Würdigung der Kontinentalsperre in wirtschaftlicher Beziehung.

Wir wenden uns damit einer Würdigung der Kontinentalsperre in wirtschaftlicher Beziehung zu. Hier liegt bei dem derzeitigen Stande der Forschung die eigentliche Schwierigkeit. Das Tatsachenmaterial ist noch lange nicht genügend gesichtet und verarbeitet, um ein abschließendes Urteil zu ermöglichen. Aber wenigstens in großen Umrissen läßt schon heute eine zutreffende Vorstellung über die theoretische Begründung und über die handelspolitische Bedeutung der außerordentlichen Maßnahme sich geben. Es ist zuvörderst der alte Streit um Schutzzoll oder Freihandel, der bei der Erörterung auflebt. Die liberale Freihandelstheorie, die lange Zeit auch bei uns das große Wort führte, hat selbstverständlich die Kontinentalsperre in Grund und Boden verurteilt. Unzweifelhaft war es die grandioseste Übertreibung einer schutzzöllerischen Politik, die für Handel und Verkehr notwendig die lästigsten Begleiterscheinungen zeitigen mußte. Der Handel verlangt langfristige Verträge und gesicherte Verhältnisse. Die Kontinentalsperre hat in einer Epoche unerhörter politischer Umwälzungen und gewaltigster kriegerischer Erschütterungen, die schon an sich das ruhige Geschäft störten, jede kaufmännische Berechnung vollends illusorisch gemacht. Die nach allen Richtungen revolutionierte Geschäftslage reizte zu den waghalsigsten Spekulationen, bei denen ein kolossaler Spielgewinn erzielt werden konnte und oft genug erzielt wurde, aber die ebenso häufig zu den schwersten wirtschaftlichen Katastrophen führten. Sie förderte an einzelnen Stellen eine zum Teil überstürzte Entwicklung der Industrie, die ihrerseits bei den vielfach unsicheren Verhältnissen des Rohstoffbezugs wie des Absatzes auf schwankender Grundlage stand. Anderseits war die Handelssperre zwangsweise weiten Gebieten aufgenötigt, deren nächstliegende Wirtschaftsinteressen durch sie mehr geschädigt als gefördert wurden. Krisen schlimmster Art konnten gar nicht ausbleiben. Dazu der ungewöhnlich gesteigerte Antrieb zum Schmuggel, und demgegenüber Spionage und Denunziantentum, und endlich die tausend Unbequemlichkeiten für die Masse der Konsumenten. Man hat vor allem im Hinblick auf diese Begleiterscheinungen die Kontinentalsperre als ein Zwittergebilde charakterisiert, erzeugt aus frevelhafter Despotenlaune und nationalökonomischem Dilettantismus. Und man hat auch nach der wirtschaftlichen Seite hin einen vollendeten Mißerfolg Napoleons feststellen zu dürfen geglaubt.

Dieses abfällige Urteil bedarf meines Erachtens einer sehr sorgfältigen Revision. Eines ist dabei von vornherein zuzugestehen. Eine europäische Wohltat, wie Napoleon es wahr haben wollte, ist die Kontinentalsperre nicht gewesen. Napoleon hatte bei Verhängung der Maßregel die Auffassung vertreten, daß kein Staat das Recht habe, gegen Englands Seetyrannei und merkantile Zwangsherrschaft neutral zu bleiben. Er hat Englands Absicht dahin gekennzeichnet, das Festland merkantil und industriell von sich in Abhängigkeit zu halten. Darum läge ein gemeineuropäisches Interesse für den wirtschaftlichen Kampf gegen England vor. Die in diesem Kampfe zu bringenden Opfer würden hinterdrein durch die glücklichere Entwicklung der festländischen Industrie überreichlich eingebracht werden.


Darin steckt unzweifelhaft ein Kern von Wahrheit. Aber der von England ausgeübte ökonomische Druck wurde doch nicht auf dem ganzen Festlande in gleicher Weise fühlbar. Rußland und Skandinavien, die österreichischen Kronländer und die Hauptmasse der damaligen Provinzen Preußens waren überwiegend agrarisch charakterisierte Gebiete. Für sie war England der zahlungsfähigste Abnehmer ihrer Rohprodukte und der beste Lieferant von Fabrikerzeugnissen, die man selbst noch nicht herstellte. Man schädigte sich also selbst, wenn man den Verkehr mit England abbrach. Die Vorteile, die eine Vernichtung der englischen See- und Handelsherrschaft hätte bringen können, lagen in weiter Ferne und wurden jedenfalls momentan überwogen durch die schweren Nachteile, die man unmittelbar verspürte. Wir ermessen die ganze Schwierigkeit, diese kulturell noch rückständigen östlichen Bereiche in einen wirtschaftlichen Kampf mit England hineinzuzwingen, an dem Seufzer, der 1808 in einem Aufsatz Posselts in seinen Europäischen Annalen laut wird. Dieser begeisterte Vertreter der napoleonischen Ideen meint: ,,Alles würde anders und besser sein, wenn es bereits dahin gekommen wäre, wohin es schlechterdings einmal kommen muß, daß das Agrikulturinteresse einem höheren Interesse wiche. So lange alles in dem alten Geleise bleibt und der Landeigentümer, Edelmann genannt, die erste Rolle im Staate spielt, ist durchaus nicht an irgend ein Gedeihen zu denken.“

Posselt gehörte zu den überzeugten Verehrern des napoleonischen Genies. Er glaubte an die völkerbeglückenden Absichten des Imperators; er hoffte vor allem, Deutschland in diesem Zusammenhange auf eine höhere Kulturstufe gehoben zu sehen. Der Grundirrtum dabei war, daß er Napoleons gleißende Versprechungen auf Treu und Glauben hinnahm.

Napoleon dachte in Wirklichkeit gar nicht an die in Aussicht gestellte gleichmäßige Förderung der durch die Sperre zu schützenden industriellen Betriebsamkeit. Ein solcher Plan hätte schließlich eine weiterreichende Interessengemeinschaft mindestens derjenigen Festlandvölker zuwege bringen können, bei denen die Voraussetzungen für den Übergang zum Industrie- und Handelsstaat gegeben waren. Napoleon aber wollte im Grunde nur sein napoleonisches Reich in merkantiler Beziehung an Englands Stelle setzen. Auf St. Helena ist ihm das Eingeständnis entschlüpft: „Wenn ich nicht unterlegen wäre, so würde ich die Gestalt des Handels ebensosehr wie die Straße der Industrie geändert haben.“ Und alle seine wirtschaftspolitischen Maßnahmen lassen die Richtung der geplanten Veränderungen deutlich genug erkennen.

Es sollte der ökonomische Schwerpunkt Europas von London nach Paris verlegt werden. Zu dem Zwecke wird Frankreich mit hohen Schutzzöllen auch gegen die übrigen Kontinentalmächte ausgestattet, wird für Frankreich die weitgehendste handelspolitische Begünstigung in allen abhängigen Staaten durchgesetzt. Italien und Spanien werden gezwungen, Fabrikate französischen Ursprungs zu beziehen und ihre Rohstoffe nach Frankreich zu liefern. Überall wird Frankreichs wirtschaftliches Interesse einseitig und ungerecht bevorzugt.

Das war eine unehrliche Politik. Napoleon hat mit seinem Programm wirtschaftlicher Gleichberechtigung die Festlandvölker getäuscht. Kein Wunder, wenn sie ein besonders reges Interesse für die Aufrechterhaltung der Sperre nicht bekundeten, oder gar, wo es anging, der Durchbrechung heimlich Vorschub leisteten. Napoleon sah sich infolgedessen außerstande, seinen Befehlen allseitige Nachachtung zu sichern. Das hat das System empfindlich durchlöchert.

Nur für den engeren Kreis des napoleonischen Reiches hat die radikale Ausschaltung des englischen Handels und der englischen Waren sich einigermaßen erzwingen lassen. Und soweit das gelang, hat die Handelssperre zweifellos einige von den Wirkungen gezeitigt, die Napoleon erwartete und so zuversichtlich voraussagte.

Für Frankreich selbst und die unmittelbar zu Frankreich geschlagenen Gebiete wie Belgien oder die linksrheinischen deutschen Lande, denen die Vorteile der Ausschließung englischer Konkurrenz und zugleich die mannigfaltigsten fördernden Anregungen und Vorschubleistungen durch die napoleonische Regierung zuteil wurden, hat sich ein sehr bemerkenswerter Gewinn ergeben. Namentlich Frankreich hat trotz der unerhörten kriegerischen Anspannung wirtschaftlich sich gekräftigt und seiner Manufaktur die volle nationale Selbständigkeit errungen. Von den enormen Summen, die Napoleon als Kontributionen vom Auslande erpreßte, sind recht erhebliche Beträge zur direkten Unterstützung der französischen Industrie verwendet worden. Dazu der Schutz des strengsten Prohibitivsystems, zu dem Napoleon überging, und die Erschließung auswärtiger Märkte für die französische Produktion. Das alles hat rasche Früchte getragen. — Der französische Seehandel war allerdings ruiniert. Die französischen Kolonien, die für das Frankreich des 18. Jahrhunderts eine der wichtigsten Reichtumsquellen bildeten, waren dem Mutterlande entrissen. Die großen Hafenstädte Frankreichs sind arg heruntergekommen. Um so kräftiger setzte im Binnenlande der Aufschwung ein.

Einige wenige statistische Daten mögen das erhärten. Frankreich hat vor der Revolution für 25 Millionen Fr. Baumwollfabrikate eingeführt. Im Jahre 1812 war der Import auf 1 1/2 Million zurückgegangen. In der Zwischenzeit hatte aus sehr bescheidenen Anfängen eine blühende Baumwollindustrie sich entwickelt, die den heimischen Bedarf nahezu vollständig deckte. In Lyon hat die bereits vor der Revolution hochstehende Seidenindustrie im Jahre 1789 12.700 Arbeiter beschäftigt. Die Revolution reduzierte die Zahl auf 5.800; im Jahre 1812 waren 15.500 Arbeiter der Branche in Tätigkeit. In Nimes ist in dem gleichen Zeitraum die Arbeiterzahl von 3.450 auf 13.700 gestiegen. — Der Gesamtwert der industriellen Produktion Frankreichs hat von 1788 bis 1812 sich verdoppelt; er betrug im Jahre 1788 931 1/2 Millionen Fr., im Jahre 1812 hat er auf 1.820 Millionen Fr. sich gehoben. Und der französische Export, der im Jahre 1800 einen Wert von 271 1/2 Millionen Fr. repräsentierte, war 1815 in dem auf seine alten Grenzen reduzierten Frankreich auf 400 Millionen angewachsen. Die größere Hälfte des Betrages entfiel dabei auf Industrieerzeugnisse.

Es ist richtig, daß die Entwicklung störende Hemmungen erfahren hat. Die Erweiterung der Produktion durch kühne Spekulanten war gelegentlich doch etwas übereilt. Ein wahres Gründungsfieber war ausgebrochen. Vielfach waren die Fabrikanlagen zu luxuriös ausgestattet, ohne doch technisch ganz auf der Höhe zu stehen. Fläufig waren teure Kredite aufgenommen. Wenn dann die Rohstoffe sich verteuerten, wenn der Export zurückging, was z. B. nach Ausbruch des spanischen Aufstandes durch Einengung des dortigen Marktes sehr empfindlich sich bemerkbar machte, dann gab es Bankerotte in größerer Zahl. — Napoleon half nach Kräften. Er verfügte zugunsten der französischen Seidenindustrie, daß bei Hofe nur Galakleider aus heimischen Stoffen getragen Averden durften. Er verstand sich sogar zu Konzessionen in Sachen der Handelssperre. Die sogenannten Lizenzen, die, wie es scheint, zuerst nur für unentbehrliche Medizinalwaren gewährt wurden, ließen bald auch andere verbotene Artikel zu, namentlich Rohstoffe für die französischen Fabriken: immer unter der Bedingung, daß die Inhaber der Lizenzen französische Industrieerzeugnisse im Betrage der eingeführten Waren exportierten.

Napoleon hat mit solchen Mitteln die Krise gemildert. Aber er hat es nicht hindern können, daß die Unternehmer, die seine Wirtschaftspolitik gepriesen hatten, so lange sie ihnen überwiegende Vorteile brachte, ihn nun für die üble Lage verantwortlich machten. Die Krise, die 1810 auf 1811 recht bedenkliche Schwierigkeiten über das französische Wirtschaftsleben heraufführte, bedeutete darum noch lange nicht den Zusammenbruch der napoleonischen Wirtschaftspolitik. Sie hat die Popularität Napoleons geschädigt, sie hat seinen persönlichen Sturz vorbereiten helfen, — aber den allgemeinen Aufschwung des französischen Wirtschaftslebens hat sie nicht dauernd aufgehalten. Mit gutem Recht hat Napoleon auf St. Helena sich dessen gerühmt, was die französische Volkswirtschaft ihm zu danken habe: die Entfesselung von den Engländern.

So glänzend wie in dem unmittelbaren napoleonischen Machtbereich hat das Kontinentalsystem nirgend gewirkt. Immerhin sind auch einige Rheinbundstaaten und die Schweiz in jener Epoche zu einer erstaunlichen Höhe industrieller Entwicklung gelangt. Dem östlichen und nördlichen Europa scheint dagegen mehr nur störende Beeinträchtigung und jedenfalls keine dauernde Förderung zuteil geworden zu sein. — Es wird noch eindringender Forschung bedürfen, um das hier mit sehr flüchtigen Strichen skizzierte Bild genauer zu zeichnen und die auffallend zwiespältigen ökonomischen Einwirkungen der Kontinentalsperre allseitig klarzustellen.

Ein besonders lehrreiches Beispiel in dieser Richtung bietet Deutschland, das im Westen die Segnungen und im Osten die Schädigungen der Handelssperre in vollem Maße erfahren hat. — Das westliche Deutschland bis zur Elbe war ganz unter napoleonische Vasallenschaft geraten und widerstandslos dem französischen Einfluß hingegeben. Östlich der Elbe kommt für unsere Betrachtung vor allem das verstümmelte Preußen in Frage, das innerlich keinen Augenblick dem napoleonischen System sich eingefügt hat.

Für das westliche Deutschland, wo mit der Handelssperre doch in der Hauptsache Ernst gemacht wurde, haben sich naturgemäß ähnliche Folgen ergeben, wie für Frankreich. Daß in den von Frankreich annektierten Rheinlanden während der Kontinentalsperre ein rapider Aufschwung des Fabrikwesens eingetreten ist, wurde bereits erwähnt. Wie beneidenswert die Förderung der linksrheinischen Industrie erschien, das ergibt sich klar aus einem interessanten Gegenbild auf dem rechten Rheinufer. Das von alter Zeit her industriell werktätige Gebiete umfassende Großherzogtum Berg, das Napoleon seinem Schwager Murat überwiesen hatte, mit Düsseldorf, Elberfeld und Barmen, Solingen, Remscheid, Essen und Bochum, war seit den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts wirtschaftlich besonders glücklich vorangeschritten. Es wirkten hier bis zur Verhängung der Kontinentalsperre ähnliche Umstände ein, wie in dem Frankreich der Revolutionsepoche. Aber je entschiedener seit 1806 die einseitige Begünstigung Frankreichs hervortrat, desto mehr fühlten die bergischen Industriellen sich beengt. Der französische Markt wurde der bergischen Industrie, völlig gesperrt. 1807 erfolgte ein Gleiches für Italien. Dazu kam die zunehmende Abdrängung vom Seeverkehr. Als vollends 1810 die Vereinigung Hollands mit Frankreich bevorstand, da schien der letzte Ausweg über See für den bergischen Export abgeschnitten. Mit unverhohlenem Neid blickte man auf das linke Rheinufer hinüber, das unter dem fördernden Schutz des französischen Staates so glänzend gedieh. — In diesem Zusammenhang taucht im Bergischen der Gedanke auf, daß nur der direkte Anschluß an Frankreich Rettung bringen könne. In wiederholten Vorstellungen an Napoleon ist dieser Wunsch zum Ausdruck gelangt. Man heuchelte die innigste Liebe zu Frankreich, die in den gegenseitigen Handelsbeziehungen wurzele, und als letzten Trumpf spielte man aus, daß der Kaiser nicht eine Industrie zerstören werde, die imstande sei, die englische zu bekämpfen. Napoleon ist auf diese Wünsche nicht eingegangen. Die französischen Industriellen wollten den unbequemen Wettbewerb der rechtsrheinischen Lande sich vom Leibe gehalten sehen. Auch nicht die geringsten Erleichterungen wurden gewährt. Napoleon speiste die bergischen Fabrikanten mit der Bemerkung ab, daß die Fernhaltung der englischen Fabrikate Vorteil genug wäre. Und damit hatte Napoleon Recht. Für das Herzogtum Berg gab es vorübergehend schlimme Zeiten. Von 1807 bis 1810 ist die Ausfuhr von 54 Millionen Fr. auf 38 Millionen gesunken. Aber trotz diesem empfindlichen Rückgange ist der Fortschritt gegenüber der Zeit vor der Revolution ein unverkennbarer.

Und die gleichen Beobachtungen drängen an den verschiedensten Stellen im deutschen Westen sich auf. Hamburg z. B. hat unter der Sperre zeitweilig schwer gelitten. Der Schmuggel, der namentlich von Helgoland her in einer kolossalen Ausdehnung betrieben wurde, bot keinen vollwertigen Ersatz für die Vernichtung des altgewohnten Seeverkehrs. Aber Hamburg, das schon seit der Begründung der Vereinigten Staaten die alte Abhängigkeit von England zu durchbrechen begonnen hatte, lernte gerade in dieser Epoche sich auf eigene Füße zu stellen. Und als die Kontinentalsperre fiel, da war der Platz der bis tief in das 18. Jahrhundert kaum mehr als eine englische Handelsfiliale auf deutschem Boden war, in der Lage, zu selbständiger und unabhängiger Geltung zu gelangen.

Aus derselben Zeit stammt im deutschen Westen die erste ins Große gehende Entwicklung der Rübenzuckerfabrikation, die Ersatz für den Kolonialzucker bieten sollte. Daneben sind epochemachende Fortschritte der chemischen Industrie zu verzeichnen, die dem Mangel kolonialer Farbstoffe abzuhelfen sich bemühte. Napoleon äußerte damals prophetisch im Hinblick auf die Erfindungen in der Chemie, sie würden auf die Welt einen ebenso großen Einfluß haben, als ehemals die erste Nutzbarmachung der Magnetnadel im Kompaß.

Das westliche und mittlere Deutschland hat damals in der Tat eine tiefgehende industrielle Belebung gewonnen. Freilich im wesentlichen nur soweit, als man an bereits vorhandene Ansätze anknüpfen konnte. Denn die Zeit der Sperre war doch zu kurz bemessen, um da, wo Unternehmertum und geschultes Arbeiterpersonal ganz fehlten, aus dem Nichts eine völlig neue Industrie zu schaffen.

Besondersglücklich erscheinen die Fortschritte der Textilindustrie im Königreich Sachsen. Die enorme Verteuerung der englischen Garne hat Anlaß gegeben, in Sachsen wie am Rhein eigene Maschinenspinnereien zu errichten. Selbst an den Maschinenbau hat man sich gewagt. Damit sind die ersten geschlossenen Etablissements größeren Stils erwachsen. Sie bewirkten die Umwandlung der alten Hausindustrie zu der Fabrikindustrie der neueren Zeit.

Wenn derart für das mittlere und westliche Deutschland die Zeit der Kontinentalsperre mannigfaltigen Fortschritt und reiche Anregung in ökonomischer Beziehung brachte, so war im östlichen Deutschland die Wirkung der Blokade eine geradezu entgegengesetzte. — Das ostelbische Deutschland ist durch die Kontinentalsperre furchtbar geschädigt worden. Vor allem drückte das Stocken des Rohproduktenabsatzes nach England auf die Preise. Die Getreidepreise sind in Ostpreußen von 1806 bis 1810 um 60 bis 80 % gesunken. Holz wurde nahezu wertlos. Riesige Holzvorräte stauten sich in Memel auf und sind dort verfault. Schwerer noch als die Urproduktion wurden einzelne Industriezweige betroffen. Die Brandenburger Tuchfabrikation, die Berliner Seidenmanufaktur, die schlesische Leinenindustrie wurden hart mitgenommen, zum Teil geradezu vernichtet. Die schlesische Leinwand z. B. war nach Italien und Spanien, nach Nordamerika und nach den spanischen Kolonien gegangen. Jetzt war der überseeische Absatz durch England unmöglich gemacht, das dort seinerseits den Markt an sich riß. In Italien und Spanien aber war der französischen Leinwand freier Zutritt gewährt, während enorme Zölle die schlesischen Erzeugnisse fernhielten. Bekanntlich datiert die schlimme Not der schlesischen Weberbevölkerung aus der Zeit der Handelssperre. Natürlich litt auch der legitime Handel, der überall sich gehemmt und unberechenbaren Konjunkturen sich gegenübergestellt sah.

Besonders schwer wurde die vordem blühende Reederei der Ostseehäfen benachteiligt. In Königsberg ist der Schiffsverkehr um 60 % zurückgegangen. Daß in den kleinen Schmuggelhäfen der Ostsee der Verkehr enorm stieg, hatte für den Nationalwohlstand ebensowenig dauernden Wert, wie der momentane Antrieb, den z. B. der Königsberger Landhandel durch die auf krummen und dunklen Wegen über Rußland erfolgende Zufuhr englischer Waren erhielt. Das brachte wagemutigen Unternehmern bei erheblichem Risiko stattlichen Gewinn, aber es half nicht der Not des Landes ab, das unter der angedeuteten Geschäftslage mindestens ebenso schwer litt, wie durch die unerhörten Erpressungen und Brandschatzungen der französischen Sieger.

Unser ostelbischer Handel und unsere ostelbische Industrie haben sehr lange Zeit gebraucht, um die Wirkungen der Kontinentalsperrzeit zu überwinden.

Wir besitzen einen vortrefflichen Gradmesser für die Beurteilung der einschlägigen Verhältnisse in der späteren Entwicklung der deutschen Schiffahrt. Die deutsche Nordseereederei, die vor der Kontinentalsperre hinter der deutschen Ostseereederei zurückstand, schon weil in der Nordsee das englische Übergewicht unmittelbarer als in der Ostsee sich fühlbar machte, hatte in der Zeit der Handelssperre annähernd den gleichen Rückgang zu verzeichnen, wie die Ostseereederei. Aber während mit dem Fall der Kontinentalsperre in der Nordsee ein rascher Aufschwung der Schiffahrt einsetzt, bleibt die Ostsee zurück. In der Nordsee war der alte Stand schon 1815 erheblich überschritten und bald war die Ostseeschiffahrt weit überflügelt. Die preußischen Ostseeprovinzen hatten jede eigene handelspolitische Bedeutung eingebüßt, sie waren für die nächsten Jahrzehnte ganz auf England angewiesen. Die Reederei der preußischen Ostseehäfen ist von da an für längere Zeit vollständig von der englischen Kornzollpolitik abhängig. Und der Getreidehandel bestimmte geradezu alle anderen wirtschaftlichen Verhältnisse.

Es sind tiefgreifende Veränderungen, die hier sich anbahnen. Von alters her hatte Deutschland in ein süddeutsches und ein norddeutsches Verkehrsgebiet sich geschieden. Für den Verkehr bildete in früherer Zeit der Wall der Mittelgebirge ein natürliches Hemmnis. Das mittelalterliche Wirtschaftsleben Nord- und Süddeutschlands blieb ohne rechte Verbindung und wies grundtiefe Verschiedenheiten auf. Der Norden hatte Silberwährung, der Süden Goldwährung. Der Norden gravitierte nach England, Skandinavien und Rußland, der Süden stand in regster Verbindung mit Italien. Die süddeutschen Handwerksgesellen wanderten ostwärts bis Polen und Ungarn, nach den Hansestädten kamen sie nicht. — Wenn der Oberdeutsche und der Niederdeutsche noch heute im Dialekt so scharf sich scheiden, so hat das seinen letzten Grund in den jahrhundertelang auseinandergehenden Verkehrsinteressen.

Seit der Kontinentalsperre tritt schroffer als das vorher der Fall war, der wirtschaftliche Gegensatz von Ost und West in Deutschland zutage, der seither unser wirtschaftliches Leben so nachhaltig beeinflußt. Zwischen den alten Sitzen deutscher Kultur und dem später errungenen Kolonialboden waren ja von Anfang an mancherlei kulturelle Unterscheidungsmerkmale vorhanden. Aber seit der Kontinentalsperre erscheint der einseitig agrarische Charakter des Ostens schärfer ausgeprägt, seine industrielle Entwicklung ist gehemmt, sein Handel und seine Schiffahrt sind gelähmt, während in derselben Zeit im Westen eine aufstrebende Industrie dem ganzen Leben neue kräftige Impulse gibt.

Damit hängt es zusammen, daß zuerst im deutschen Westen die bürgerlichen Elemente mit neuer Kraft sich wieder regten. Die Kontinentalsperre ist in gewissem Sinne die Wiege unserer modernen Großbourgeoisie, die recht eigentlich im westlichen Deutschland wurzelt. Das hat entscheidend unsere allgemeine soziale und politische Entwicklung bestimmt. Bei uns in Preußen hatte das Bürgertum, dem durch die Stein-Hardenbergsche Reform der Weg endlich frei gemacht war, in den alten engen Verhältnissen die rechte Lebenskraft noch nicht gewonnen. Ihm hatte im absoluten Staat die Vorschule für die neuen Freiheiten, für ausgedehnte Selbstverwaltung und für ein entwickeltes Verfassungsleben gefehlt, und nun war obendrein in der Zeit der Sperre auch die vordem schon erreichte wirtschaftliche Entwicklung zurückgeschraubt. Dieses bürgerliche Element war geschwächt, hatte wohl guten Willen und redlichen Eifer, aber wenig Selbstbewußtsein und geringes politisches Gewicht. Wie dünn waren in dem Preußen nach dem Tilsiter Frieden die politisch vorwärtsstrebenden Elemente gesät.

Erst die Umgestaltung Preußens auf dem Wiener Kongreß, die Rheinland und Westfalen den östlichen Provinzen hinzufügte, brachte eine völlig veränderte Gruppierung der politischen Kräfte. Für die innere Entwicklung Preußens ist es von der größten Bedeutung geworden, daß in den Bereich des vorher überwiegend agrarisch charakterisierten Staates bürgerlich hochentwickelte Gebiete eintraten, Kräfte, die erst ganz das Zeug dazu hatten, von den gewährten und von den verheißenen freiheitlichen Institutionen Gebrauch zu machen. Wenn in Preußen und ebenso in den deutschen Mittelstaaten, wo ja ähnliche politische Reformen in jener Epoche durchgeführt worden waren, verhältnismäßig rasch ein politisch reiferes Geschlecht erwuchs, so ist das sehr wesentlich der Kontinentalsperre zu danken, die mit plötzlichem Ruck ein selbständiges Unternehmertum schuf. Das hat recht eigentlich die sozialökonomische Ergänzung geschaffen für die damals einsetzende politische Emanzipation des Bürgertums.

Unter Rückwirkung dieser allgemeinen Verhältnisse ist ganz allmählich auch im deutschen Osten ein langsames Wiederaufleben der hartgetroffenen Wirtschaftskräfte möglich geworden.

Für die positiven Schädigungen, die das östliche Deutschland damals erlitt, wird man im übrigen nicht ausschließlich und nicht in erster Linie die Kontinentalsperre verantwortlich machen dürfen. Ihre strikte Durchführung hätte wenigstens an einzelnen Stellen, vornehmlich in Brandenburg und Schlesien, so gut wie in Sachsen und am Rhein lebenweckend wirken können. Gerade daß hier die englischen Erzeugnisse nicht wirklich ferngehalten wurden, hat ein zuversichtliches industrielles Schaffen nicht aufkommen lassen.

Auf der anderen Seite hat dann freilich gerade die systematische Durchbrechung des Kontinentalsystems dem alten Preußen einen ganz unmittelbaren Gewinn eingetragen, von dem man bislang in weiteren Kreisen keine Kenntnis hatte.

Dieses Preußen, das von 1795 bis 1806 so oft den französischen Lockungen nachgegeben, seit dem Tilsiter Frieden stand es in innerlich unversöhnlichem Gegensatz der napoleonischen Herrschaft gegenüber. Auch der Kontinentalsperre hat man nur gezwungen sich gefügt, und das napoleonische Machtgebot griff nicht unbedingt wirksam durch. Wir erfahren wenig Authentisches über die diesbezüglichen Geschehnisse. In den Akten des Berliner Staatsarchivs findet sich eine Notiz über die 1813 befohlene und allem Anschein nach auch wirklich bewerkstelligte Vernichtung der auf die Handhabung der Kontinentalsperre Bezug habenden Verhandlungen. Aus den Papieren des Staatskanzlers Hardenberg und aus dem schriftlichen Nachlaß eines preußischen Beamten, der seit 1810 mit der geheimen Leitung des öffentlich verbotenen Handels betraut war, läßt wenigstens einiges sich ermitteln.

Danach ist im August des Jahres 1810 dem geheimen Staatsrat und Abteilungschef im Finanzministerium v. Heydebreck die Aufsicht über das vorher ziemlich regellos sich abwickelnde Geschäft unter Erteilung umfassendster Vollmachten übertragen worden. Heydebreck sollte durchaus selbständig operieren, außer Verbindung mit irgendwelchen übergeordneten Instanzen, sofern er nicht selbst es für rätlich erachtete, denselben ausnahmsweise Kenntnis zu geben. In der Regel hat Heydebreck seine Maßnahmen unter vier Augen mit Hardenberg vereinbart; selten, daß einmal ein immer sehr vorsichtig abgefaßter schriftlicher Meinungsaustausch zwischen den beiden stattfand.

Einige zufällig erhaltene Notizen lassen erkennen, daß namentlich in einigen pommerschen Häfen, in Swinemünde, Rügenwalde und Colberg, ein üppiger Handel mit englischen Waren blühte. Bis in die österreichischen Erbländer, in die süddeutschen Handelsstädte und in die Schweiz gingen von dort die englischen Importe.

Die französischen Konsuln in Stettin und Colberg waren ins Vertrauen gezogen. Sie erwiesen sich recht zugänglich für die Darstellungskraft der Schiffsmakler, die die Papiere jedesmal mit den vollwichtigsten — Gründen produzierten, so daß sie stets den Beifall des Konsuls erhielten. Vielfach kamen die Schiffe auf solche Weise unbeanstandet durch. Glückte das einmal nicht, so wurde das Schiff von der preußischen Behörde konfisziert. Die Ladung mußte dann öffentlich versteigert werden. Aber die Ankündigung der Versteigerungen erfolgte erst im letzten Augenblick, so daß wenig Bieter sich einfanden. In der Regel erhielt der Unternehmer, der die Ladung bestellt hatte, oder sein Beauftragter den Zuschlag für ein Billiges. Wurde wider Erwarten der Preis in die Höhe getrieben, so ermäßigte man hinterdrein die Kaufsumme, selbstverständlich gewährte man imter allen Umständen bei der Zahlung Erleichterungen. An den Staat wurden gewöhnlich nur 25 % der befohlenen Kontinentalgefälle abgeführt: die Prämie für den französischen Konsul betrug 2 % des Verkaufswertes. Den Verkehr mit den französischen Konsuln, die sich übrigens besonders findig in Vorschlägen immer neuer Tricks zeigten, um die verbotenen Waren ungefährdet hereinzubekommen, besorgten geriebene Handelskommissare. Die eigentlichen Regierungsbeamten, namentlich die Akzisedirektoren, sollten grundsätzlich unbeteiligt bleiben, um das Ansehen der Staatsverwaltung nicht bloßzustellen.

Natürlich war die größte Heimlichkeit anbefohlen. Aber die Zahl der Mitwisser war doch zu groß. Allmählich roch man auch in Paris Lunte. Wollte man sich nicht unheilbar kompromittieren und ernsthaften Gefahren aussetzen, so mußte noch größere Vorsicht geübt werden. Seit dem Winter 1811 auf 1812 hat die preußische Regierung den Privathandel mit Kolonialwaren überhaupt nicht mehr zugelassen. Heydebreck arbeitete von da an mit Hilfe und unter Teilnahme einiger weniger unbedingt zuverlässiger Kaufleute nur für Rechnung des Staates. Die Bestellungen wurden in großen Posten direkt nach England aufgegeben und die Schiffe unter der Gestalt von Prisen, welche die Zollwachtschiffe in See gemacht, in die preußischen Häfen geschleppt.

Um neu aufsteigenden Verdacht in Paris zu entkräften und wenigstens die Staatsregierung als völlig unbeteiligt erscheinen zu lassen, schreibt im September 1812 Hardenberg feierlich und offiziell an Heydebreck, daß im Laufe des letzten Sommers hin und wieder in pommerschen Häfen unerlaubter Handel mit Kolonialwaren stattgefunden haben soll, er spricht die Vermutung aus, daß selbst Angestellte der Abgaben- und Handelsverwaltung mit im Spiel sein könnten, zugleich fordert er strengste Untersuchung und befiehlt gewissenhafteste Aufrechterhaltung des Kontinentalsystems. Dem den Akten des Berliner Staatsarchivs eingefügten Exemplar des Schreibens liegt eine französische Übersetzung: bei.

Offenbar war es darauf abgesehen, die Kenntnisnahme der Verfügung den französischen Offizianten möglichst bequem zu machen.

Wenige Wochen später ist ein kleines Billet Hardenbergs an Heydebreck abgegangen, in dem er ihm die Ermächtigung zu einem neuen bedeutenden Geschäftscoup erteilt, ,,nach den Grundsätzen, die wir mündlich verabredeten“. „Vorsicht, Verschwiegenheit und größere Summen sind notwendige Erfordernisse“, fügt Hardenberg hinzu. Mit den größeren Summen kann nur der Ertrag für die Staatskasse gemeint sein.

In der Tat war der Gewinn ein recht ansehnlicher. Vom August 1810 bis März 1813 haben die zu den Kassen geflossenen Nettoeinnahmen aus dem Kontinentalsvstem und den während desselben vorgenommenen Scheinkonfiskationen rund 11.200.000 Taler betragen. Dazu kamen aus dem 1813 eingeführten Kriegsimpost noch 3.200.000 Taler. Außerdem sind Waren im Betrag von 3.300.000 Talern unter Anrechnung auf die Kontribution an Frankreich in Zahlung gegeben worden. Das sind in Summa etwa 18 Millionen Taler. Es waren Beträge, die für die damalige Aufrechterhaltung des Staatshaushaltes recht erheblich ins Gewicht fielen. Heydebreck bemerkt in einem abschließenden Bericht: ,,Die Beträchtlichkeit dieser größtenteils vom Auslande gesteuerten Einnahmen, noch mehr aber die Zeitperiode, in welcher sie der erschöpften Staatskasse zuflössen, waren für die Wiederherstellung der preußischen Armee und selbst für die kräftige Führung des Befreiungskrieges von nicht unerheblichem Einfluß.“

Das ist eine Spezialwirkung der Kontinentalsperre, die Napoleon nicht vorausgesehen hat.

In dem politischen Kalkül Napoleons steckt jedenfalls mehr als ein Fehler.

Wir wissen heute, daß Napoleon nicht die blindwütige Erobererbestie war, die da nur lauerte, wen sie verschlingen könne, sondern ein Staatsmann mit klarbegrenzten Absichten. Der leitende Gedanke war für ihn der Kampf gegen England. Sowie England sich fügt, will er auf sein eigentliches System sich zurückziehen. Das ist aus allen seinen Kundgebungen, selbst aus streng vertraulichen Äußerungen herauszuhören. Gewiß hat auch Napoleons engeres politisches System nicht das harmlose Gepräge allzu bescheidener Selbstbeschränkung. Auf der Höhe seiner äußeren Erfolge hat er 1811 erklärt: daß er nicht nur Frankreich beherrschen wolle. ,,Ich bin nicht ein Nachfolger der ehemaligen Könige von Frankreich, sondern ich bin ein Nachfolger Karls des Großen, und meine Regierung ist eine Fortsetzung des vorhergegangenen französischen Kaisertums.“ Das ist ein stolzes Ziel. Aber es greift nicht über das Mögliche hinaus, strebt nicht ins Uferlose. Die Frage, ob etwa ein durchschlagender Erfolg auf diesem Wege ihn weiter gerissen, einen grenzenlosen Cäsarenwahn in ihm geweckt hätte, entzieht sich ernsthafter Diskussion. Wir können nur von dem reden, was wirklich war oder als greifbare Absicht zutage trat. Die letzten Geheimnisse einer Menschenseele, was dem Eigener selbst vielleicht verborgen in ihr schlummert, werden wir niemals entschleiern.

Wir müssen mit der Feststellung der Tatsache uns begnügen, daß Napoleon im politischen Kampf gegen England scheiterte. Es braucht nicht erst gesagt zu werden, daß nicht Englands Mut und Kraft diesen Ausgang herbeigeführt hat. Im letzten Grunde hat das Schwergewicht der Wirtschaftslage, die nicht so plötzlich nach den Wünschen Napoleons sich umwälzen ließ, gegen ihn entschieden. Als kämpfende Macht hat England im wesentlichen nur zur See Rühmliches, aber angesichts der maritimen Schwäche des Gegners nicht so gar Erstaunliches geleistet. Schließlich sind es doch die militärischen Anstrengungen der Festlandsvölker gewesen, die England vor dem Abgrund gerettet haben, an den das napoleonische Kontinentalsystem es gebracht.

Neben diesem politischen Mißerfolg Napoleons sieht das wirtschaftliche Ergebnis der Kontinentalsperre wesentlich anders aus. In der napoleonischen Idee, daß die Seetyrannei Englands und sein merkantiles Übergewicht eine gemeineuropäische Gefahr für die Festlandsvölker bedeute, steckt, trotz aller Übertreibungen, unzweifelhaft ein Kern von Wahrheit. Und wenn wir von unserem nationalen Standpunkt aus den Sturz des Mannes, der mit so brutaler Rücksichtslosigkeit unser Vaterland vergewaltigte, mit voller Genugtuung verzeichnen, im Hinblick auf jenes gemeineuropäische Interesse könnten wir sein Unterliegen beklagen, wenn nicht die andere Tatsache vorläge, daß in wirtschaftlicher Hinsicht sein Kampf gegen England kein vergeblicher war.

Die Erfolge der britischen Plutokratie, die in diesem erbitterten Ringen so zähe standhielt, haben doch in gewissem Sinne den Beisatz eines Pyrrhussieges. England hat allerdings die empfindlichen Verluste, die es auf dem Festlande durch die Kontinentalsperre erlitt, durch neue Erfolge in der Übersee ausgeglichen. In den harten Kämpfen bis zum Sturz Napoleons hat England seinen Kolonialbesitz ungeheuer erweitert, hat es seine Flotte riesenhaft gestärkt und im Überseehandel eine absolut dominierende Stellung behauptet. Aber auf dem Festlande hat es nicht verhindern können, daß, soweit die Herrschaft des Kontinentalsystems sich wirksam ausdehnte, die Grundlagen einer von England unabhängigen Manufaktur erstarkten. England hat gegenüber der industriellen Förderung, die ein bedeutender Teil des Kontinents durch die Handelssperre erfahren hat, sein vorheriges merkantiles und industrielles Übergewicht nicht im alten Umfange zurückzugewinnen vermocht.

Wohl hat man nach erfolgter Pazifizierung des Kontinents scheinbar England die Meere und die Kolonien als seine Domäne überlassen. Aber im stillen waren auf dem Festlande Kräfte gereift, die allmählich den Blick wieder auf das Meer und auf Uberseekolonien hinauslenkten.

Frankreich ist mit der Okkupation Algeriens vorangeschritten. Es war der Anfang einer neuen auf Seegeltung und Kolonialmacht abzielenden Entwickhmg. Reclus sieht in der französischen Geschichte zwei entscheidende Tage: ,,den einen des Unglücks, den anderen des Triumphes. Das nicht mehr gut zu machende Unglück ist nicht Pavia, nicht St. Quentin, nicht Malplaquet, nicht Roßbach, Waterloo oder Sedan — es ist Quebek. Bei dieser Stadt, in den Ebenen von Abrahani, entriß man uns die Herrschaft über Amerika und vielleicht die Weltherrschaft, am 13. September 1759. Der große Triumphtag, aber keiner jener so tönenden und doch so unfruchtbaren Siege auf dem Schlachtfeld, an denen unsere Geschichte so reich ist, sondern einer jener Siege, welche dem Strom der Geschichte ein neues Bett graben, war nicht Marignan, nicht Rocroi, nicht Fontenoy, Marengo, Austerlitz, Jena oder Wagram — sondern die Eroberung Algiers am 5. Juli 1830.“

Von diesem Tage datiert die neue Expansion Frankreichs, die allerdings ohne die Vorbedingung der durch die Kontinentalsperre bewirkten ökonomischen Erstarkung nicht wohl denkbar wäre.

Mit eifersüchtiger Mißgunst hat man in England die französischen Erfolge beobachtet. Noch unwilliger hat man dort die ökonomischen Fortschritte Deutschlands hingenommen, das lebhaft aufsteigende Interesse am überseeischen Handel, an Schiffahrt und Kolonisation und die ersten Bemühungen um Begründung einer deutschen Flotte, die im zweiten Viertel des vorigen Jahrhunderts auftauchten.

Heinrich Heine plaudert 1846 in der Augsburger Zeitung in seiner geistvollen Weise von einer Begegnung mit einem englischen Parlamentsmitglied. Der Engländer habe mit wohlwollender Anerkennung über deutsche Treue und Redlichkeit sich geäußert, aber sein Enthusiasmus über unsere Haustugenden sei bei dem Hinweis auf erwachende maritime Gelüste der Deutschen erheblich gesunken. ,,Dem edlen Briten mißfiel sehr diese Mitteilung, und er meinte, wir Deutschen täten besser, wenn wir den Ausbau des Kölner Domes, des großen Glaubenswerks unserer Väter mit unzersplitterten Kräften betrieben.“ Heine fügt hinzu : „Jedesmal, wenn ich mit Engländern über meine Heimat rede, bemerke ich mit tiefster Beschämung, daß der Haß, den sie gegen die Franzosen hegen, für dieses Volk weit ehrenvoller ist, als die impertinente Liebe, die sie uns Deutschen angedeihen lassen, und die wir immer irgend einer Lakune unserer weltlichen Macht oder unserer Intelligenz verdanken; sie lieben uns wegen unserer maritimen Unmacht, wobei keine Handelskonkurrenz zu besorgen steht; sie lieben uns wegen unserer politischen Naivität, die sie im Fall eines Krieges mit Frankreich in alter Weise auszubeuten hoffen.

In der Tat hat die herablassende Gönnerschaft der Engländer uns nie gefehlt, solange deutsche Truppen für englisches Geld ihre Haut zu Markte trugen. Von den erlauchten Geistern der englischen Nation sind wir sogar bewundernd gepriesen worden, so lange wir das Volk der Dichter und Denker waren, das lediglich den Gafferblick in den olympischen Himmel begehrte.

So steht es heute nicht mehr. Das Deutsche Reich hat Schiffe und Kolonien, es hat in Industrie und Handel alle Festlandvölker überflügelt und Milliarden seines Vermögens im Auslande investiert. Die Gefühle der Engländer haben seither eine dementsprechende Wandlung erfahren. Ihre Sympathien wenden sich heute mehr den Franzosen zu, weil man den deutschen Mitbewerb in höherem Grade fürchten zu müssen glaubt.

Unverkennbar ist diese glückliche wirtschaftliche Entfaltung unserer wirtschaftlichen Produktivkräfte bis zu gewissem Grade durch die Nachwirkungen der Kontinentalsperre bedingt. Der ökonomische Teilerfolg, den Deutschland dem napoleonischen Protektionssystem dankte, war mit dem Fall desselben ganz plötzlich in Frage gestellt. Als nach Verdrängung der Franzosen vom deutschen Boden die lange zurückgestauten englischen Waren ungehemmt nach Deutschland sich ergossen, da war im Westen die Freude herzlich gering. Mit Schleuderpreisen suchte England die während der Sperre emporgediehene westdeutsche Industrie zu erdrücken. Und in demselben Augenblick, da England mit seinen Manufakturwaren den deutschen Markt überschwemmte, belastete es zum Schutz der eigenen Landwirtschaft die fremde Getreidezufuhr mit enormen Zöllen. Das dämpfte im Osten die Liebe zu den Kanalvettern. In diesem Zusammenhange ist unser preußisches Zollgesetz aus dem Jahre 1818 notwendig und möglich geworden, die Grundlage des deutschen Zollvereins!

Preußisches Zollgesetz und deutscher Zollverein, diese ersten wirtschaftspolitischen Maßnahmen großen Stils auf deutschem Boden, haben folgerichtig aus den durch die Kontinentalsperre geschaffenen Verhältnissen sich ergeben. Auf der sich erbreiternden Basis des Zollvereins ist das deutsche Leben wirtschaftlich und politisch einer Periode glücklichster Weiterentwicklung zugeführt worden.

Wir gedenken hier nur der wirtschaftlichen Erfolge. An Störungen und gelegentlichen Rückschlägen hat es nicht gefehlt. Man hat ihnen gegenüber bald freihändlerische Maßnahmen, bald strengsten Schutzzoll als Allheilmittel angepriesen. Die neuere nationalökonomische Wissenschaft ist nicht mehr auf die einseitige Vertretung einer der beiden Theorien eingeschworen. Angesichts der Kompliziertheit des modernen Wirtschaftslebens und seiner Beeinflussung durch unberechenbare, von außen kommende Einwirkungen fordert sie Freiheit der Entschließung von Fall zu Fall. Und die heutige Weltlage weist bereits auf eine handelspolitische Ära hin, in der Freihandel und Schutzzoll auf neuer Grundlage sich verbinden sollen.

Vom Standpunkt des ideal gerichteten Menschenfreundes, der für Abrüstung und ewigen Frieden schwärmt, wird man in der Theorie den absoluten Freihandel als die vollkommenste Ausgestaltung der wirtschaftlichen Völkerbeziehungen bezeichnen dürfen, nur daß in der harten Wirklichkeit die Aussicht sehr gering ist, dieses Idealprinzip je durchgeführt zu sehen. Anderseits aber scheint auch die Zeit einer in nationaler Begrenzung geschützten Volkswirtschaft ihrem Ende entgegenzugehen.

Gegenüber dem Herandrohen riesiger Weltwirtschaftsmächte ist auf die kommende Notwendigkeit eines wirtschaftlichen Zusammenschlusses der mitteleuropäischen Staaten hingewiesen worden. Um für diese Idee Propaganda zu machen, hat vor einigen Jahren ein ,,Mitteleuropäischer Wirtschaftsverein“ sich gebildet.

Nun ist ja allerdings bis zur Stunde von den geplanten weltwirtschaftlichen Machtgebilden noch keines zu festerer Gestaltung gediehen. Das imperialistische Greater-Britain, wie Chamberlain es träumte, ist noch nicht verwirklicht. Die Monroe-Doktrin hat aus der neuen Welt noch kein Panamerika gemacht. Das vor wenigen Jahren schon greifbarer hervortretende kompakte russische Riesenreich, das seine unerschlossenen Hilfsquellen erst in vollstem Maße auszubeuten gedachte, dürfte nach der jetzigen Lage der Dinge nicht in Bälde innerlich sich konsolidieren, und der russischen Expansion ist zur Zeit ein Riegel vorgeschoben. Und auch ein unter japanischer Direktive sich organisierendes leistungsfähiges Ostasien ist vorerst noch ein recht nebelhaftes Zukunftsbild.

Es ist verständlich, wenn unter solchen Umständen die Frage des mitteleuropäischen Zollvereins nicht unmittelbar brennend erscheint. Die letzte Tagung des mitteleuropäischen Wirtschaftsvereins hat denn auch lediglich der völkerrechtlichen Regelung von Einzelfragen des internationalen Verkehrs sich gewidmet und die Zollunionsidee ausdrücklich beiseite geschoben.

Aber es sind doch Ansätze zu großzügigen Gestaltungen vorhanden, die für die auf schmalerer Basis fußenden mittel- und westeuropäischen Einzelstaaten zu wirtschaftlich bedrohlichen Faktoren auswachsen könnten. Und diese gemeinsame Gefahr wird den Wunsch nach Bildung eines mitteleuropäischen Zollbundes nicht wieder von der Tagesordnung verschwinden lassen.

Man hat eingewendet, daß unüberwindliche politische und wirtschaftliche Schwierigkeiten dem kühnen Projekt entgegenständen. Ganz dasselbe hat man dem werdenden Zollverein gegenüber behauptet. Und doch ist es gelungen, alle Besorgnisse empfindlicher Regierungen zu überwinden und die politischen wie die wirtschaftlichen Differenzen glücklich zu begleichen. Sollte ein gleiches nicht auf der breiteren Grundlage einer mitteleuropäischen Gemeinschaft möglich werden? Es würde sich zunächst darum handeln, den beteiligten Mächten untereinander einen freien Markt zu erschließen und nach außen einen einheitlichen Schutz des gemeinsamen Zollgebietes aufzurichten. Hier eröffnet sich uns ein Ausblick auf Verwirklichung des Freihandelsprinzips unter den höchststehenden Kulturnationen des Festlandes, also was Napoleon als das Ziel der Kontinentalsperre den Völkern vorspiegelte. Ein französisches Chauvinistenblatt hat denn auch die auf Begründung eines mitteleuropäischen Zollvereins gerichteten Bestrebungen als ein Plagiat an der napoleonischen Kontinentalsperre bezeichnet. Diese irreführende Gleichstellung ist auf das bestimmteste zurückzuweisen. Es handelt sich heute nicht um einen Kampf gegen eine allen überlegene Konkurrenzmacht, wie Napoleon ihn gegen England aufnahm, und ebensowenig um die Geltendmachung extrem selbstsüchtiger Wünsche, wie Napoleon sie für sein ,,Karolingerreich“ anstrebte, sondern es ist das berechtigte Verlangen nach Zusammenfassung aufeinander angewiesener Kräfte zu gemeinsamer Abwehr gegen die Außenwelt und zu gegenseitiger Förderung und Stärkung, ohne offensive Absichten und ohne illoyale Nebengedanken, der gesunde Kerngedanke des Zollvereins in Anwendung auf die Verhältnisse der modernen Weltwirtschaft.