Die ostjüdische Einwanderung in Deutschland nach dem Kriege.

Aus: Die Einwanderung der Ostjuden - Eine Gefahr oder ein sozial-politisches Problem
Autor: Kaufmann, Fritz Mordechai (1888-1921) Mediziner, Historiker, Publizist und Redakteur. Generalsekretär des jüdischen Arbeiterversorgungsamts in Berlin., Erscheinungsjahr: 1920
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Juden, Judentum, Ostjuden, Einwanderung, Einwanderer, Deutschland, Russland, Polen, Progrome, Gewalt, Krieg, Vertreibung, Wohnungsnot, Gründe, Not, Elend, Arbeitsplätze, Flüchtlinge, Solidarität, Glaubensfreiheit, Religion, Nächstenliebe, Wahrheitsliebe, Berichterstattung, Medien, Wahrheit, Öffentlichkeit, Kultur, Parteien, Gerechtigkeit
I. Die ostjüdische Einwanderung in Deutschland vor dem Kriege.

Aus den leidenschaftlichen Polemiken, die in der letzten Zeit gegen die Ostjuden in der Tagespresse geführt wurden, musste der unorientierte Beurteiler schließen, dass die ostjüdische Einwanderung in Deutschland eine Erscheinung jüngsten Datums sei. Demgegenüber ist daran zu erinnern, dass bereits viele Jahre und Jahrzehnte vor dem Kriege sich in verschiedenen Groß- und Mittelstädten Deutschlands Ostjuden in einer nicht unerheblichen Zahl niedergelassen hatten und hier längst Wohnrecht genießen. Die Kinder dieser Ostjuden hatten meist deutsche Schulen besucht und es lag lediglich an der zur Genüge bekannten vornovemberlichen Verwaltungspraxis, dass die Mehrzahl dieser dem deutschen Wirtschaftsleben namhafte Dienste leistenden Personen nicht schon längst naturalisiert sind. Diese Ostjuden waren die Träger des in den letzten Jahren vor dem Kriege immer reger werdenden Handels- und Industrieverkehrs zwischen Deutschland und den Ostländern. Sie haben große Gebiete des deutschen Imports (es sei erinnert an die Einfuhr von Eiern, Fischen, Holz, Leder aller Art, Pelzwaren usw.) erschlossen und dem Export aller Art von landwirtschaftlichen Maschinen, technischen Erzeugnissen usw. in das weite östliche Absatzgebiet erst die Wege gewiesen. Ein kleinerer Teil der Einwanderung erklärt sich aus den besonderen rituellen Verhältnissen der deutschen Juden, die traditionsmäßig seit langem sich Lehrer, Rabbiner, Thoraschreiber, hebräische Schriftsetzer und alle Art von Schriftgelehrten aus der ungebrochenen ostjüdischen Kulturgemeinschaft herzuholen pflegen. Im Jahre 1900 belief sich die Gesamtzahl der auf solche Art nach Deutschland eingewanderten Ostjuden auf 41.133, das sind 4,99 v. H. der fremdgebürtigen Gesamtbevölkerung. Die statistischen amtlichen Erhebungen des Jahres 1905 ergaben an Ostjuden: in Preußen 38.844, in Sachsen 10.360, in Hessen 1.787, In Groß-Berlin wohnten 1910 im ganzen 21.683 Ostjuden. Bei dem eigenartigen Gemeinschaftsgefühl, das die Ostjuden von jeher auszeichnet, nahmen die Zuwanderer in der Regel in den gleichen Straßen Wohnung, wo sie ihre Gebetshäuser und ihre primitiven sozialen Einrichtungen vorfanden, und wo sie außerdem gewiss waren, Leute aus der gleichen Heimatgegend bei den ersten Schwierigkeiten ihrer wirtschaftlichen Einordnung in die deutschen Verhältnisse hilfreich zur Stelle zu haben. Die Art ihrer Siedlung war nicht anders, als sie etwa in Amerika und den englischen Großstädten geschah.

Leider ist es der mit unbedenklichen Mitteln arbeitenden politischen Verhetzung in der letzten Zeit gelungen, es so darzustellen, als ob die Bildung von Straßenzügen, in Berlin und anderswo, mit ausgeprägt jüdischer Bewohnerschaft erst durch die sogenannte ,,Judenregierung" ermöglicht worden sei. Demgegenüber sei daran erinnert, dass die Straßenzüge in der Umgebung der Grenadierstraße bereits seit vielen Jahren in der Hauptsache jüdische Bevölkerung aufweisen und dass das Scheunenviertel durch den Zuzug dieser nüchternen, fleißigen und durch großen Familiensinn ausgezeichneten Elemente ein viel besseres Aussehen erhalten hat als zu der Zeit, da hier noch ein Tummelplatz der Zuhälter und Prostituierten war. In der alten deutschen Stadt Wien zählt die Ostjudensiedlung weit über 100.000 Personen. In London, mehr noch in New York, Washington, Cincinnati und vielen anderen amerikanischen Städten bestehen ebenfalls seit Jahrzehnten ganze Stadtviertel von zum Teil riesigen Umfang, die fast ausschließlich von Ostjuden bewohnt werden, ohne dass diese Wohnstätten in der amerikanisch-englischen Öffentlichkeit als „Eiterbeule" verschrien worden sind. Dieselbe Duldung und gerechte Wertung, die die Amerikaner der jüdischen Millionensiedlung zuteil werden lassen, kann man mit Fug und Recht auch von jedem gerecht denkenden Deutschen in Bezug auf die doch nur zwerghaften Judensiedlungen in einigen deutschen Großstädten verlangen.

Jedenfalls geht es nicht an, diese fleißige und arbeitsame Bevölkerung einiger Drohnen wegen, die sich ja auch unter christlichen deutschen Bevölkerungsschichten befinden, in ungerechter Verallgemeinerung wie ein lichtscheues und verbrecherisches Gesindel zu behandeln.

II. Die Einwanderungsverhältnisse während und nach dem Kriege bis Anfang 1919

Es wird vollkommen übersehen, dass während der Kriegszeit seitens der deutschen Behörden mit allen Mitteln, insbesondere mit hartem Zwang, wahllos viele Ostjuden, auch kleine Handwerker und Kaufleute, die irgendwie zu der geringsten körperlichen Arbeit noch geeignet schienen, nach Deutschland zur Arbeit in kriegsindustrielle Betriebe, Bergwerke usw. herübergeschafft wurden.

Der Vorwurf, der hier gegen die Militär- und Zivilverwaltung im besetzten Ostgebiet erhoben wird, ist nicht etwa parteimäßig bedingt, sondern das Gelindeste, was seitens aller kompetenten christlichen und jüdischen Fachleute, sowohl in den Reichstagsverhandlungen wie auch in der damals unterdrückten öffentlichen Meinung gesagt worden ist. Es sei hier verwiesen auf die lesenswerte Schrift des amtlichen Leiters der Jüdischen Abteilung bei der deutschen Arbeiterzentrale zu Warschau, Herrn Julius Berger, über „Ostjüdische Arbeiter im Kriege".*) Das Studium dieser Schrift ist für eine gerechte Beurteilung dieser Fragen unbedingt notwendig!

Diese großen, zwangsweise in Deutschland festgehaltenen ostjüdischen Massen wurden nach der Revolution, im Frühjahr 1919, infolge der verschiedenen Demobilmachungsbestimmungen zum großen Teil zwangsweise wieder in die Heimatsgebiete zurückgeschafft. Es ist erklärlich, dass ein Teil dieser Leute sich beim ersten Freiwerden der Grenze nicht ungern nach Hause begab, da viele von ihnen jahrelang von ihren Familien ferngehalten waren und trotz vertraglicher Zusicherung auch nicht den geringsten Arbeitsurlaub erhalten hatten.

So war etwa bis zum März des Jahres 1919, abgesehen von der alten eingesessenen Ostjudensiedlung, die temporäre Einwanderung ganz besonders aus den ehemalig russischen Weststaaten, beinahe völlig zurückgestellt,

*) Berlin 1919.

Wir kommen jetzt zu den Ursachen, die etwa seit dem Frühjahr 1919 zu einer, wenn auch zahlenmäßig geringen, Einwanderung führten.

III. Die Ursachen der jüngsten Einwanderung seit Frühjahr 1919

a) Die Zerstörung der polnischen Industrie als Einwanderungsfaktor.

Es ist überflüssig zu bemerken, dass diese Rückwanderer in den Ostgebieten eine Arbeits- und Verdienstmöglichkeit nicht mehr vorfanden. Über die meisten Gebiete, in denen sich Judensiedlungen befanden, war die Kriegsfurie wie eine alles zerstörende Lawine drei- und viermal hinweggebraust und hatte das wirtschaftliche Gefüge vollkommen auseinandergerissen. Die Wohnstätten waren zum größten Teil zerstört, alle Handelsverbindungen zerschnitten. Dazu kam die zu einem großen Teil gewiss unvermeidliche scharfe Praxis der Okkupationsbehörde, die leider durch viele obere und untergeordnete Organe bis zur Grausamkeit verstärkt wurde und die jüdischen Bevölkerungskreise mit ganz besonderer Wucht traf.

Auch dann, wenn man die Kriegsnotwendigkeiten im besetzten Gebiet für noch so gerechtfertigt und unabwendbar hält, wird kaum ein Deutscher, der auf die wirkliche Ehre des deutschen Namens Wert legt, sich zum Anwalt der auch aus Bergers Broschüre deutlich ersichtlichen tausendfachen, lediglich aus purem Judenhass erfolgten Quälereien und des damit in Verbindung stehenden Vernichtungswillens hergeben. Es sei nur erinnert an die Zerschlagung der Lodzer Webstühle, die den Zerstörungen im nordfranzösischen Etappengebiet nichts nachgibt. Jedenfalls ist zusammenfassend zu sagen, dass die Verantwortung dafür, dass jetzt Hunderte jüdischer Existenzen in Polen ihr tägliches Brot nicht finden, zu einem nicht geringen Teil der deutschen Okkupationsbehörde zur Last zu legen ist, und dass der moralischen Verantwortung für diese unmittelbaren Opfer der Verwaltungspraxis sich ein gerechtes Deutschland nicht ohne weiteres entziehen kann.

Wir stellen also fest, dass bei der durch den Krieg im Osten geschaffene Situation für diejenigen Arbeiter, die während des Krieges zwangsweise in Deutschland arbeiten mussten, ein ganz natürlicher Antrieb vorhanden war, die ihnen schon vertrauten deutschen Arbeitsstellen, wenn auch nur vorübergehend, zur Abwendung der schrecklichsten Not wieder aufzusuchen. Die praktischen Erfahrungen, die das „Arbeitsfürsorgeamt" und das als Arbeitsnachweis dienende „Jüdische Arbeiteramt" täglich machen, zeigen in der Tat, dass diese Rückwanderer einen nicht geringen Prozentsatz der seit dem Frühjahr 1919 nach Deutschland gelangten Ostjuden ausmachen.

b) Der systematische wirtschaftliche Boykott der Polen gegen die Juden.

Bei der öffentlichen Diskussion der jüdischen Einwandererfrage, die den unglücklichen Flüchtlingen leichthin das Beiwort ,,Schieber" und , „Aufkäufer" angehängt hat, werden die spezifischen, für Polen typischen Verhältnisse meistens vollkommen übersehen, oder aber es wird gegen die jüdischen Sachwalter der Vorwurf erhoben, sie suchten die Ursache der Immigration, die angeblich nur in der Profitsucht zu finden sei, zu fälschen und mit sentimentalen Redensarten zu verdunkeln. Demgegenüber sei betont, dass in Polen, nicht etwa erst seit dem Jahre 1918, ein ganz systematisch durchgeführter wirtschaftlicher Boykott eingesetzt hat, der nur mühsam hinter nationalistischen Schlagwörtern das eigentliche Motiv, nackte Profitgier, zu verdunkeln versucht. Die Herausdrängung der Juden aus dem Handel und Kleinhandwerk war bereits bis zum Jahre 1914 auf die mannigfachste Weise von polnischer Seite in Szene gesetzt worden, ohne damals zu ihrem eigentlichen Ziel, der. Vernichtung der wirtschaftlichen Basis der Juden, geführt zu haben. Dem befreiten Polen war es vorbehalten, mit viel brutaleren Mitteln als das frühere zaristische Regime diese Boykottbewegung mit öffentlichen Geldern zu organisieren und dort, wo die geschäftliche Tüchtigkeit den Juden noch einen geringen Schutz gewährte, sie mit brutaler Leibesbedrohung an ihrer Betätigung im Handel, im Gewerbe und in der Industrie zu hindern. Dazu kommt, dass sich der Hass gegen alles Deutsche nach dem Abzug der Okkupationsmacht ohne weiteres auf die da und dort von den deutschen Behörden benutzten und wegen ihrer Sprachkunde bevorzugten Juden entlud.

c) Die Pogromwelle im Osten.

Von deutscher Seite wird außerdem mindestens übersehen, dass ein Teil der Einwanderer tatsächlich nur deshalb seit der Mitte des Jahres 1919 über die Grenze gekommen ist, um buchstäblich das nackte Leben zu retten. Gewiss ist zuzugeben, dass nicht alle Zahlen über die bei den Pogromen im Osten Getöteten, Verstümmelten, Misshandelten und Vergewaltigten genau zu stimmen brauchen. Summiert man aber allein die Tatsachen, die sich bei der täglichen Abfertigung der ostjüdischen Flüchtlinge im jüdischen Arbeiterfürsorgeamt bewiesen haben, wo in zahlreichen Fällen Flüchtlinge ihre zerschlagenen und sogar zerschossenen Glieder vorzeigen konnten und im einzelnen von den Martern erzählten, denen ihre zum Teil hingemordeten Familien und Freunde ausgesetzt waren, so kann man diese Immigrationsursachen nicht mit der Gleichgültigkeit abtun, wie es von bestimmten Stellen getan wird, denen während der Kriegszeit jedes Mitgefühl für Menschenelend abhanden gekommen ist. Geschickt hat die polnische Regierung versucht, mit allen Mitteln hinwegzuleugnen, dass tatsächlich Pogromausschreitungen durch ihre eigenen Soldaten, durch den Mob der Intellektuellen, der Schullehrer, Schüler und Damen der besten Gesellschaft an den verschiedensten kleineren und größeren Orten — nicht etwa nur in Wilna und Lemberg — vorgekommen sind. Wenn jüdischen Greisen ihre Schläfenlocken und ihr Bart, Haar um Haar, in der entsetzlichsten Weise von dem gerade für Polen charakteristischen intellektuellen Mob ausgerissen wurde, so hat die polnische Regierung diese Marter als eine harmlose Belustigung hingestellt und gerade in der letzten Zeit versucht, die Pogrome als eine Ausgeburt ausgerechnet der deutschen Regierungspropaganda hinzustellen. Es würde zu weit führen, alle derartigen Manöver hier bloßzustellen. Nur eins mag zugegeben werden: Seit Ende 1919 hat der unmittelbare blutige, auf ganze jüdische Siedlungen losschlagende Pogrom sich, unter Einwirkung der alliierten Kommissionen, ein wenig abgemildert; die pogromartige Stimmung jedoch, die Vergiftung jeder Beziehung zwischen Juden und Polen, die systematische Schikanierung und Unterdrückung alles dessen, was zum Judentum gerechnet wird, ist geblieben. Nur so und aus der naturgegebenen pazifistischen Veranlagung der jüdischen Volksmasse erklärt sich die nicht unerhebliche Zahl von Militärflüchtlingen, die lieber ein Leben in der Verbannung auf sich nehmen, als dem barbarischen Militarismus der Polen und seinen imperialistischen Zielen zu dienen.

d) Die Stauung der Amerika-Emigration während der fünf Kriegsjahre,

Wer auch nur ganz primitiv mit den wichtigsten wirtschaftlichen und Siedlungsverhältnissen der Ostjuden vertraut ist, ganz gleich, ob es sich um russische, polnische, galizische und rumänische Juden handelt, der weiß, dass seit etwa dem Jahre 1880 (Beginn der kontinuierlichen, russischen Progromwellen und Verfolgungen) sich ein unaufhörlicher Strom von Ostjuden nach Nordamerika hinzog. Unter der in die Vereinigten Staaten von Amerika in den Jahren von 1880 bis 1914 stattfindenden Einwanderung von 21.862.694 Personen waren insgesamt 2.497.527 Juden, das sind 11,42 v. H. Davon kamen 1.592.1813 aus Russland, 240.000 aus Österreich-Ungarn, 59.416 aus Groß-Britannien, 62.813 aus Rumänien, 10.373 aus Deutschland und 532.740 aus anderen Ländern. Im Gegensatz zu den Wanderungen der slawischen und romanischen (süditalienischen) Völker handelt es sich bei dieser jüdischen Wanderbewegung nicht um Saisonwanderungen der Familienväter oder einzelner, lediger Personen, sondern um überseeische Wohnsitzverlegung ganzer Familien, An sich ist die Richtung dieser jüdischen Sippenwanderungen ziemlich eindeutig dahin festgelegt, dass die unter ökonomisch günstigen Bedingungen lebende amerikanische Zweieinhalbmillionen-Siedlung ein unübersehbares Netz von stark anziehenden Fäden beinahe in jede Familie des Ostens webt, so dass die zur Emigration gezwungenen oder besonders disponierten Schichten des jüdischen Ostens schon eine bestimmte Richtung haben. Es ist bemerkenswert, dass Deutschland für diesen Wanderungsstrom irgendwelche Anziehungskraft nicht ausüben kann, sondern in der Hauptsache als Etappenort dient (erinnert sei an die diesen Verkehr bewältigenden großen deutschen Schifffahrtslinien in Hamburg und Bremen). Nun hatte der Krieg große Massen, insbesondere von betagten und jugendlichen Angehörigen dieser in Amerika sesshaft gewordenen Ostjuden gezwungen, zunächst alle Übersiedelungswünsche zu unterdrücken. Die immer unsicherer gewordenen Verhältnisse in Osteuropa haben jetzt naturgemäß dazu geführt, dass, sobald der Verkehr mit Nordamerika aufgenommen wurde, die Familienangehörigen mit allen Mitteln versuchten, ihre im Osten befindlichen Verwandten nachkommen zu lassen. Auf diese Art und Weise gelangen auch jetzt eine große Zahl Durchwanderer nach Deutschland, die entweder bereits die Schiffskarten in Händen haben oder deren Eintreffen in Deutschland erwarten. Seitens der in Amerika befindlichen Ostjuden sind diese Bestrebungen — ihre Verwandten beschleunigt aus dem östlichen Chaos zu sich herüberzuführen — in einer beinahe mustergültigen Weise organisiert und zentralisiert worden und es ist nur eine Frage von Wochen, bis die in Betracht kommenden amerikanischen Organisationen die Überfahrt in großem Maßstabe bewerkstelligen werden. (Vergl. Seite 19.)

e) Palästinawanderung als weiterer Anlass für vorübergehende Immigration.

Ähnlich liegen die Verhältnisse bei denjenigen Personen, die bei der im Osten stark ausgeprägten Bewegung für Übersiedelung nach Palästina, ebenfalls nur zum vorübergehenden Aufenthalt, Deutschland passieren Bei der zu erwartenden Konsolidierung der osteuropäischen Verhältnisse wird diese Kategorie von Durchwanderern noch bedeutsamer in Erscheinung treten; ihr zahlenmäßiger Umfang ist schon heute, dank der Bemühungen, aus Palästina ein Einwanderungsland von steigender Kapazität zu schaffen, recht erheblich.

IV. Die Zusammensetzung der Immigranten:

a) Ihr unterschiedlicher Charakter als Durchwanderer, Passanten und in geringerem Maße als Immigranten von Dauer.

Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass ein zahlenmäßig nur ganz geringer Teil der Immigranten in Deutschland ein Aufenthaltsgebiet von längerer Dauer erblickt. Das sind in der Regel solche Personen, die unter der bereits vor dem Kriege hier ansässig gewordenen Ostjudenschaft nahe Verwandte haben und jetzt bei diesen vor den grauenhaften wirtschaftlichen und politischen Ereignissen im Osten Schutz und wirtschaftliche Stärkung suchen, während sich selbst unter den gelernten Arbeitern, die ohne Mühe im westdeutschen Industriegebiet lohnende Arbeit erhalten haben, und die zum Teil schon während des Krieges in Deutschland gearbeitet hatten, nach den Erfahrungen des Jüdischen Arbeitsamtes (Berlin, Monbijouplatz 1) — das mit seinen Zweigstellen als Arbeitsnachweis dient — eine offensichtliche Vorliebe für baldige Weiter Wanderung in die Westländer (Belgien, Frankreich) feststellen läßt,

b) Ihre Rekrutierung nach Heimatsgebieten.

Eine genaue Bearbeitung des nach dem Kriege gesammelten Materials liegt bisher noch nicht vor. Doch wird seitens des jüdischen Arbeiterfürsorgeamtes der Versuch gemacht, die zur Verfügung stehenden statistischen Angaben, schon jetzt wissenschaftlich auszuwerten. Auf der anderen Seite genügen aber bereits gewisse Stichproben, aus den von verschiedenen Seiten — insbesondere von dem Jüdischen Arbeitsamt — vorgenommenen Zählungen, um wenigstens annähernd über die Herkunft und die berufliche Zusammensetzung der jüdischen Einwanderer genaueres auszusagen. Von den sich in der zweiten Hälfte des Jahres 1919 beim Jüdischen Arbeitsamt meldenden etwa 6.000 ostjüdischen Personen gaben als Geburtsland an:

Polen 76,00%, Galizien 11,00%, Litauen 3,50%, Ostseeprovinzen 1,00%, Groß-Russland 6,00%, Ukraine 1,50%

Diese Zahlen zeigen deutlich, wie unbekümmert um die tatsächlichen Verhältnisse in der Öffentlichkeit gegen diese Flüchtlinge gehetzt worden ist. Man hat ihnen, ohne irgendwie daran zu denken, wie viel Rücksichtslosigkeit gerade von deutscher Seite darin liegt, den Namen „Galizier" wie ein Schimpfwort angehängt. Der Einsichtige müsste dieses Wort wie ein Ehrenwort behandeln. Wissen wir doch, wie unsagbar gerade die galizische Judenschaft durch die dauernd von jeder Richtung her über sie sich herwälzende Kriegslawine gelitten hat. Die neuerlichen statistischen Feststellungen des Arbeitsamtes zeigen, wie unbedeutend trotzdem diese nur allzu gut zu erklärende Immigration gegenüber der aus den polnischen Gebieten bleibt.

c) Ihre Zusammensetzung nach Berufen.

Die berufliche Gliederung der bereits erwähnten, bei dem Jüdischen Arbeitsamt gemeldeten Arbeiter, ergab folgendes Bild:

Landwirtschaft 3,69%
Industrie und Handwerk 68,30%
Handel und Verkehr 11,13%
Freie Berufe 2,62%
Verschiedene Lohnarbeiter ohne Angabe 14,26%

Man ersieht aus diesen Zahlen, wie stark der Krieg den Prozess der Produktivierung der jüdischen Massen, ihres Überganges von der Vermittlerei zu Arbeiterberufen, beschleunigt hat. Wenn man auch noch so kritisch diesen, meist auf (zwar genau kontrollierten) Angaben der Arbeitsuchenden, gestützten Zahlen gegenübersteht, lässt sich doch ohne weiteres erkennen, dass es sich hier nicht um eine Massenwanderung von Schiebern und Händlern, sondern von arbeitswilligen und arbeitsfähigen Proletariern handelt. Der Händler, der kaufmännische Angestellte sind hier ganz in der Minderzahl.

V. Versuch einer Dynamik der jüngsten seit Frühjahr 1919 einsetzenden Einwanderung

Aus den schon erwähnten Gründen lässt sich auch für die Statik der Einwanderung nur ein Annäherungswert angeben. Der Publikumsverkehr in den Fürsorgestellen der wichtigsten Grenzübergänge (Königsberg, Beuthen) und insbesondere bei dem Berliner Arbeiterfürsorgeamt und dem Arbeitsamt zeigt, dass in keinem Monat mehr als 2.500 Flüchtlinge die Grenze überschritten haben, so dass die Gesamtzahl der Immigranten, die während des Krieges und nach der Revolution zu den bereits in Deutschland vor 1914 ansässig gewesenen Ostjuden hinzugekommen sind, sich in ganz Deutschland auf etwa 60.000 bis 75.000 belaufen mag. Diese Zahl ist bei der Vorbereitung der Selbsthilfe, die von dem reorganisierten Arbeiterfürsorgeamt in Angriff genommen wurde, von den verschiedensten Seiten her als der Sachlage entsprechend zum Ausgangspunkt für die Finanzierung der Hilfsaktion angenommen worden.

Man vergleiche damit die Schreckzahlen, mit denen die reaktionäre und selbst ein Teil der liberalen Presse in der letzten Zeit aufgewartet hat. Wenn selbst ein so wohlwollender und liberaler Beurteiler dieser Fragen, wie der Direktor des Wohnungsamtes in Berlin, Herr Dr. Laporte, die Zahl der sich in Berlin unangemeldet aufhaltenden „Galizier" auf 50.000 angibt (was eine Gesamtzahl Gemeldeter von über 1.000.000 allein in Berlin bedingen würde), so kann man sich vorstellen, wie ein unmittelbar an der Entstellung interessierter Agitator diese Zahl ins Lügenhafte verzerren wird. Wie klein in Wirklichkeit die Zahl der sich unangemeldet aufhaltenden jüdischen Flüchtlinge ist, zeigten die verschiedenen Razzias in der Grenadierstraße usw., bei denen das eine Mal von 400 Festgenommenen im ganzen 17 zurückbehalten wurden, das andere Mal von 370 nur 5; auch von diesen waren die meisten angemeldet. Es ist unverantwortlich, wenn der Hass gegen diese östlichen Kriegsopfer weiterhin damit geschürt wird, die hereinbrechende „Einwandererflut" werde das deutsche Wirtschaftsleben in seinen Grundfesten erschüttern und dem deutschen Arbeiter Wohnung, Lebensmittel und Arbeit rauben.

Über die Dynamik der Immigration können zwar genaue Zahlen nicht beigebracht werden, doch lässt sich wenigstens aus der Veränderung der die Immigration bedingenden Verhältnisse ein ungefähres Bild über die Hebungen und Senkungen der Zahl herstellen: Die nordrussische Grenze ist den Emigranten nur etwa ein halbes Jahr passierbar gewesen, seit dem Spätherbst 1919 ist der Nordteil der Grenze, der für die litauischen und nordpolnischen Gebiete in Frage kommt, durch die Okkupation von Westpreußen, Posen usw. völlig gesperrt. Dazu kommt, dass in Litauen die Judenschaft, anders als in Polen, politisch nicht entrechtet ist; nur so ist es zu erklären, dass eine Einwanderung litauischer Juden zahlenmäßig überhaupt nicht mehr in Erscheinung tritt. Die Auswanderungsgelegenheit über die Osthäfen in die westlicher gelegenen Flussmündungen ist zudem praktisch undurchführbar, da die Kontrolle der Schiffe sehr streng und viel leichter durchzuführen ist, als jede Art von Grenzkontrolle. Es blieb also seit Herbst 1919 nur der Südteil der Ostgrenze, und es ist ohne weiteres klar, dass bei den steigenden militärischen Aushebungen, die die polnische Regierung Ende 1919 veranstaltete, und in der Zeit vor der Okkupation Oberschlesiens durch die Alliierten, die Einwanderung aus diesen Gebieten immerhin etwas erheblicher stieg. Der Kulminationspunkt ist, nach den genauen Berichten der Grenzfürsorgestellen etwa Mitte Januar bereits überschritten gewesen, da augenblicklich die Pass- und Grenzkontrolle durch die Alliierten scharf vorgenommen wird. Es erscheint daher auch technisch ausgeschlossen, dass in den nächsten Monaten für die Auswanderung neue Eingangspforten nach Deutschland zur Verfügung stehen.

VI. Versuch einer Prognose über den weiteren Umfang der Immigration

Es ist zuzugeben, dass jede Voraussage in östlichen Fragen nur mit größter Zurückhaltung unternommen werden kann. Der Sachverständige wird aber doch bestimmte Momente bei der Beurteilung der kommenden östlichen Ereignisse als richtunggebend ins Auge fassen können. Einmal wird augenblicklich mit für europäische Verhältnisse sehr großen Mitteln seitens der amerikanischen Ostjudenheit eine Hilfs- und Aufbauaktion ganz großen Stiles in den Ostgebieten vorgenommen. Der Schwerpunkt dieser Aktion ist der Notlage entsprechend in die polnischen und galizischen Gebiete verlegt worden. Bei dem Umfang der Hunderte Millionen Mark betragenden Mittel, die das vereinigte amerikanische jüdische Hilfskomitee zur Verfügung stellt, werden sich ohne Mühe Rohstoffe zur Wiederaufrichtung der jüdischen Wirtschaftszweige bald in den Osten bringen lassen, so dass an sich eine Hebung der ostjüdischen Kleinbetriebe und Gewerbe als sicher anzunehmen ist. Außerdem aber sagen alle Kenner der jüdischen Emigrationsverhältnisse eine starke Ostwärtsverschiebung der jüdischen Binnenwanderung im Ostgebiet voraus. Manche gehen soweit, Sibirien als das neue Judenland der Zukunft hinzustellen. Es ist Tatsache, dass, seitdem die russischen Aufenthaltsbeschränkungen gefallen sind, der ganze große Ansiedlungsrayon in Bewegung geraten ist, zum Teil schon gezwungenerweise, da große jüdische Gemeinden anfangs des Krieges bis an die sibirische Grenze von den Militärgewalthabern deportiert worden sind. Das Eintreten einer gewissen Entspannung der Verhältnisse in den russischen Randstaaten kann man mit ziemlicher Sicherheit für die nächsten Monate voraussagen.

Außerdem wird es ohne Zweifel gelingen, trotz manchen augenblicklichen Schwierigkeiten in Kürze einer bedeutenden Zahl von Ostjuden neue Siedlungsmöglichkeiten in Palästina zu schaffen, so dass auch der vorsichtige Beurteiler schon für die nächste Zeit ein Nachlassen des Wanderungsdranges nach Westeuropa und eine Verstärkung der Tendenzen der Ostwanderung entweder in Innerrussland und nach Sibirien hin oder auch nach Palästina als bestimmt annehmen kann.

Da demnach in Zukunft die Einwanderung von Ostjuden nach Deutschland nur eine geringfügige und abnehmende sein wird, ist es lediglich ein Organisationsproblem — das von dem jüdischen Arbeiterfürsorgeamt bereits bearbeitet wird — , dafür zu sorgen, dass bei den gespannten Verhältnissen der Wohnungs-, Ernährungs- und Arbeitslage in den Großstädten eine Dezentralisation der in die Großstädte gelangenden Flüchtlinge herbeigeführt wird. Diese darf, wenn sie gelingen soll, nicht in dem kleinlichen Geist polizeilicher Willkürakte geschehen, sondern muss durch möglichst rationelle, die deutschen Interessen nicht schädigende Unterbringung dieser zum allergrößten Teil arbeitswilligen und arbeitsfähigen Flüchtlinge in den für sie geeigneten Zweigen des deutschen Wirtschaftslebens geschehen, das in der letzten Zeit, besonders in dem westlichen und mitteldeutschen Industriegebiet einen steigenden Arbeiterbedarf aufwies.

In welcher Art das Arbeiterfürsorgeamt diese produktive Unterbringung und Dezentralisierung der Flüchtlinge vornimmt, wird nachstehend im zweiten Aufsatz gezeigt.

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