§ 106. Die neue antisemitische Reaktion und ihre Ursachen

Als nach der sinnlosen Schlägerei zweier der größten Kulturvölker, deutsch-französischer Krieg genannt, 1871 der Friede unterzeichnet wurde, wusste Europa noch nicht, dass gleichzeitig auch sein politisches Schicksal auf ein halbes Jahrhundert vorausbestimmt wurde. Diese Stunde, in der der Triumph der brutalen Gewalt besiegelt wurde, war die Geburtsstunde einer tiefgehenden politischen Reaktion, die noch gefährlicher war als die Reaktion, die dem Wiener Kongress von 1815 nachgefolgt war. Damals, nach der französischen Revolution und dem napoleonischen Kaiserreich, wurde eine „heilige Allianz“ von Monarchen gegen Völker, gegen die liberal-konstitutionellen Bestrebungen des Jahrhunderts geschlossen; aber drei Jahrzehnte darauf haben die Frühlingsgewässer von 1848 diesen Damm niedergerissen und in Mitteleuropa stabilisierte sich schlecht und recht eine konstitutionelle Staatsordnung, die auch den Juden die bürgerliche Emanzipation brachte. Bösartiger erwies sich die gesellschaftliche Reaktion, die nach dem deutsch-französischen Krieg entstand und zu Beginn der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts voll ausreifte. Sie wurzelte in dem Völkerhass, der zur Bildung zweier europäischer Koalitionen, des Dreibundes und des Zweibundes, führte, die von Kopf bis zu Fuß bewaffnet und jeden Augenblick bereit waren, sich aufeinander zu stürzen. In Europa blühte der Kultus des Militarismus auf. Die Staaten bestrebten sich, einander in der Vermehrung ihrer Armeen, der Erfindung und Fabrikation von Werkzeugen gegenseitiger Vernichtung zu überflügeln. Dies wurde durch den Wunsch, neuen Kriegen vorzubeugen, gerechtfertigt und als Zustand des „bewaffneten Friedens“ bezeichnet.

Der Marskultus wurde als Pazifismus vermummt, aber es fiel schwer, unter dieser Larve das Antlitz des blutgierigen Gottes zu verbergen. Der leibliche Bruder des Militarismus war der Imperialismus. Von der Gier nach kolonialer Macht beseelt, jagten die Großmächte um die Wette nach außereuropäischen Ländern und nach Erweiterung ihrer „Einflusssphären“. Der Kampf um die Welthegemonie erweckte gegenseitigen Hass und bereitete die blutige Ernte der Zukunft vor.


Dem äußeren Kampf entsprach vollauf ein innerer, der gleichfalls sich auf das Recht der Gewalt gründete. Innerhalb der militarisierten Länder bekämpften die souveränen Völker die kleineren Nationen im Namen einer falschverstandenen nationalen Einheit des Staates. Der Staatsnationalismus erstrebte eine Fusion der Fremdstämmigen mit der herrschenden Nation, ihnen Sprache, Schule und Kultur der letzteren aufdrängend, nicht anders als man einst den Andersgläubigen die herrschende Religion aufgedrängt hatte. Das gesunde Nationalgefühl artete in Chauvinismus aus. Zu diesem Innern Krieg der Nationalitäten gesellte sich das Ringen der Klassen, der Kampf zwischen Arbeit und Kapital, der sich immer mehr verschärfte, weil der Militarismus und die nationalen Zwistigkeiten die Aufmerksamkeit der Regierungen von großzügigen sozialen Reformen ablenkten, die. den Staat vor furchtbaren Erschütterungen hätten bewahren können. — So wurden auch jene Explosivstoffe vorbereitet, die 1914 die Katastrophe des Weltkriegs und darauf die Schrecken des sozialen und des Bürgerkriegs hervorriefen, deren Folgen heute noch schwer abzusehen sind.

Der Herd der „zweiten Reaktion“ war Deutschland. Der Sieg von 1870 ward ein verderbliches Gift für ein Land von höchster Geisteskultur, das sich nunmehr vom Kultus der „gepanzerten Faust“ hinreißen ließ. Der Zusammenschluss bis dahin losgelöster deutscher Staaten zu einem großen militärischen Reich unter der Führung Preußens steigerte hier das Prinzip der national-staatlichen Einheit bis zum Äußersten. Die „Staatsidee“ selbst wurde zu einer Art Fetisch. Der offizielle Historiker Preußens, Treitschke, entwickelte in seinem Buch ,,Politik“ den Gedanken, dass der Staat eine „Persönlichkeit“ darstelle, für die „die Sorge um die eigene Macht das höchste sittliche Gesetz“ sei; die Leugnung dieses Gesetzes sei eine „Lästerung des Heiligen Geistes“. Die frühere Vergöttlichung des Monarchen wandelte sich unter dem konstitutionellen Regime zu einer Vergöttlichung des Staates, der monarchische Absolutismus zum Staatsabsolutismus: Jede gesellschaftliche Gruppe habe ihre Individualität der Individualität des Staates zum Opfer zu bringen. Der Germanismus, die deutsche Kultur, sogar der „deutsche Geist“ seien für alle das Reich bevölkernde Nationalitäten verpflichtend. Auf dieser Grundlage begann die deutsche Regierung in der Person des Reichskanzlers Bismarck einen ,,Kulturkampf“ mit der kosmopolitischen Macht des Katholizismus, zu dem sich ein großer Teil der Bevölkerung (Bayern, Polen u. a.) bekannte. Der kirchliche Absolutismus des „unfehlbaren“ Papstes Pius IX,, der sich dem kaiserlichen Absolutismus in den Weg stellte, wurde von der Hand des eisernen Kanzlers zertrümmert. Die deutschen Katholiken mussten sich eine Beschränkung ihrer Autonomie in kirchlich-bürgerlichen Angelegenheiten (Maigesetze von 1873) gefallen lassen. Die deutschen Liberalen, darunter auch Juden, sympathisierten mit dem Kulturkampf als Triumph des weltlichen Prinzips über das kirchliche, über den Klerikalismus. Die Juden sahen nicht voraus, dass der eiserne Hammer, der die staatliche Einheit schmiedete, sie einst empfindlich treffen werde, so sehr sie auch bemüht sein mögen, sich dem Nationalkultus des vereinheitlichten Deutschland anzupassen.

Die Schaffung des Militärreichs traf zeitlich mit der endgültigen Anerkennung der bürgerlichen Gleichberechtigung der Juden auf dem Papier zusammen und diese hielten es für ihre patriotische Pflicht, das neue Regime zu unterstützen. Sie bemühten sich, den Stammdeutschen im Überpatriotismus, im Götzendienst der Großmachtidee nicht nachzugeben. Der langjährige Assimilationsprozess hatte bereits längst aus ihren Seelen das jüdische Nationalbewusstsein ausgerottet und es durch das Surrogat der religiösen Einheit ersetzt, die aber ihrerseits nach dem Zwiespalt zwischen den Orthodoxen und den Reformisten in den Gemeinden Abbruch litt. Nach innen ungeformt und zersplittert, gab das deutsche Judentum stets ostentativ seine national-politische Einheit mit dem deutschen Volke nach außen kund. Nachdem sie mit Mühe und Not die Stellung als Staatsbürger erlangt hatten, bemühten sich die Juden jeden Ranges zu beweisen, dass sie dieser Stellung würdig waren. Gleichzeitig bemühten sie sich natürlich, die Früchte der langersehnten Emanzipation zu ernten. Nach der Abschaffung der Rechtsbeschränkungen begannen die Juden, in früher für sie verschlossene Gebiete der wirtschaftlichen und sozialen Tätigkeit einzudringen. Vor der Handelsbourgeoisie tat sich ein breites Tätigkeitsfeld auf im Beginn der siebziger Jahre, als das durch die französische Kontribution reich gewordene Land vom Fieber des „Gründertums“ erfasst wurde. Die verschiedensten Aktiengesellschaften wurden gegründet, Eisenbahnen gebaut, Aktien verkauft und gekauft, ein tolles Börsenspiel entwickelte sich, — aber schließlich führte dieser Millionentanz zu einem Finanzkrach (1873), der eine ungeheure Anzahl von Aktienbesitzern aus dem Mittelstand ruinierte. Darauf begann man die Schuld auf die Juden abzuwälzen, die bei dieser Spekulation nur deswegen auffielen, weil sie überhaupt im Handelsstand relativ ragenden Börseanern und „Gründern“ viele christliche Namen, häufiger vertreten waren. (Tatsächlich figurierten unter hervorservativen Presse erhob sich ein Geschrei von der "goldenen auch solche von Notabeln. In der Gesellschaft und der kon-Internationale“, von einem angeblichen Bunde der jüdischen Kapitalisten aller Länder, der für Deutschland ebenso gefährlich wäre, wie die schwarze und die rote Internationale — die katholische Kirche und die Sozialdemokratie.

Eine andere Ursache der Unzufriedenheit bildeten die schnellen Erfolge der Juden auf hervorragenden Gebieten der staatlichen und sozialen Tätigkeit. Gebildete Juden, die in verschiedene Gebiete des Staatsdienstes und der liberalen Berufe eingedrungen waren, ragten dort oft dank ihrer Begabung hervor. Besonders fielen sie in der politischen Presse auf: die einflussreichsten liberalen Zeitungen, in denen oft die wunden Stellen des deutschen Lebens berührt wurden, wurden von Juden herausgegeben und hatten begabte Mitarbeiter jüdischer Abkunft, obschon diese den jüdischen Interessen allerdings vollkommen fremd gegenüberstanden („Berliner Tageblatt“, „Frankfurter Zeitung“ u. a.).

All das rief Unzufriedenheit und Unruhe in verschiedenen Klassen der deutschen Gesellschaft hervor. Die Agrarier und das Junkertum verachteten die neue Geldaristokratie, in der die Juden einen hervorragenden Platz einnahmen. Die Bureaukraten waren mit dem Eindringen jüdischer Beamten in ihre Kanzleien unzufrieden, obwohl die deutschen Regierungen die Juden nicht über die Mittelstufen der Diensthierarchie hinaufrücken ließen. Angehörige der freien Berufe aber — Rechtsanwälte, Ärzte, Professoren, Journalisten — wurden von der Angst vor der neuen Konkurrenz erfasst. Dort, wo die persönliche Konkurrenz mit dem politischen Parteikampf verwoben war, war die antijüdische Stimmung besonders stark. „Die Juden haben sich der gesamten Presse bemächtigt“, zeterten die Konservativen aller Schattierungen, die über die Volkstümlichkeit der liberalen Zeitungen verärgert waren. Die reaktionären und konservativen Blätter („Kreuzzeitung“, „Germania“) bemühten sich, die liberale Presse als „jüdisch“, als vaterlandslos anzuschwärzen, obwohl die jüdischen liberalen Journalisten in erzpatriotischem Geiste schrieben.

Der gesellschaftliche Antisemitismus entsprach vollauf den Tendenzen der deutschen Regierung. Nach dem Bruche Bismarcks mit der liberalen Partei, die ihn bei der Vereinheitlichung Deutschlands unterstützt hatte, wurde der Parlamentskampf gegen Liberale und Fortschrittliche mit äußerster Erbitterung geführt. Bismarck, der sich immer mehr den konservativen Parteien zuneigte, deren Stütze Kaiser Wilhelm I. war, Bismarck musste naturgemäß sich auch deren Taktik im Kampfe gegen Liberalismus und Demokratismus als „dem deutschen Geist fremde“ Bestrebungen zueigen machen. Er hatte es leichter, die Führer der liberalen Opposition im Reichstag, Richter und Rickert, zu bekämpfen, wenn neben ihnen die Juden Lasker undBamberger, ebenso unversöhnliche Feinde des eisernen Kanzlers, saßen. Die Regierung hatte es dabei nicht nötig, unmittelbar gegen die Juden vorzugehen, wie es im despotischen Russland oder Rumänien üblich war: es genügte, die antisemitische Propaganda nicht hintanzuhalten. Damit zugleich ergab sich auch eine Methode der Rechtfertigung für die häufigen Verletzungen der bürgerlichen Gleichberechtigung durch die Minister, die es vermieden, den Juden verantwortliche Staatsämter anzuvertrauen; in diesen Fällen stand stets eine Ausrede zur Verfügung: das Volk vertraue nicht einem jüdischen Beamten oder Richter. Der gesellschaftliche Kampf gegen die Juden leistete der Regierung aber noch einen weiteren Dienst: er lenkte die Aufmerksamkeit der kleinbürgerlichen und eines Teils der Arbeiterdemokratie von der sozialdemokratischen Bewegung ab, gegen die Bismarck mit grausamen Repressionen (die Gesetze von 1878) vorging.

In dieser vom Militarismus und Chauvinismus vergifteten Luft entwickelte sich eine neue Abart des jahrhundertealten deutschen Judenhasses, die den Namen Antisemitismus 1) erhielt. Das mit der „zweiten europäischen Reaktion“ verbundene neue Auflodern des Judenhasses offenbarte sich in Formen, die der antijüdischen Bewegung der Jahre 1815 — 1819, zu Beginn der ersten Reaktion (oben § 55), ähnlich waren. Damals traten die Judenhasser mit der Losung des „christlichen Staates“ auf, jetzt mit der des „Nationalstaates“, d. h. eines echt deutschen Staates, in dem die christliche Kultur als wesentliches Attribut hingestellt wurde. Es war kein Zufall, dass als Anstifter des neuen Feldzuges gegen die Juden der Hofprediger Adolf Stöcker erschien, der seine Agitation unter der Fahne der Religion entfaltete. Die von ihm im Jahre 1878 gegründete Christlich-soziale Arbeiterpartei bezweckte ursprünglich den Kampf mit den Sozialdemokraten. Von den höchsten konservativen Kreisen inspiriert, setzte der Hofprediger der sie gefährdenden Arbeiterbewegung seinen „christlichen Sozialismus“ entgegen, der sich aus dem Evangelium ableitete und mit Ehrfurcht vor Gott, Treue für den Kaiser und politischer Demut vereinbar war. Allein die Arbeiter verhielten sich der Stöckerschen Partei gegenüber ablehnend und sie musste bald von ihrem Schild das Wort „Arbeiter“ streichen und sich einfach „christlich-soziale“ Partei nennen. In diese Bezeichnung wurde jetzt ein neuer Sinn hineingelegt: man müsse das soziale Leben auf „christliche Prinzipien“ gründen, die unter dem verderblichen Einfluss des

1) Diese Bezeichnung kam zuerst 1879 auf, als Marr seine Schrift gegen den „Semitismus“ veröffentlichte und die „Antisemitische Liga“ gründete, wie unten dargelegt wird. Nicht alle Führer der antijüdischen Bewegung haben diese Bezeichnung sich gleich angeeignet, doch sie bürgerte sich von selbst ein als bequeme Bezeichnung für eine Bewegung, die nicht so sehr gegen die jüdische Religion als gegen die Rasse, Nationalität und Kultur der Juden sich richtete. Die sehr verbreitete Anwendung der Bezeichnung ,,Antisemitismus“ auf den Judenhass früherer Epochen ist ein Anachronismus, da die Vorstellung von den Juden als einem Zweige der semitischen Rasse, die sich von den Ariern unterscheide, ein Produkt der neuesten Zeit ist.

liberalen und demokratischen Judentums verkümmern, und deshalb müsse man das Judentum bekämpfen. Diese Predigt lockte zu Stöcker ein ganz anderes Publikum heran, als jenes, auf welches er früher gerechnet hatte: in die neue Organisation ließen sich Handwerker, Händler, Angestellte, Restaurant- und Bierhallen-Besitzer — überhaupt alle die Elemente des Mittelstandes anwerben, die vom mittelalterlichen Bürgertum mit seinen Innungen und Gilden die Missgunst gegen die Juden geerbt hatten. Vor diesem Publikum sprach Stöcker in Kirchen und Volksversammlungen davon, dass die Erlangung der bürgerlichen Gleichberechtigung den Juden zu Kopf gestiegen wäre, dass sie zu den Spitzen der Gesellschaft drängen, einen immer größeren Einfluss auf den Gang des Staatslebens erhielten, was in sich eine große Gefahr für das Deutschtum berge. Nachdem die Berliner liberalen Blätter die Agitation des Hofpredigers verspottet hatten, begann er auch die „jüdische Presse, die das deutsche Volk verderbe“, wütend anzugreifen. Die Juden, behauptete er, jagen ihren nationalen Geboten zufolge den materiellen Gütern nach; die semitische Rasse sei ihrer Natur nach der arischen, insonderheit dem deutschen Volke feindlich 1). In seinen andern Reden und Schriften aber verwarf er die rassenmäßige und religiöse Stellung der Judenfrage und betonte nur ihre „sozial-ethische“ Seite 2), Überhaupt zeichnete sich Stöcker als Ideologe weder durch Gedankenklarheit noch durch Konsequenz des Handelns aus, da er sich stets der Stimmung und dem Geschmack seiner Zuhörer anpasste. Ein schlauer Politiker, ein Emissär der Hofreaktionäre, durfte er seine hohen Gönner nicht durch eine vulgäre Agitation komprimittieren, drückte sich deshalb unbestimmt aus und bemühte sich nur, den Atavismus des Völkerhasses in den empfänglichen Seelen wieder zu erwecken. So verhielt er sich in den Versammlungen der Mitglieder der „Christlich-Sozialen Partei“, im preußischen Landtag und später im Reichstag (Stöcker wurde in den Landtag 1879, in den Reichstag 1881 gewählt). Der alte Kaiser Wilhelm I. und Bismarck förderten zweifellos die Agitation des Hofpredigers und sahen nur darauf, dass er die Sache nicht, bis zu einem öffentlichen Skandal trieb.

1) „Die Israeliten sind ein fremdes Volk und können nie mit uns eins werden, außer wenn sie sich zum Christentum bekehren.“ Stöcker, Das moderne Judentum, Berlin 1880, S. 39.

2) „Die Judenfrage“ — sagte Stöcker im Abgeordnetenhause in der Sitzung vom 22. November 1880 — „ist für mich keine religiöse, keine Rassenfrage, seitdem die völlige Emanzipation eingetreten ist, auch keine staatsrechtliche Frage mehr, sie ist eine sozial-ethische Frage. Die Frage wurzelt in der Religion, in der Rasse, im Staatsrecht, aber in ihrer Erscheinung ist sie eine sozial-ethische Frage von großer Bedeutung.“

Die lärmende Betätigung des Antisemitismus wurde hingegen unabhängigen, mit den offiziellen Kreisen nicht verbundenen Männern überlassen. 1879 trat namentlich der Agitator Wilhelm Marr auf den Plan, getaufter Sohn eines jüdischen Schauspielers, der selber früher dem Kreise der radikalen Journalisten angehörte, von dort aber wegen unfairer Handlungen hinausgewiesen wurde. Marr veröffentlichte ein Pamphlet mit dem Titel „Der Sieg des Judentums über das Germanentum“, auf dessen Titelblatt das Motto „Vae victis!“ prangte. Von dem Elend der „besiegten“ Germanen bedrückt, jammerte Marr in seiner Broschüre um Hilfe gegen die sieghaften Juden, Er betonte, die Judenfrage nicht vom religiösen Standpunkt betrachten zu wollen: für ihn sei sie vielmehr ausschließlich eine Rassenfrage auf historischer Grundlage. Ein ganzer semitischer Stamm, im Osten verhasst — sagt er — , wurde durch die Hand des alten Rom von Palästina losgerissen und nach Europa geworfen, wo er begann, die Einwohner systematisch zu unterjochen. Von Natur aus Materialisten, ihren religiösen Geboten zufolge die Fremdstämmigen hassend, entwickelten die Juden Handel und Industrie in Europa mit dem einzigen Zweck — sich des Reichtums und der Macht zu bemächtigen. Nachdem sie von der Rechtlosigkeit befreit worden waren, stürzten sie sich zuerst auf Deutschland und „verjudeten“ es. In ihren Händen liege das Kapital und die ungeheure Macht der Presse, die die öffentliche Meinung lenke; ihnen sei die deutsche liberale Partei Untertan, sie beeinflussten die gesetzgebenden Institutionen und würden bald die Tätigkeit der Regierung dirigieren. Die Juden hätten Deutschland unterjocht, wie einst die Mongolen China, allein die Mongolen verschmolzen mit den Chinesen, während die Juden, unfähig, sich andern zu assimilieren, bemüht seien, die Deutschen zu verjuden. Der Semitismus unterjoche das Deutschtum und, schließen die Deutschen sich zum Kampf gegen diese „sozialpolitische Gefahr“ nicht zusammen, so stehe das Ende Deutschlands (finis Germaniae) bevor. — Diese sozialpolitischen Phantasien, die von einem Manne herrührten, der zwar nicht selber betört war, aber andere betören wollte, machten Eindruck auf das ungebildete Publikum, das lautes Geschrei für den Beweis einer aufrichtigen Überzeugung hält. Marrs Pamphlet wurde viel gelesen und brachte es zu einer Anzahl von Auflagen. Auf dem Titelblatt seiner Broschüre forderte Marr seine Leser auf, Geld zwecks Herausgabe einer antijüdischen Zeitschrift zu sammeln, die er mit anderen deutschen Schriftstellern erscheinen lassen wollte. Diese Geldkollekte war offenbar das wesentlichste Motiv der Agitation des heruntergekommenen Journalisten, der aus dem Kreise der „verjudeten“ Presse hinausgeworfen worden war. Die gesammelten Gelder verwendete Marr auf die Herausgabe „Zwangloser antisemitischer Hefte“ (1880). Er begründete in Berlin auch die „Antisemiten-Liga“, deren Mitglieder sich verpflichteten, mit Juden keine Geschäfte zu machen, von ihnen nichts zu kaufen und ihnen nichts zu verkaufen. Bald taufte er die Liga zu Reklamezwecken als „Deutschen Reformbund“ um, der natürlich ebenso reformistisch wie Stöckers ,,christlich-soziale Partei“ sozialistisch war. In Berlin und anderen Städten sprossen antisemitische Gruppen hervor, wurden Proklamationen und Broschüren in Marrs Sinne gedruckt und in Bierkneipen antisemitische Reden gehalten.

Der Lärm der Straße drang auch in die Arbeitszimmer der Gelehrten, die es fertig brachten, aus ihm die „Stimme des Volkes“ herauszuhören. Zuerst fand die Agitation einen Wiederhall beim oben erwähnten Berliner Professor Treitschke, dem Ideologen des neuen, vom Geiste des Staatsnationalismus durchdrungenen Deutschland. Nur die groben Propagandamethoden der Antisemiten gefielen ihm nicht, im Wesen aber fand die neue Bewegung als Demonstration gegen die „jüdische Vergewaltigung“ seinen Beifall. Ende 1879 veröffentlichte Treitschke (in den von ihm herausgegebenen „Preußischen Jahrbüchern“) zwei Aufsätze, in denen er in wissenschaftlicher Form darlegte, was Marr in die Form eines Pamphlets gekleidet hatte. Das Judentum stellt, nach Ansicht des offiziellen preußischen Historikers, zweifellos eine Gefahr für Deutschland dar. Über unsere Ostgrenze — sagt er mit boshafter Ironie — dringen zu uns alljährlich aus dem unerschöpflichen jüdischen Reservoir in Polen Schwärme junger und unternehmender Hosenhändler, deren Nachkommen die Herren der deutschen Börse und der deutschen Zeitungen werden. Und immer ernster werde die Frage, ob dieses fremde Volkstum imstande sein wird, im deutschen Volke aufzugehen. Des weitern wird ausgeführt, dass die zugewanderten Juden keine Deutschen werden können, die einheimischen aber keine Deutschen werden wollen, sich nicht schlecht und recht als Deutsche fühlen wollen, sondern sich für eine den deutschen Gojim überlegene Rasse halten. Als Beweis werden die wenig ehrfurchtsvollen Worte des jüdischen Historikers Graetz über das Christentum und über die größten deutschen Männer von Luther bis Goethe und Fichte (anlässlich deren judenfeindlicher Ausfälle) angeführt. Am meisten fühlt sich der gelehrte preußische Chauvinist jedoch dadurch bedrückt, dass die Juden sich der Tageszeitungen bemächtigt haben und damit zu Leitern der öffentlichen Meinung geworden sind. Die liberalen und radikalen jüdischen Journalisten seien in die Fußstapfen ihres Erzvaters Börne getreten, der zuerst in die deutsche Journalistik die schamlose Art eingeführt habe, vom Vaterland ohne jede Ehrfurcht, gleichsam als Außenstehender, zu reden. Nach der Emanzipation drängten sich die Juden frech zu den ersten Stellungen hin und verlangten die Gleichheit in wörtlichem Sinne, wobei sie vergaßen, dass die Deutschen ein christliches Volk sind, in dem die Juden nur eine Minderheit bilden. Daher die natürliche Reaktion des deutschen Volksgefühls gegen das fremde Element, das im deutschen Leben einen allzu breiten Platz eingenommen habe. Die antijüdische Bewegung erfasse die verschiedenartigsten Schichten des deutschen Volkes. Alle diese Proteststimmen schmölzen zu einem Ruf zusammen: „Die Juden sind unser Unglück.“ Von der Abschaffung der Gleichberechtigung könne natürlich keine Rede sein, aber die Juden müssten sich besinnen und sich entschließen, echte Deutsche zu werden, statt die deutschen Hartköpfe in jüdische verwandeln zu wollen. In seinem zweiten Aufsatz lässt sich Treitschke über den Gegenstand noch unumwundener aus. Er bringt Zitate aus Graetz' Geschichte der Juden, stellt sie als Beanspruchung der Anerkennung der jüdischen Nationalität innerhalb der deutschen hin und ruft aus: „Auf einen solchen Anspruch muss jeder Deutsche, dem sein Christentum und sein Volkstum heilig ist, kurz ab erwidern: Niemals! Unser Staat hat in den Juden nie etwas anderes gesehen als eine Glaubensgemeinschaft ... er hat ihnen die bürgerliche Gleichberechtigung nur zugestanden in der Erwartung, dass sie sich bestreben würden, ihren Mitbürgern gleich zu sein . . . Beansprucht aber das Judentum gar Anerkennung seiner Nationalität, so bricht der Rechtsboden zusammen, auf dem die Emanzipation ruht. Zur Erfüllung solcher Wünsche gibt es nur ein Mittel: Auswanderung, Begründung eines jüdischen Staates irgendwo im Auslande . . . Auf deutschem Boden aber ist für eine Doppelnationalität kein Raum . . .“

Die ganze Tragödie des jüdischen Problems fand in diesen harten Worten Ausdruck. Hatte doch Treitschke formell recht: Würden die Juden in der Tat die Anerkennung ihrer Nationalität in Deutschland verlangen, so müssten sie der bürgerlichen Rechte verlustig gehen, die ihnen unter der Voraussetzung eines völligen Verzichtes auf die eigene Nationalität gewährt worden waren. Ungerecht war der neue antisemitische Ausfall allerdings, sofern assimilierte deutsche Juden sich aufrichtig für Angehörige nicht der jüdischen, sondern der deutschen Nation hielten und sich aus allen Kräften bemühten, es zu beweisen. Solche Nationalisten im Geiste wie Graetz stellten unter den Vertretern des deutschen Judentums in Wirklichkeit nur eine seltene Ausnahme dar; aber auch der große Historiker selber hätte es niemals gewagt, eine staatliche Anerkennung der jüdischen Nation zu verlangen. Das Tragische der Lage bestand eben in der verhängnisvollen Lüge des Jahrhunderts, durch die die Emanzipation bedingt wurde, in jenem Despotismus der herrschenden Nation, der auch im neuen Deutschland als legitim galt, die gewaltsame Germanisierung Posens zuließ, den Juden aber sogar unter der Androhung des Verlustes der Bürgerrechte verbot, sich für eine Nation zu halten. . .

Eine würdige Antwort hat der Ideologe dieses Nationalismus weder von den Juden noch von den freisinnigen Christen erhalten. Einer der besten Juden Deutschlands, Idealist und begeisterter Anhänger des ethischen Judentums, M. Lazarus, beantwortete die ersten antisemitischen Ausfälle mit der Erklärung, dass die deutschen Juden sowohl ihrer Sprache als ihrem Selbstbewusstsein nach Deutsche seien, die sich zum jüdischen Glauben bekennen, neben den katholischen Deutschen, die ja gleichfalls inmitten der Protestanten leben (oben § 89). Darauf erwiderte Treitschke, dass Protestantismus und Katholizismus als Zweige der christlichen Religion sich, im Deutschtum wohl vertragen können, während das Judentum letzterem organisch fremd sei. Der freisinnige Historiker Mommsen 1) andererseits warf zwar seinem Berliner Universitätskollegen Treitschke die Anfachung nationaler Leidenschaften im einigen Deutschland vor, stellte es aber als heilige Pflicht der Juden hin, sich im deutschen Volke vollständig aufzulösen. Er fand indessen, dass die deutschen Juden den Assimilationsvertrag ehrlich erfüllten, und setzte große Hoffnungen in die häufig gewordenen Ehen zwischen Juden und Christen: „Die Vorsehung hat weit besser als Herr Stöcker begriffen, warum dem germanischen Metall für seine Ausgestaltung einige Prozent Israel beizusetzen waren.“ Nur staunt Mommsen darüber, dass jene freidenkenden Juden, die ihre eigene Religion nicht anerkennen, nicht zum Christentum übergehen; ist doch das Christentum — betont er — heutzutage nicht dasselbe wie früher: es ist nur eine Bezeichnung für die europäische Zivilisation und der an letzterer Teilnehmende muss wenigstens formell auch am Christentum teilnehmen, will er nicht eine zwiespältige Stellung einnehmen. „Der Eintritt in eine große Nation kostet seinen Preis; die Hannoveraner und die Hessen und wir Schleswig-Holsteiner sind daran, ihn zu bezahlen;“ so müssten auch die Juden handeln, wollen sie anders nicht ein „Element der Dekomposition“ sein. — Anders konnte der Historiker des alten Rom auch nicht sprechen, der in seinem klassischen Werke das heroische Judäa, das in den Klauen des römischen Adlers zappelte, deswegen verurteilte, weil es sich nicht wie die andern Völker des Ostens vom Welträuber hatte verschlucken lassen.

*) In der Broschüre „Auch ein Wort über unser Judentum“, Berlin 1880.

Der beredteste und konsequenteste Ideologe des Antisemitismus war aber, der Philosoph Dühring, ein begabter Blinder, mit krankhaftem, leidenschaftlichem, am allerwenigsten „philosophischem“ Temperament. Gegen das ganze Judentum erbittert, weil einige seiner jüdischen Kollegen im Professorenrat der Berliner Universität bei seinem Ausschluss aus dem Dozenten Kollegium beteiligt waren, sprach sich Dühring wiederholt im Geiste des äußersten „organischen Antisemitismus“ aus. 1880 veröffentlichte er ein Buch „Die Judenfrage als Rassen-, Sitten- und Kulturfrage“. Das jüdische Volk ist nach Dührings Ansicht der schlimmste Zweig der semitischen Rasse, der bereits von Tacitus gegeißelt wurde, welcher dagegen die alten Germanen verherrlichte. Dieser schlechte Menschenstamm habe der Welt nichts Neues gegeben, sondern, im Gegenteil, alles andern Völkern genommen. Sein Zweck sei Weltherrschaft, Ausbeutung aller Völker, Ausnutzung aller politischen Situationen zum eigenen Vorteil. Die religiös-ethische Weltanschauung der Bibel stehe nicht nur unter dem Niveau des Hellenismus, sondern auch unter dem der altgermanischen Mythologie. Nichts wert sei auch das Schaffen der jüdischen Geister der neuen Zeit, mit teilweiser Ausnahme von Spinoza. Die Juden in der deutschen Literatur seien Radaumacher und Zyniker: so Börne, Heine, Marx; selbst der Philosemit Lessing sei ein literarisches Nichts und nur deswegen berühmt, weil die Juden für seinen Nathan den Weisen — der Idealisierung des Juden — laute Reklame gemacht haben. Die antisozialen Eigentümlichkeiten des Judentums schaden besonders in der Politik und der Presse. Deshalb müsse die nächste Aufgabe des Staates sein, die Juden aus den Staatsinstitutionen, der Presse, der Schule, dem Wirtschaftsleben zu verdrängen; ja, man müsse auch Mischehen verhindern, um die „Verjudung des Blutes“ zu vermeiden, und überhaupt zwischen Judentum und Deutschtum eine undurchdringliche Scheidewand aufrichten. — In solcher Weise entwickelte dieser offenbare Maniak, der die Manie der Verfolgung durch die Juden zu einer philosophischen Doktrin erhob. Stöckers, Marrs und Treitschkes Prämissen bis zu ihren ungeheuerlichen extremen Folgen und gelangte zu der doppelt antisemitischen Schlussfolgerung: dass auch eine vollständige Assimilation die Juden nicht retten würde, denn ihre Auflösung im deutschen Volke würde nur die Krankheit nach innen hineintreiben und die Teutonen in eine halbjüdische Rasse verwandeln. Der einzige Ausweg bestehe vielmehr nur darin, für diese „niedere Rasse“ ein neues ägyptisches Joch zu schaffen, die Juden zur Stellung von Parias herabzudrücken.

So wiederholte sich in Deutschland am Ende des neunzehnten Jahrhunderts dieselbe Bewegung, die dessen erste Jahrzehnte kennzeichnet, aber in schlimmerer und noch intensiverer Form. Rühs, Fries und Paulus standen in Stöcker, Marr und Treitschke wieder auf, Dührings tollwütiger Antisemitismus hat aber nicht einmal ein Analogon in der Vergangenheit (abgesehen von der Theorie des Pamphletisten Hundt-Radowski, oben § 55). Bald wiederholte sich auch der Hep-hep-Pogromruf des Jahres 1819 in den Ereignissen des Jahres 1881, das in der Geschichte der beiden Teile des europäischen Judentums, des westlichen und des östlichen, ein verhängnisvolles Datum darstellt.