Abschnitt. 6 - Ich hielt mich diesmal nicht lange in Venedig auf: ...

Ich hielt mich diesmal nicht lange in Venedig auf: die Stadt war nicht komplett. Es fehlte die Familie Naager. Wer meine „Sonderbaren Geschichten“ kennt, besitzt ein freundschaftlich verzerrtes Familienporträt von ihr in der phantastischen Satire „Schmulius Cäsar“. Nachdem ich sie dort mit dem Karikaturstifte gezeichnet habe, werde ich nicht umhin können, nächstens eine ernsthafte Chronik der Familie Naager herauszugeben. Das wird in Form einer Monographie über Franz Naager geschehen, das stärkste und reichste dekorative Talent unserer Tage. Es scheint aber, daß unsere Zeit die künstlerisch reichen Naturen nicht liebt. Sie zieht die Spezialisten vor, die „Richtung“ bedeuten. Franz Naager bedeutet Fülle, Verschwendung, Umfassen. Er ist schwer einzuordnen und auf eine bestimmte Manier festzulegen. Ein Form- und Stilgefühl sondergleichen vereinigt sich in ihm mit einer grundpoetischen Anlage voller Laune und Kühnheit. Aber es fehlt ihm alles Doktrinäre, und so denkt er gar nicht daran, sich an der Züchtung des „modernen Stils“ zu beteiligen. Er ist vielmehr dezidiert unmodern: in einem Grade, daß man seine Arbeiten neben den besten Erbstücken alter, echter: gewachsener, nicht gezüchteter Stile sehen kann. Also ein Imitator, Eklektiker? Es tut mir leid, dies bejahen zu müssen. Er ahmt die Alten nach, indem er gleich ihnen so frei ist, auf seine Weise Formen, die schon da sind, zu entwickeln, und er holt sich seine Anregungen aus allem Schönen, das seiner Natur gemäß ist. Das Resultat ist aber immer ein echter Naager: ein Stück, das keinem alten Stile angehört und auch nicht wie ein Stückwerk aus alten Meistern anmutet, sondern frisch und froh eine Meisterpersönlichkeit verrät, die gar nicht anders als originell sein kann, weil sie eine künstlerische Vollnatur ist. Es liegt mir ferne, die dekorativen Talente der Gegenwart mit Abschätzigkeit zu behandeln, obwohl ihre Bemühungen um einen modernen Stil für meinen Geschmack im günstigsten Falle die Erkenntnis geweckt haben, daß die sogenannten Biedermeier Leute von einem Geschmack waren, der sich modern sehr hübsch nüancieren läßt; ich habe auch allen Respekt vor denen, die so naiv sind, zu glauben, es ließe sich eine absolut neue Formsprache aus der Jungfernerde des genialen Gemütes emporkonstruieren, und die dabei, ziemlich logisch, dazu gelangen, sich das Lallen in Linien anzugewöhnen (was aber schließlich, wie alles Eintönige, langweilig wird): nur erscheint es mir als ästhetische Pflicht, auf die Existenz eines dekorativen Genies hinzuweisen, das ohne moderne Stilprätensionen Werke hervorbringt, die den ganzen Reiz von stilvollen Arbeiten der Vergangenheit haben und sich dennoch deutlich als Werke unserer Zeit manifestieren, – wenn auch nicht des Zeitgeistes, der jene Talente beherrscht. Naager hat Phantasie. Damit ist eigentlich alles gesagt. Er hat Einfalle. Er konstruiert nicht: er fabuliert. Aber er ist so sehr Mensch der Form, des Raumblickes, daß seine Linien und Flächen auch als solche empfunden und damit konstruktive Werte sind. Es kommt nur eben noch etwas hinzu: er gibt mehr als bloß Gerüst. Wer die Nüchternheit als das kennzeichnende Merkmal unserer Zeit preist und die Phantasie nur insoweit gelten lassen will, als sie sich bei technischen Erfindungen betätigt; wer dem Dogma der „Zweckkunst“ anhängt und also an eine „Kunst“ glaubt, die in einem äußeren Zwecke aufgehen kann (z. B. in dem, einen bequemen Stuhl zu bauen, was aber doch wohl nur insofern eine Kunst ist, als es nicht jeder kann); wer wirklich sein volles ästhetisches Genüge daran hat, an einem Gegenstande seine konstruktive Richtigkeit zu empfinden, und es gnädig nur zulassen will, daß diese „dekorativ“ betont werde; wer so bescheiden und (pardon) so gefühlskahl ist, daß er in der Kunst nicht mag, was in der Natur herrscht: den Ueberfluß, Ueberschwang, die Verschwendung: der wird an Naagerschen Arbeiten keine Freude haben. Es wird ihm gehen, wie dem Dresdener Bürgersmann, den ich vor einem Pariser Hutmodell in die Worte ausbrechen hörte: „So ä Unfug! Das is ja gee Hut mehr! Das is ä Blumentopp.“ So kann bei Naager ein Kamin ein Wintermärchen sein; eine Tapete eine Idylle; eine Wandbekleidung in Marmor ein byzantinischer Hymnus; ein Figurenfries eine holländische Humoreske; eine Vase ein Liebesgedicht; ein Vorsatzpapier eine Zärtlichkeit; ein Kachelfußboden kann vom Sommer, ein Wandbespannstoff von romantischen Abenteuern erzählen. Alles, was aus seinen Händen hervorgeht, spricht, singt, musiziert. Aber es ist immer die stille Musik echt dekorativer Kunst.

Hoffentlich führt er bald einmal wirklich aus, was ich ihm seit Jahren predige: daß er in Venedig eine Ausstellung seines künstlerischen Reichtums: eine Palastausstellung macht.


Schade, daß er diesmal, in Berlin für einen Auftrag des Kaisers beschäftigt, nicht in Venedig war, wohin er einzig gehört. Ich hatte mich so sehr darauf gefreut, mich über ihn zu ärgern. Andre Souveräne wechseln, wenn sie sich besuchen, Höflichkeiten miteinander; wir wechseln Grobheiten. Sein Lieblingswort ist Kretin. Ich ziehe Idiot vor. Man kann sich auch auf diese Manier sehr gern haben. Für solche Fälle gilt das M. h. M. durchaus nicht.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Yankeedoodlefahrt und andre Reisegeschichten (1)