Turgeniew in Deutschland

Schon öfters haben fremde Dichter erst in Deutschland ihre volle Anerkennung und Würdigung erfahren; erst unter uns ward ihr Weltruhm begründet. Wir Deutschen sind fast zu bereitwillig, fremde Talente zu feiern. Auch Turgeniew ist in Deutschland mit offenen Armen aufgenommen worden, die Kritik hat ihn auf das wärmste empfohlen, und seine Schriften haben unter uns weite Verbreitung gefunden. Und doch verdient er diese Auszeichnung um Deutschland gerade nicht besonders. Wie bei fast allen russischen Dichtern, finden sich auch bei Turgeniew zahlreiche Ausfälle, spöttische und verächtliche Bemerkungen gegen die Deutschen, welche er in der Regel als pedantische oder abstruse Köpfe, als geizige, schäbige, plumpe und philiströse Gesellen hinstellt.

Der Hass und die Verachtung gegen Deutsche ist bekanntlich in Russland allgemein und gewissermaßen eine Nationaltugend. Und die Gründe dafür sind nicht schwer zu finden. Die ganze Hof- und Militärkamarilla, die ganze Beamtenhierarchie besteht seit anderthalb Jahrhunderten zum größten Teil aus Deutschen. Ohne deutsche Minister, Statthalter, Generale, Polizisten, Spione und Beamte wäre Russland nicht geworden, was es heute ist. Die deutschen Beamten waren seit Peter dem Großen die eigentliche Seele der Verwaltung ; und da diese Verwaltung mit ihrem pedantischen Formalismus den Russen im tiefsten Herzen verhasst ist, so hat sich dieser Hass allmählich auf die Deutschen selber übertragen. Ferner fand von jeher in Russland eine starke deutsche Einwanderung statt, welche entweder den Russen verschiedene Erwerbsquellen schmälerte, Reichtümer und Einfluss gewann und dadurch Neid und Eifersucht -erregte; oder aber, wie jede Einwanderung, soviel der Volkshefe mit sich führte, dass der Charakter des Deutschen überhaupt stark kompromittiert werden musste. Genug, die Antipathie der Russen gegen die Deutschen ist nicht so unberechtigt; und es lag nahe, dass die russischen Schriftsteller der allgemeinen Gesinnung Ausdruck gaben, wenn auch nur, um dieser eine Konzession zu machen. Dass sie es stets aus eigner Neigung und mit voller Überzeugung taten, ist kaum anzunehmen, indem ihnen, als intelligenten Männern, nicht verborgen sein konnte, dass andererseits Russland auch wieder Verpflichtungen gegen Deutschland hat und ihm Dank schuldet. Hat doch Russland den größten Teil seiner Kultur und Bildung seit Jahrhunderten aus Deutschland bezogen, sind doch noch heute Deutsche die hauptsächlichsten Vertreter von Kunst und Wissenschaft in Russland, auf den verschiedensten Gebieten seine Lehrmeister, deren es noch immer nicht entbehren kann. Aber gerade das Bewusstsein ihrer Inferiorität und Abhängigkeit mag die Abneigung und den Widerwillen der Russen gegen die Deutschen nähren; sie reizen, diesen gegenüber einen lächerlichen Hochmut vorzustecken. Denn es ist über die Maassen lächerlich z. B. die Porträts zu sehen, welche russische Dichter von einem deutschen Kaufmann, deutschen Arzte oder deutschen Gelehrten entwerfen; zu sehen, mit welchem Dünkel ein russischer Seigneur auf einen Fremden deutschen Ursprungs herabblickt. Es ist lächerlich, weil uns Deutschen weder diese Steppenjunker noch diese Petersburger Aristokraten im Geringsten imponieren können, weil wir sie nach wie vor als Asiaten und halbe Barbaren betrachten, und wenn wir mit ihnen zusammentreffen, zunächst mit einer berechtigten Neugier nach ihrer Wäsche spähen.


Auch Turgeniew ist, obgleich er so viel und so lange in Deutschland gelebt und wiewohl er in dem Vorwort zur deutschen Ausgabe seiner Erzählung „Väter und Söhne" ausdrücklich sagt: „Ich verdanke zu viel Deutschland, um es nicht als mein zweites Vaterland zu lieben und zu verehren" — von solchen Vorurteilen und Bodomontaden nicht frei. Erst im „Bauch" hat er eine entschiedene Schwenkung gemacht, die wohl hauptsächlich auf Rechnung der Ereignisse von 1866 zu schreiben ist; und seinen Landsleuten ihre eigene Impotenz eindringlich vorgehalten, ihnen ausführlich dargelegt, wie der „faule Westen" fortfahre, Russland „auf allen Punkten zu schlagen", und wie die gewohnheitsmäßige Verachtung dieses „faulen Westens" nichts weiter als „Lüge und Phrase" sei. In Deutschland aber fragt man wenig darnach, ob ein fremder Autor uns wohl- oder übelgesinnt ist, ob er uns Vorurteile entgegenträgt oder Gerechtigkeit widerfahren lässt, sondern man schätzt ihn einfach nach seinen Leistungen. Und weil Turgeniew eben ein wirklicher Dichter ist, haben weder unsere Kritik noch unser Publikum an seiner Art, Deutsche zu zeichnen, Anstoß genommen, diese Karikaturen wohl kaum beachtet, sondern ihn bald zu ihrem Liebling erkoren.

Turgeniews erstes und bedeutendstes Werk „Aus dem Tagebuche eines Jägers" erschien in deutscher Übersetzung bereits 1854 (Berlin, Heinrich Schindler); den ersten Teil hat A. v. Viedert, den zweiten August Bolz übersetzt. Erst 1862 folgte „Das adlige Nest" („Ein Nest von Edelleuten"), übersetzt von Paul Fuchs (Leipzig, E. Kollmann, 2 Bände). Eine vortreffliche Übersetzung verschiedener Novellen, wie „Faust", „Erste Liebe", „Jakob Passinkow" etc., gab Friedrich Bodenstedt (München, Rieger'sche Universitätsbuchhandlung, 2 Bände, 1864 und 1865). Die letzte große Erzählung des Dichters ist 1868 zweimal ins Deutsche übersetzt worden: unter dem Titel „Dunst" von H. v. Lankenau (Berlin, Otto Janke) und als „Rauch" von Friedrich Cziesch (Mitau, E. Behre).

Endlich erscheint im letzteren Verlage seit 1869 eine deutsche Übersetzung von „Iwan Turgeniews ausgewählten Werken", eine vom Dichter selber autorisierte und von ihm mit einem Vorwort begleitete Ausgabe, worin er erklärt, dass er „die vollkommene Treue“ der Übersetzung „aufs Nachdrücklichste garantiere", und dann bemerkt: es sei dies „eine Genugtuung, die ihm noch selten oder auch wohl gar nicht zu Teil geworden 14 . Dünkt uns diese Äußerung, namentlich mit Rücksicht auf die Übertragung von Bodenstedt, auch ein wenig übertrieben und undankbar; so müssen wir doch die neue Übersetzung, als eine vervollständigte und einheitliche, freudigst begrüßen; und wir können sie aufrichtig und warm empfehlen. Der ungenannte Übersetzer ist ohne Frage beider Sprachen, der russischen wie der deutschen, gleich mächtig, und ein Mann von Bildung und Geschmack. Der Stil ist korrekt und elegant, die Ausstattung splendid, und der Preis ein angemessener. Bisher sind fünf Bände erschienen — 1. Band „Väter und Söhne"; 2. Band „Eine Unglückliche, das Abenteuer des Leutnants Jergunow, Ein Briefwechsel, Assja“; 3. Band „Kudin, Drei Begegnungen, Mumu"; 4. Band „Das adelige Nest, Drei Portraits" ; 5. Band „Visionen, Helene" — und diese fünf Bände sind auch bei der gegenwärtigen Abhandlung benutzt worden.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Russische Literatur und Iwan Turgeniew,