Dr. Joseph Rècamier

Nachruf auf einen außergewöhnlichen Arzt
Autor: Morgenblatt für gebildete Leser. Jahrgang 52, Erscheinungsjahr: 1852
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Arzt, Gynäkologe, Recamier, Medizin, Frauenheilkunde
Wenn Doktor Recamier nur ein Arzt von außerordentlicher Begabung und ungewöhnlichem Ruf gewesen wäre, so hätte ich wahrhaftig nicht daran gedacht, Sie von dem kürzlich verstorbenen Manne zu unterhalten, und den Fachblättern dessen Würdigung überlassen. Aber Recamier war nicht bloß durch sein seltenes Genie, durch sein Glück in der Heilkunst und seine zahlreichen Entdeckungen in der Heilkunde merkwürdig, er war nicht bloß der Retter zahlloser Kranken und der Erwecker, wenn ich so sagen darf, von manchem, den die ersten unter seinen Genossen schon aufgegeben hatten und der schon als entschlafen betrachtet wurde; Recamier war in vielen andern Beziehungen eine ganz außerordentliche Natur. Wenn er als Arzt die Bewunderung der Mit- und Nachwelt verdient, so verdient er als Mensch ihre Verehrung. Es waren ihm aber auch diejenigen Gaben, wodurch man die Herzen für sich einnimmt und an sich fesselt, in hohem Grad verliehen, und kann man von irgend einem der Zeitgenossen behaupten, es sei an ihm das Ideal der hellenischen Welt, das Kalokagathon zur Wahrheit und Fleisch und Blut geworden, so kann man es von Recamier sagen. Recamier ist eine Gestalt, die in das Gebiet des Schönen gehört, und deshalb wage ich es, Ihnen seine Silhouette vorzulegen.

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Schon sein Äußeres verriet einen Menschen, den die Natur bestimmt hat, sich über seines Gleichen zu erheben. Ich sah und sprach ihn wenige Monate vor seinem Tode. Er war ein mehr als siebenundsiebzigjähriger Greis, allein trotzdem, dass sein Alter sich in dem Ton der Stimme, in der Farbe des Gesichtes und einer gewissen unmäßigen Dürre des ganzen Körpers aussprach, so schien er von einem jugendlichen Hauch getragen und umweht; er schien Jüngling und Greis zugleich, jenen lenzigen Wintern ähnlich, deren die gesegnetsten Zonen unserer Erde sich erfreuen. Wie, sagte ich mir, wie muss er erst als Jüngling gewesen sein! und da ich wusste, dass Recamier ein unterwürfiger Sohn der Kirche und durch eine Frömmigkeit, wie sie von wenigen Laien geübt wird, ausgezeichnet sei, so dachte ich an jene lichten Boten des Allgütigen, denen die christlichen Völker den schönen griechischen Namen Engel gegeben haben, und was ich seitdem von Recamier vor und nach seinem Tode gehört, bestätigte dieses Wagnis meiner Phantasie.

Recamier war hoch gewachsen und fein gebaut, weich, rund und ruhig in seinen Bewegungen, äußerst sparsam mit seinen Gebärden, aber wie der homerische Nestor, redselig, mitteilend, und, obgleich er, wie gesagt, weder mit seinen Armen noch mit seinen Beinen, weder mit seinen Achseln noch mit den Muskeln seines Gesichts sich viel zu schaffen machte, so schien er doch voller Leben und die Kraft seines Geistes war vollkommen wach. In seinem leuchtenden Auge wohnte ein wunderbares Sehvermögen, sein Blick war gleichsam auf der Lauer und von der Stirne bis zur Lippe lauschte sein kluges Antlitz. Da ich ihn über den allgemeinen Zustand meiner Gesundheit befragte, so kundschaftete er mich natürlich über das Sein und Tun meines Leibes und meiner Seele seit Jahren sorgfältig aus und warnte mich im Vorbeigehen vor gewissen Gewohnheiten, die ich ihm anzugeben vergessen hatte, deren ich mich aber, so wie er mir sie einmal zurückgerufen hatte, allerdings schuldig bekennen musste. Das tat er aber alles mit einer Zartheit und einer Schonung, mit einer Freundlichkeit und huldvollen Würde, dass ich die Schüchternheit, die ich mitgebracht, schon nach wenigen Minuten verloren hatte und vertraulich mit ihm sprach wie mit einem alten Freunde.

Diese herzliche Zuvorkommenheit rührte ohne Zweifel von natürlicher Güte sowohl als von der weltmännischen Bildung her, die Recamier schon durch seinen Verkehr mit den, was Schliff und Sitte angeht, geschultesten Teilen der Gesellschaft erlangen musste; aber es wirkte dabei wohl ein anderes Element mit, das überall, wo es nicht getrübt und verfälscht ist, größere Wunder tut als ein sanftes Gemüt und aristokratische Erziehung: es wirkte hierbei Recamiers frommer, religiöser Sinn, seine christliche Nächstenliebe gewiss bedeutend mit.

Diesen religiösen Sinn und diese Nächstenliebe, Recamier betätigte sie in jeder Weise. Er schämte sich nicht, an den Andachtsübungen, die den obern Schichten des heutigen Geschlechts, zumal den Männern, am fremdesten und bei den Freigeistern am meisten verrufen sind, sich öffentlich zu beteiligen und dieselben durch sein Beispiel, das Beispiel eines außerordentlichen Geistes in Schutz zu nehmen. Er legte überdies seine Frömmigkeit nicht bloß bei den gottesdienstlichen Handlungen der Kirche an den Tag, oder befriedigte sein Bedürfnis der Unterhaltung mit dem Ewigen im stillen Dunkel seiner Einsamkeit, nein, er zog das Gebet in den Kreis seines ärztlichen Wirkens und verklärte seine herrlichsten Triumphe über den irdischen Tod durch die Anrufung dessen, der auch für die Seelen die Gewalt des Todes überwunden hat. Mögen die, welche den Glauben Recamiers zu teilen nicht im Stande sind, einem Wohltäter der Menschen zu lieb mir die Sprache einer Anschauung gestatten, die sein Inneres erfüllte und ihn antrieb, an dem Glück von Taufenden zu arbeiten.—

Recamier hatte eben die Schwachheit, sich einzubilden, dass mit Gottes Hülfe die schwersten Dinge leichter würden, und als er eines Tags ein grässliches, tödliches Geschwür, das die sieben Weisen der Heilkunst für unheilbar, die gewandtesten Wundärzte, ohne den augenblicklichen Tod der Kranken herbeizuführen, für unabnehmbar erklärt hatten, anzugreifen im Begriffe war, ereignete sich folgende Szene. Alles war vorbereitet, die Werkzeuge lagen zurecht, die Gehilfen umgaben begierig und ängstlich den Meister, die Leidende erwartete die entscheidende Behandlung, Recamier selbst hatte das Messer schon ergriffen, da fiel er plötzlich auf die Knie, sprach mit bewegter Stimme: ,,O Gott, segne meine Arbeit!“ begann die furchtbare Hantierung, die er mit der ihm eigenen Sicherheit und Raschheit glücklich ausführte, und fand während des kurzen Verlaufs derselben noch Geistesgegenwart und Zeit genug, um seinen Gehilfen, Zuschauern und Zuhörern die Grundsätze, nach denen er zu Werk ging, und das Geheimnis des Gelingens zu entwickeln.

Solche Züge wurden jedoch nur in einem beschränkten Kreise bekannt, was aber der Welt nicht verborgen bleiben konnte, das waren die Werke seiner Nächstenliebe. Der Ruf davon verbreitete sich in kurzer Zeit nach allen Seiten, nicht als ob Recamier das Gute, das er tat, zur Schau getragen und selber laut verkündet hätte; allein es war zu umfangreich, zu viel- und weitverzweigt und seiner Natur nach zu sehr auf die Öffentlichkeit angewiesen, als dass es hätte verheimlicht werden können. Konnten die Armen, die er nicht bloß umsonst behandelte, sondern mit allem, was sie zu ihrer Heilung nötig hatten, ja oft mit Geld beschenkte, was ihnen so reichlich gespendet, was ihnen zum Teil nur vor aller Welt, in öffentlichen Krankenhäusern getan werden konnte, verschweigen oder verleugnen? War es den jungen Ärzten, denen er mit Rat und Tat beistand, eine Praxis verschaffte und bei ihrer Verheiratung eine Aussteuer gab, zuzumuten, dass sie den Namen ihres Wohltäters der Welt vorenthielten?

War es möglich, dass alle die weltlichen Hilfsvereine und geistlichen Gemeinschaften zur Linderung menschlichen Elends, denen er von den großartigen Erträgnissen seiner Kunst so namhafte Summen ununterbrochen überließ, seine Freigebigkeit nicht verrieten? Nein, das war unmöglich, und war es auch möglich, es wäre ein Unglück gewesen. Ein Leben wie das Leben Recamiers muss vor der Welt enthüllt und entfaltet, muss ein Stachel der Nacheiferung für die Gegenwart und die Zukunft werden. Von Paris sind in dem letzten halben Jahrhundert so viele ärgerliche Beispiele ausgegangen, dass in manchen Geistern der Gedanke mochte entstanden sein, es könnten nur schlimme Taten, böse Werke, verderbliche Vorbilder aus diesem Babel kommen, und darum auch schien es mir gut, einein Pariser wie Recamier vorstehende Skizze zu widmen.

Récamier, Joseph Claude Anthelm Dr. (1774-1852) französischer Professor, Gynäkologe

Récamier, Joseph Claude Anthelm Dr. (1774-1852) französischer Professor, Gynäkologe

Récamier, Joseph Claude Anthelm Dr. (1774-1852) französischer Professor, Gynäkologe

Récamier, Joseph Claude Anthelm Dr. (1774-1852) französischer Professor, Gynäkologe