Von Kopenhagen nach Christiania

Kopenhagen, das ich in zwölf Jahren nicht gesehen hatte, fand ich fast noch mehr verändert als unsere deutschen Residenzstädte. Das große, früher etwas wüste Kongens Nytorv hat durch den Bau des neuen Theaters, des Hotel d'Angleterre, vor allem durch die Anlage eines Square's ein ganz neues Aussehen erhalten. Es sitzt sich „meget behageligt'“ auf den breiten Bänken mit Rückenlehnen im Schatten der schönen Laubbäume, während der ganze Platz von Fußgängern wimmelt, die Wagen der Pferdebahn (Sporvei) fast in jeder Minute ankommen und nach allen Richtungen der Windrose zu der Peripherie der weit ausgedehnten Stadt fahren. Hinter uns mäht man den frischgrünen Rasen, wässert man die unvergleichlich schönen Teppich-Beete. Selbst das hässliche bleierne Reiterstandbild in der Mitte des Square's — gewöhnlich ,,Hesten“, das Pferd, genannt — beleidigt, halb verdeckt, kaum noch unser Auge. Die Charlottenburg im Osten, neben dem schiffebelebten Nyhavn, weckt Erinnerungen an Thorwaldsen; vor dem Theater erblicken wir die Statuen der beiden größten dänischen Dichter: Adam Öhlenschläger und Ludwig Holberg, beide allerdings mit deutschen Namen, der letztere dazu ein Norweger. Steht doch die ganze dänische Dichtung zum größten Teil auf deutschen Füßen; haben sie doch ursprünglich ihre Bildung, selbst ihre bürgerliche Kultur von Deutschland empfangen, ebenso wie Norwegen, wo der ganze Bürgerstand ein ursprünglich deutscher war, und es zum großen Teil noch jetzt ist. Holberg drückt das in seinem ,,Peder Paars“ mit den Worten aus:

„Da tog sig i vor Bye en velfornemme Krämmer,
Hvis Far og Mor var Jyd?k, men Farfar var en Bremer.
(Da kam in uns're Stadt ein angesehener Krämer,
Dess Eltern jütisch zwar, Großvater aber Bremer.)"


Wir wollen indessen nicht übersehen, dass auch die deutsche Kultur eine halb romanische ist.

,,All bildning står på ofri grand til ?lutet,
Blott barbariet var en gång fosterlänskt (Tegnér.)
(Der Boden der Kultur war immer unfrei.
Die Barbarei nur war einst national.)“


Eine bedeutende Fortsetzung von Kongens Nytorv im Süden bildet die Holmenstraße mit mehreren großen neuen Hotels und dem prachtvollen Gebäude der Nationalbank| das, wie ich später erfuhr, ganz einem italienischen Palast nachgebaut ist. Das kastellartige Erdgeschoss, bestimmt zur Aufnahme der Baarvorräte und Depositen, die großen romanischen Bogenfenster in der oberen Etage, das weit vorspringende Dachsims, die feine Färbung machen das Gebäude zu dem schönsten Kopenhagens. Vertieft man sich in das neue Häuserviertel links, das mit seinen geraden, wenn auch etwas monotonen, Straßen an die Stelle des früheren Häusergewirrs getreten ist, so trifft man in der Havnegade (Hafenstraße) die im venetianischen Palast-Stil erbaute Navigationsschule. Auf der Straße selbst zeugen aber die frisch aufschießenden Platanen für den vegetationsfreundlichen Charakter des seeländischen Insel-Klimas. Es liegt hier etwas Englisches in der Natur. Auch die Kastanien- und Lindenbäume im Park des Rosenborgschlosses haben sich zu einer Größe und Pracht entwickelt, dass der Sonnenstrahl kaum noch hie und da den Boden erreicht. Vor zwanzig Jahren konnte man noch aus den breiten Avenuen die rötliche Rosenborg mit ihren graziösen Türmen erblicken, heutzutage erhält man nur hie und da einen verstohlenen „Glimt“ dieser Perle der Renaissance, deren holzgetäfelte Säle und reiche historische Sammlungen unübertroffen dastehen.

Weiter hinter der Rosenborg haben sie auf den Wällen und Bastionen der alten, nur zum Teil abgetragenen Festungswerke einen großen botanischen Garten angelegt mit Palmenhäusern und anderen Zurüstungen, welche dem Publikum alle offen stehen. Man hat es hier verstanden, statt die Wälle abzutragen, die Gräben auszufüllen und eine einförmige Ebene herzustellen, aus den gegebenen Elementen einen reizenden Park zu bilden, in dem Höhen mit Tiefen abwechseln, einzelne Hügel eine weite Aussicht gewähren, und selbst durch Aufhäufung von Steinen ein künstlicher Felsboden geschaffen ist, in dem nun allerlei Fett- und Gebirgspflanzen vortrefflich gedeihen. Das Publikum bewegt sich in diesen Anlagen mit einem Anstand und einer Stille, der uns Deutschen zu denken gibt. Man spricht leise mit einander, oder liest die bei den Bäumen und Pflanzen angebrachten Täfelchen. Es ist mir in Dänemark dieser durch alle Klassen gehende Sinn für Anstand und Trieb nach Bildung stets sehr auffallend gewesen. Sie kennen ihre Geschichte bis ins Kleinste, interessieren sich für Politik und verstehen jede noch so feine Anspielung. Zitiert man einen ihrer Dichter, sie wissen nicht bloß die betreffende Stelle; sie setzen das Ausgesprochene fort. Namentlich ist dieses mit Holberg der Fall, von dem ein neuerer norwegischer Dichter (Welhaven) mit Recht sagt: „Das Salz, welches er dem geistigen Nahrungssafte des Volkes beigemischt, werde seine reinigende und erfrischende Wirkung niemals verlieren“.

Für einen, der aus den großen deutschen Städten kommt, ist es erstaunlich, mit welch freundlichem Wohlwollen man sich auf der Straße bewegt und dem Fremden begegnet. Es ist wahr, ich habe vor sechzehn Jahren um vieles häufiger die Entschuldigung: ,,Om Forladelse!“ gehört. Mancher stutzte jetzt wohl, wenn ich ihn deutsch anredete, aber die Antwort hat mir niemand verweigert. Setzte ich dann die Unterredung dänisch fort, so verklärte sich förmlich sein Gesicht Es ist mir vorgekommen, dass gebildete Männer mir gerührt die Hand gedrückt haben, blos weil ich mich für ihre Verhältnisse, ihre Literatur interessierte und zu ihnen dänisch redete, wenn auch mit „norsk Udtale“ (norwegischer Aussprache). „Wir hassen durchaus nicht den einzelnen Deutschen“, sagte mir bei einer solchen Gelegenheit ein Däne, „Sie werden es uns aber nicht verdenken, wenn wir keine Sympathie für die deutsche Nation als solche und noch weniger für die deutsche Regierung hegen.“ In der Tat braucht man nur in der Christiansburg die großen Schlachten-Bilder aus dem schleswig-holsteinischen Krieg anzusehen, die sonntags stets von Hunderten umstanden werden, um eine Vorstellung davon zu erhalten, was in der Seele dieses tief gedemütigten Volkes vorgeht. Damals waren sie die Sieger. Den ganzen Grimm über das Verlorene hat einer ihrer begabtesten Dichter, Holger Drachmann, in einem unter dem Titel „Derovre fra Grændsen“ (Von jenseits der Grenze) erschienenen Buche niedergelegt. Man sang damals viel eines seiner Lieder, in welchem die die dänischen Mädchen in den abgetretenen Gebieten dem Deutschen nichts als ihren Hass und statt der Rosen — Nesseln in Aussicht stellen.

Seltsames Geschick, das diesem Dänenlande zuteilgeworden ist. Seit Christian IV., d. i. seit dem deutschen dreißigjährigen Kriege, befindet sich das Dänen-Reich, das einst Schweden und die ganze Ostsee beherrschte, in einem dauernden Niedergang.

Es verliert erst die südschwedischen Provinzen (1658), später Norwegen (Frieden von Kiel 1814), zuletzt sein Piedestal: die Herzogtümer (1864). So ist es gekommen, dass die Größe der Hauptstadt in keinem Verhältnis mehr steht zur Größe des Landes. Es ist der Kopf eines Riesen auf dem Körper eines Zwergs, dergleichen man auf Karikaturen sieht. Das einst allmächtige Haupt will seine dominierende Stellung nicht aufgeben; das Land sieht sich bedroht, fürchtet aufgesogen zu werden: dies ist der eigentliche Kern des Streites zwischen der dänischen Regierung, welche sich auf die konservative Hauptstadt stützt, und der Landbevölkerung, welche unter dem Namen „Forenede Venstre'“ (Vereinigte Linke) die demokratische Kammermehrheit bildet. Eine ähnliche dominierende Stellung nimmt in Schweden die „Landmannapartiet“ ein, während in Norwegen die Partei der „Bondevenner“ (Bauernfreunde), zu der auch der Dichter Bjornson gehört, gar die Republik und Trennung von Schweden als ausgesprochenes Ziel verfolgt.

Der Hass gegen die Deutschen nimmt mancherlei Formen an. Die gebildeten Eltern, welche selber fertig deutsch sprechen, verleugnen diese Kenntnis und lassen ihre Kinder nur noch im Englischen und Französischen unterrichten. Wird eine Bekanntmachung in mehreren Sprachen veröffentlicht, so nimmt das Deutsche sicherlich die letzte Stelle ein. In Tivoli hat man Mozarts Büste zwar den Ehrenplatz eingeräumt; aber alle anderen deutschen Komponisten, selbst Schubert und Beethoven, müssen mäßigen Komponisten der Italiener und Franzosen nachstehen. Dass man im Seebade Klampenborg im Sommer deutsche Lustspiele aufführt, ist nur eine Ausnahme, da dieser Ort in neuerer Zeit sehr stark von Deutschen besucht wird, ebenso wie Marienlyst bei Helsingør.