit jedem Jahr zu, und es läßt sich voraussehen, daß diese Jagdreisen in demselben Maße ganz allgemein werden, in welchem einerseits die inländischen Hochwildbestände sich verringern und anderseits die Erkenntnis durchdringt, wie leicht, unter den heutigen Verkehrsverhältnissen, selbst größere Reisen ohne übermäßigen Kostenaufwand auszuführen sind.

Seit etwa sechs bis acht Jahren sind es hauptsächlich die Elchreviere Norwegens, welche das Interesse der deutschen Jägerwelt in hohem Grade gefesselt haben. Eine große Anzahl deutscher Waidgenossen hat bereits die nordischen Jagdgründe besucht, um dort die riesenhafte Hirschart, welche, wie ein Vermächtnis der Vorwelt, in die alles Urwüchsige vernichtende Kulturperiode der Neuzeit hereinragt, mit der Büchse in der Hand aufzusuchen.

Bekanntlich ist das Elchwild, mit Ausnahme des geringen Bestandes Ostpreußens, in den europäischen Kulturländern völlig ausgerottet worden. Schweden und Norwegen sind die einzigen Gebiete, welche vermöge ihrer naturwüchsigen Verhältnisse dem reckenhaften Wilde, voraussichtlich noch für längere Zeit, geeignete Standorte gewähren können. Der Elch flieht instinktiv jede Berührung mit der Kultur und entwickelt sich zu seiner vollen ursprünglichen Stärke nur dort, wo die jungfräuliche Wildnis, von keines Menschen Hand entweiht, sich endlos ausdehnt.

In dieser Hinsicht bietet das nördliche Norwegen dem Elchwild geradezu ideale Lebensbedingungen, und seit der Staat durch das Mittel einer verbesserten Jagdgesetzgebung der Vertilgungswut eingeborener und fremder Schießer enge Schranken gezogen hat, haben sich die norwegischen Elchbestände in erfreulicher Weise gehoben. Es darf behauptet werden, daß ganz besonderes Jagdpech oder auch Ungeschick dazu gehören, wenn der Jäger heute in den Revieren bei Namsos nicht eine Anzahl Elche wenigstens zu Gesicht bekommt; in den meisten Fällen wird er auch Gelegenheit finden, zu Schuß zu kommen.

Ich glaube jedoch nicht fehl zu gehen, wenn ich behaupte, daß die Elchjagd allein nicht der Anziehungspunkt für die nach Norden ziehenden Jäger ist. Mehr noch als der Wunsch, einen oder auch mehrere der nordischen Recken zu fällen, dürfte der Ruf der eigenartigen landschaftlichen Schönheiten des meerumspülten Felsenlandes die Reiselust wachrufen. Und dieser Ruf ist ein wohlbegründeter, denn was Norwegen dem Naturfreund bietet, ist eine Fülle von abwechselungsvollen Scenerien, wie sie nach meinem Dafürhalten kaum ein zweites Land aufzuweisen vermag. Die Anmut der Schwarzwaldlandschaft paart sich daselbst mit der gigantischen Pracht der Alpenwelt; im Nordland aber packen den Beschauer die an außerirdischen Ursprung erinnernden Bilder der arktischen Natur. Die Wogen des Oceans zerstäuben an grotesken Granitfelsen, und blaugrüne Gletscher steigen zum Meer herab. Jawohl, es sind unverlöschliche, großartige Eindrücke, die dort die Sinne fesseln und es erklärlich erscheinen lassen, daß der Touristenstrom, welcher sich über Norwegen ergießt, mit jedem Jahre zunimmt.

Die Mehrzahl der Besucher lernt allerdings das Land nur kennen, wie es sich vom Verdeck der nach dem Nordkap oder in neuerer Zelt nach Spitzbergen fahrenden, komfortabel eingerichteten Touristendampfer aus dem Auge darstellt. Um Land und Leute zu studieren, ist es nötig, den Annehmlichkeiten dieser schwimmenden Hotels Valet zu sagen; die Bekanntschaft der Wildnis im Innern des Landes aber, wohin keines Touristen Fuß reicht, macht allein der Jäger, und in diesen Verhältnissen ist die Erklärung für den Umstand zu suchen, daß, abgesehen von einzelnen Schilderungen in Jagdzeitschriften, die Litteratur wenig oder nichts über den im Urzustande befindlichen Teil des Landes berichtet.

Der nördliche Teil Norwegens, jenseits des 64° n. Br., unterscheidet sich in vielfacher Hinsicht erheblich vom südlichen. Dieser ist beinahe durchgängig kultiviert und bewohnt. Die Landschaft gewinnt hier hauptsächlich durch die tief in die Küste einschneidenden Fjords. Jedoch erscheint das südnorwegische Landschaftsbild trotz seiner unbestreitbaren Anmut ganz entschieden zahm gegenüber der wilden Romantik des Nordlandes und den ungeheuren Gebieten, die so dünn bevölkert sind, daß sie als Wildnis angesehen werden müssen. Keine Eisenbahn, kein Telegraph verbindet jene Einöden mit der Kulturwelt; kein Hotel öffnet seine gastlichen Pforten dem müden Wanderer, der sich in jene endlosen Steinwüsten und wilden, mit Urwald bestandenen Thäler verirrt hat!

Eine schmale, schlecht gepflegte Straße ist im besten Falle alles, was an Menschenhände erinnert. Viele Stunden weit kann der Fremdling wandern, bis er auf ein einsames Blockhaus oder einen Hof trifft, die auf der Karte allerdings volltönende Ortsnamen führen. Ringsum breitet sich die Pfadlose Wildnis aus, deren erhabene Ruhe nur durch das Rauschen des im selbstgeschaffenen Bett thalwärts strömenden Flusses gestört wird! - Nein - für Touristen ist das Nordland nicht geschaffen!

Und dennoch waltet über jenen wilden, kulturlosen Gebieten ein eigenartiger Zauber voll Poesie und Romantik, der den Reisenden, welcher einmal in seinen Bann geraten war, für immer gefangen hält!

Deshalb scheint mir das nordische Wunderland wohl des Versuches wert, ihm durch Wort und Bild einen Platz in der Litteratur zu sichern und es in seiner eigenartigen wilden Schönheit durch die Darstellung der Feder und den Stift des Künstlers dem Auge des Lesers nahe zu bringen.

Um zur Bereicherung der in unserem „tintenklecksenden Säkulum“ ohnehin wohlgemästeten Litteratur beizutragen, habe ich allerdings die nordischen Jagdgründe nicht aufgesucht. Jagd- und Wanderlust haben mir vor zwei Jahren den Stab in die Hand gedrückt, und erst jetzt ist mir der Gedanke gekommen, die Erinnerung an die herrlichen Tage, wo ich mit der Büchse in der Hand, in ungebundener Freiheit, die Urwälder und Fjelds des Nordlandes durchstreifte, mittels der Feder festzuhalten. Wenn ich bei diesem etwas egoistischen Versuch, die unauslöschlichen Eindrücke jener Reise zunächst für mich selbst aufzufrischen, gewissermaßen die Zeichnung mit Farben zu überziehen, meinen Freunden einige Stunden der Unterhaltung bieten und den nach Norwegen ziehenden Jägern nützlich sein können sollte, so ist dies thatsächlich alles, was ich von diesen Blättern zu hoffen wage.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Durch norwegische Jagdgründe