Fortsetzung

Frostschauer durchzitterten Herthas zarte Gestalt. Sie erwachte, hob das Köpfchen verwundert empor: „Wo bin ich? Ist es schon dunkele Nacht?" flüsterte sie nachdenklich. Da traf ihre tastende Hand auf feuchtes, kaltes Mauerwerk — ein Schrei löste sich von ihren Lippen.

„Gertrud — Emilgard!“ rief sie angstvoll — doch niemand antwortete ihr. Stille, unheimliche Stille und dichte Finsternis umgab die Einsame.


„Wo bin ich? Wo —“ Die Frage erstarb ihr auf den Lippen; die zuletzt erlebte Szene stand ihr mit erschreckender Deutlichkeit vor der Seele. Hertha presste die Hände vor das Gesicht.

„Gefangen, eingeschlossen!“ stöhnte sie auf. „Stina hat mich nach dem unterirdischen Gewölbe gebracht! So will sie mich zum Gehorsam zwingen!“

Matt, zitternd lehnte Hertha an der kalten, feuchten Wand. Plötzlich sprang sie empor, das sonst so weiche Mädchen fühlte eine Festigkeit des Willens in sich emporwachsen.

„Nimmermehr!“ rief sie, dass es laut von den Steinwänden ihres Gefängnisses widerhallte, „nimmermehr reiche ich Sigurd meine Hand, ich verabscheue den Räuber, ich fürchte seine Nähe. Und sollte ich sterben müssen, lieber tot, als sein Weib,“ lispelte sie — leise — langsamer. Die aufflammende Heftigkeit schwand, Hertha fühlte, wie sich ein schwerer Druck auf ihr Haupt legte, eine eigene Mattig- keit überkam sie, ihr Haupt sank herab — der Schlummergott träufelte ihr Mohnkörner in die Augen und bald verkündeten tiefe, regelmäßige Atemzüge, dass Hertha eingeschlummert war.

Ein Traum, wonnig und lieblich, senkte sich auf die arme Gefangene herab. Nicht Kerkermauern mehr umgaben sie — nein, sie schritt durch ihren geliebten Wald. Über ihr aus den Zweigen wiegten sich goldglänzende Vögel und liebliche Töne entquollen den Kehlen dieser gefiederten Sänger. Hertha lauschte — und merkwürdig, sie verstand, was die Vögel sangen. „Komm, Hertha, folge mir nach!“ sang der große, goldgelbe Vogel. Das junge Mädchen musste, ob sie wollte oder nicht, dem voranfliegenden Vogel folgen.

Weit, weit durch den Wald, der sich an beiden Seiten in unabsehbarer Länge ausbreitete, wanderte sie, immer ihrem gefiederten Führer folgend. Dabei fühlte sie keine Müdigkeit, ihr war, als schwebte sie, einem Vogel gleich, durch die Luft. Plötzlich ließ sich der goldgelbe Vogel auf einem Zweig nieder und Hertha bemerkte, dass sie nun dicht vor einem großen Portal stand, das mit blaustählernen Wappenschildern geschmückt war.

„Klopfe an!“ ermahnte der Vogel. Hertha tat, wie ihr geheißen und siehe da, die hohen Flügeltüren flogen vor ihr auf.

„Tritt ein!“ gebot der Vogel zum andern Male.

Wieder gehorchte sie; da stockte ihr Fuß, wie festgebannt blieb sie stehen.

Wohin hatte der Vogel sie geleitet?

Wenige Schritte vor ihr lag ein hochgetürmtes Gebäude. Hohe Spitzbogenfenster zierten es und über einer weit geöffneten Tür war ein marmornes Standbild aufgestellt, welches segnend seine Hände über die Eintretende ausbreitete. Feierliche Glockentöne klangen vom Turm herab, so mild, so herzbewegend, dass Hertha, fast ohne es zu wollen, über des Hauses Schwelle schritt. Ein imposanter, durch Säulen getragener Raum nahm sie auf. Rechts und links vom Mittelweg standen kunstvoll geschnitzte Stühle, in denen Männer und Frauen knieten, die alle andachtsvoll auf die Worte lauschten, die ein ehrwürdiger, in lange, schwarze Gewänder gekleideter Greis zu ihnen redete.

Am Ende des Saales, in einer Rotunde, stand ein großes Bild; auf diesem war eine gekreuzigte Mannesgestalt abgebildet. Hertha blieb stehen, sie vermochte nicht den Blick von dieser rührenden Gestalt abzuwenden. Tiefer, immer tiefer verlor sich ihr Blick in das seelenvolle Auge des Gekreuzigten, die Hertha zuzurufen schienen: „Kommet her zu mir alle, die Ihr beladen seid, kommet her, ich will Euch erquicken!“

Unwillkürlich sank Hertha in ihre Knie, sie hob die Hände zu dem Bilde auf: „Dir will ich folgen, komm, führe Du mich!“ lispelte sie. Da fühlte sie sich an der Hand gefasst, sie blickte auf und sah eine weibliche Gestalt vor sich stehen.

„Wer bist Du?“ fragte Hertha, der das Gesicht des Weibes vertraut und bekannt erschien. „Kennst Du mich nicht, ich bin Deine Mutter!“ flüsterte das Weib, liebevoll die heißen Wangen des Mädchens streichelnd.

„Mutter, meine Mutter, endlich sehe ich Dich!“ rief Hertha selig erschauernd aus. „Endlich sehe ich Dich! Endlich!“

„Immer war ich bei Dir, mein Kind, nur konnten Deine irdischen Augen mich nicht sehen. Nur heute darf ich Dich sehen um Dir zu raten, Dich zu trösten!“

„O Mutter, Dein Kind ist unglücklich. Man will mich zwingen, ein verhasstes Ehebündnis einzugehen. Rette mich, Mutter, rette mich —“

„Gott wird Dir helfen —“

„Wer ist Gott? Ist es jener Gekreuzigte?“

„Nein, dies ist Gottes Sohn, der herab zur Erde stieg, die armen Menschen von Sündenschuld zu erlösen. Fürchte Dich nicht, schon sind die Sendboten unterwegs, die Dir das heilige Licht bringen. Sage Dich los vom Heidentum, wie ich es getan, dann sehen wir uns wieder in Gottes Herrlichkeit an seinem Thron. Leb wohl, Hertha, leb wohl — einst sehe ich Dich wieder!“

„Bleib bei mir, ich fürchte mich!“ rief Hertha; sie versuchte die Gestalt festzuhalten — umsonst, die Halle sank zusammen, der säulengetragene Bau verschwand, zuletzt erblickte Hertha nur noch das Bild des Heilandes, dessen Blicke voll Milde und Erbarmen auf ihr ruhten.

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Hertha erwachte, die im Traum erschaute Herrlichkeit war verschwunden, tiefe Finsternis umgab wieder die Einsame. Da plötzlich bemerkte sie an der gegenüberliegenden Wand einen Hellen Schein; der sich unruhig bewegte, bald heller ward und bald verschwand. Betroffen schaute Hertha auf — woher sollte so tief unter der Erde ein Lichtstrahl kommen?

Gestärkt durch den Traum erhob sie sich und rief beherzt aus: „Ich will untersuchen, woher der schwache Lichtschimmer kommt. Mutter, meine Mutter, bist Du mir nahe und zeigst Du mir einen Ausweg aus diesem Gefängnis?“

Sie schritt auf den hellen Schein zu; seltsam, ihre tastende Hand traf auf kein Mauerwerk. Weiter, immer weiter schritt sie dem Scheine, der sich vergrößerte und erhellte, entgegen. Plötzlich fühlte sie, wie frische Luft ihr um die Schläfe wehte. Mit Entzücken atmete Hertha die reine Luft ein, immer hastiger eilte sie der hellen Stelle entgegen. Da — ihren Lippen entrang sich ein Schrei — plötzlich sah sie im Dämmerschein des Morgens ragende Wipfel und Strauchwerk, sie sah den im Morgenrot erglühenden Himmel, von dem noch einzelne Sternlein matt blinkend herabglitzerten — dann lauschte sie? Irrte sie sich nicht, so vernahm sie das melodische Rauschen und taktmäßige Anschlagen der Wellen am Uferrand. Rasch überstieg sie die Steintrümmer, die zur halben Höhe den Gang ausfüllten, durchbrach ein dichtes Dornengebüsch und stand nun, das Herz voll Wonne geschwellt, unter grünen Bäumen.

Staunend blickte sie sich um, wohin führte der unterirdische Gang, den sie durchwandert, den niemand im Schloss zu kennen schien?

Da flogen die ersten Sonnenstrahlen am Himmel entlang; vor ihrer sieghaften Macht entwichen die grauen Dämmerschatten, und Hertha erkannte mit Staunen, dass sie sich dicht am Gordinosee befand, vor ihr, wenig Schritte entfernt, schaukelte sich ihr Boot auf dem vom Morgenwind leise bewegten Wellen und dort lag die kleine Insel, auf der sie manchen Sommertag verträumt.

Von ihren Gefühlen überwältigt fiel Hertha angesichts der Sees in ihre Knie.

„Mutter, geliebte Mutter, dies ist Dein Werk, Du ließest mich diesen Ausweg aus Nacht und Finsternis finden. Aber was soll ich tun, soll ich zurückkehren in das finstere Gefängnis — soll ich fliehen? Wohin — wohin sollte ich fliehen?“ fragte sie sich angstvoll.

Hertha kannte auf Gottes weiter Welt keinen Menschen, der ihr hilfreich die Hand bieten würde. Sie überlegte. Dann war es ihr, als vernähme sie die Stimme ihrer Mutter: „Kehr um! Kehr um!“ lispelten die Bäume, flüsterten die Wellen. „Ich gehorche Euch! Lebe wohl, goldenes Sonnenlicht — lebt wohl Wald und See —“ rief sie; dann verschwand Hertha wieder in dem dunkeln Gange.

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Ob Tage, Stunden oder Minuten verflossen waren, Hertha wusste es nicht. Plötzlich stand Stina vor ihrer Gefangenen.

„Folge mir!“ herrschte sie dem Mädchen zu.

Unter Herzklopfen folgte Hertha der bösen Stina. „Wäre ich geflohen, nun schleppt mich das böse Weib dem verhassten Sigurd in die Arme.“ Doch Hertha irrte sich.

„Schmücke Dich. Boten aus Wollin und Kammin sind angelangt. In zwei Stunden kommen Abgesandte des Bischofs aus Wollin, sie verlangen Swen zu sprechen.“

Hertha staunte, waren dies schon die Sendboten des Heilandes, die ihr heute Nacht im Traum die Mutter verkündet?

Hastig kleidete sie sich an. Schneeig weiße Gewänder, mit einem Purpursaum geschmückt, umhüllten das schöne Mädchen. Tief hinab flutete ihr prachtvolles Goldhaar über den Rücken, fast bis zum Saum des Gewandes reichend. Keines Schmuckes bedurfte das liebliche Wesen, Anmut und Liebreiz schmückten sie und unvergängliche Schönheit sprach aus ihren seelenvollen blauen Augen.

Sigurds Blicke hingen voll Verlangen an dem herrlichen Frauenbild, doch zu Herthas Überraschung hielt er sich fern von ihr und quälte sie heute nicht mit den Beteuerungen seiner Liebe und Leidenschaft.

Nachdem Swens Haushalt mitsamt den Knechten und Mägden versammelt war, traten die Sendlinge des Bischofs in den Saal ein. Voran ein ehrwürdiger Mann, dessen Hände ein Kreuz trugen. Ihm folgten mehrere Mönche. Ganz zuletzt schritt ein Jüngling. Sein Lockenhaar zeigte nicht die Tonsur der Mönche, obgleich ein klösterliches Kleid seine schlanke Gestalt umhüllte — ein härener Strick hielt die graue Kutte zusammen.

Lautlos schritten die fremden Männer durch den Saal, vor Swen blieb der greise Mönch stehen.

„Swen,“ begann er mit milder Stimme, „der heilige Bischof Otto von Wollin sendet uns, Dich zu ermahnen, Deine heidnischen Gräuel zu lassen und den Christenglauben für Dich und Dein Haus anzunehmen. Deine blutigen Taten schreien gen Himmel, deshalb gehe in Dich und tue Buße, o lange es noch Zeit ist. Denn die Tage und Stunden fliehen und ehe wir es gedacht, naht uns der Tod. Er mäht die Menschen dahin, wie der Schnitter junges Gras auf der Weide!“

Swens Antlitz rötete sich, Verdruss und Zorn sprachen aus seinen Mienen, doch noch beherrschte er sich und schwieg.

„Wieder hast Du fromme Christenleute überfallen, sie ihres Lebens bedroht, Frauen und Kinder getötet. Solcher Gräuel darf nicht länger auf unserer guten Insel geschehen — komm, schwöre mir —“

„Ich Dir schwören, ha — wie darfst Du es wagen, mir solch vermessene Worte ins Antlitz zu schleudern, mir, Swen, auf dessen Grund und Boden Du stehst!“

„Unser aller Leben steht in Gottes Hand. Ohne seinen Willen krümmst Du uns kein Haar und sollen wir nach seinem Ratschluss hier unser Ende finden, so komme jeder Tropfen des unschuldig vergossenen Blutes über Dich und Du, o Weib,“ hier wandte sich der Mönch an Stina, „Du solltest Deinem Herren gut zusprechen, solltest ihm die Wege zum Himmel ebenen!“

„Ich — o ich will nichts wissen von Eurem Himmel. Ich brauche Euren Gott nicht! Ich bin stark, sieh her, meine Hand zersplittert dies Stück Holz, und der Starke ist sein eigener Gott!“

„Vermessenes, trotziges Weib, halt ein, schweig still. Ehe der Mond sich neut wirst Du voller Verzweiflung Gott suchen und nicht finden!“

Stina lachte laut auf. Des Gottesmannes Worte erbitterten ihr Herz, anstatt ihren harten Sinn zu erweichen. „Wahre Deine Zunge, Mönch, damit ihr kein Wort entfliegt, das mir missfällt!“ drohte sie, „sonst sende ich Dich und Deine Begleiter einen Weg, von dem niemand zurückkehrt!“

„Du drohest mir, wohlan, so höre Swen und Du unheilig Weib mein letztes Wort. Bischof Otto lässt Euch und alle hier Versammelten in Acht und Bann erklären. Ihr seid vogelfrei! Ihr seid in die Hand des geringsten Knechtes gegeben, Euer Leben ist verwirkt!“ rief der Mönch mit weithin klingender Stimme.

Zitternd umstanden die Hausgenossen ihren Gebieter, der starr vor sich hinschaute. Totenstille herrschte im Saal — da bog sich Stina zu Swen hinüber und seine zur Faust geballte Hand berührend, sprach sie voll schneidenden Spottes: „Mann, ich, ein Weib, erzittere nicht und Du —“

„Auch ich fürchte die Worte jenes Pfaffen nicht! Also vogelfrei bin ich erklärt? Gut, jetzt will ich Euch meine Antwort auf des Bischofs Worte geben. Heda, Sigurd, nimm einige Männer, binde die Kuttenleute und dann hinab mit ihnen nach dem See, dort versenkt sie, wo er am tiefsten ist. Rasch — vollzieht meine Befehle!“ gebot Swen.

Nach kurzer Gegenwehr waren die christlichen Sendboten gebunden und geknebelt. Keine Klage entfloh ihren Lippen, sondern ein Lied zur Ehre Gottes anstimmend, fielen sie auf ihre Knie und hoben nur die gefesselten Hände anklagend gen Himmel auf.

„Nun, was sagst Du nun, Du Streiter Gottes — wer ist stärker, ich oder Du?“ höhnte Swen.

„Heute hast Du uns obgesiegt, doch Dein Geschick ereilt Dich — Dich und dieses Weib. Ein schrecklich Ende steht Euch bevor. Dies Schloss wird der Erde gleichgemacht, kein Stein der Gordinoburg bleibt auf dem andern stehen. Wenig Jahre, und niemand kennt die Stätte mehr, wo Ihr gehauset. Versunken, vergessen werdet Ihr sein — doch das Christentum, welches Ihr schmähet, wird überall hier am Seegestade einziehen. Aus dem grünen Walde werden friedliche Gotteshäuser herniederschauen und fromme Beter werden zu ihnen wallen, ihrem Gott zu danken und ihn anzubeten!“

Bei den letzten Worten des Mönches stieg ungebändigter Zorn in Swens Seele empor; er sprang von seinem Sitz, riss den Dolch aus der Scheide und stieß ihn dem Sprecher tief in die Brust, röchelnd sank der Mönch in die Knie. — Während dieser schauervollen Szene lehnte Hertha in ihrem Sessel. Sie glich einem Marmorbild, stumm und regungslos saß das schöne Mädchen dort. Kein Schrei, kein Laut entfloh ihren Lippen, sie sah nicht, was um sie her geschah, wie weltentrückt ruhte ihr Blick auf dem schönen Antlitz des blondlockigen Jünglings. Aber auch dessen Augen wurzelten fest in der holden Jungfrau Augen.

Selbstvergessend sahen diese beiden edelschönen Gestalten nur sich — wohl drangen Worte zu ihnen hin, doch sie achteten sie nicht; beider Seelen lagen in ihren Blicken, die sich nicht lassen konnten und wollten.

Nur zuletzt, als auch seine Hände von Sigurd mit den hänfenen Fesseln umschnürt wurden, da entfloh ein leiser Seufzer der Jungfrau Brust; sie wollte emporspringen, doch Sigurds Hand hielt sie zurück. „Du bleibst, mische Dich nicht in Männersache!“ raunte er ihr zu, und gelähmt von dem Blick, der diese Worte begleitete, lag Hertha halb betäubt im Sessel. Da geschah das Entsetzliche — Swen mordete den Mönch. Von Entsetzen ergriffen sprangen die Anwesenden von ihren Plätzen auf, auch Hertha erhob sich. Wie mit Zaubergewalt zog es sie hin zu dem blonden Christen.

Doch noch ein zweites Augenpaar hatte mit Wohlgefallen den schönen Jüngling betrachtet. Stina hatte ihn bemerkt, jetzt flog sie wie ein Wirbelwind auf ihn zu und die allgemeine Verwirrung benutzend, zog sie den Jüngling aus dem Saal. Niemand bemerkte dessen Abwesenheit. Nur Hertha hatte die gewaltsame Entführung bemerkt und ein noch nie empfundenes Gefühl loderte gleich einer brennenden Flamme in ihrem Innern auf.

„Nach, ihm nach, ich muss ihn retten oder mit ihm untergehen!“

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Die Nacht sank herab. Mit ihrem Sternenmantel deckte sie die Gräuel zu, die der helle Tag gesehen. Ein üppiges Mahl vereinte die Bewohner des Schlosses, erst tief in der Nacht suchten Swen und seine Genossen taumelnd ihr Lager auf.

Im Schloss verlöschten die Lichter; nur in Herthas Kammer brannte noch eine Lampe. Mit gerungenen Händen eilte sie auf und nieder, ihre Wangen glühten, ihre Lippen zuckten. „Ich muss ihn retten! Muss ihn retten!“ rief sie endlich aus, „ich weiß, Stina hat ihn nach dem unterirdischen Gewölbe gebracht. Sie sinnt Böses. O, geliebte Mutter, nun weiß ich, weshalb Du mir den unterirdischen Gang finden ließest, um ihn, den holden Jüngling, zu retten vor Schmach und Schmerz! Hastig rüstete sich Hertha zum nächtlichen Gang; dann lauschte sie auf den Flur hinaus — alles war still. „Sie schlafen und die Geister des Mets umnebeln ihre Sinne, jetzt oder nie kann ich ihn retten!“

Mutig stieg die sonst so schüchterne Hertha die Treppe hinab, öffnete das Haustor und trat hinaus in die finstere Nacht. Kein Stern glänzte am Firmament, dunkel war die Nacht. Schaurig heulte der Wind durch die alten Föhren und Eichen, er fasste die wehenden Gewänder und versuchte das zitternde Weib beiseite zu schleudern. Doch Hertha drang mutig durch Nacht und Graus. Ein neues Gefühl war in ihrem Busen erwacht, dass sie stark und unempfindlich gegen die Gefahren, die ihr drohten, machte.

Mühsam erkämpfte sie sich den Weg hinab nach dem See, dann eilte sie im Schutz der hohen Bäume rascher vorwärts. Wohl stolperte sie über Steine und Baumwurzeln, doch weiter, weiter flog sie, dem Eingang des unterirdischen Ganges zu. Nun hatte sie gewonnenes Spiel. Eine Laterne hatte sie mitgenommen, bei deren Schein fand sie mühelos den Weg. Da — jetzt stand sie vor dem Jüngling — er schlief, seine Augen waren geschlossen.

Hertha neigte sich über den Schlummernden, tief, immer tiefer beugte sich das liebliche Mädchengesicht zu ihm hinab, und Sehnsucht, sowie der Wunsch, diese geschlossenen Augenlider aufzuküssen, stiegen in Herthas reiner Seele empor. Wohl schreckte sie zurück vor ihrem Beginnen, doch das Verlangen, ihn zu küssen, war stärker, als ihre mädchenhafte Scheu. Leise, leise wie ein herabgewehtes Blumenblatt, ruhten ihre Lippen eine Sekunde auf seinem Munde — da schrak sie zurück, der Schläfer bewegte sich, er öffnete die Augen und starrte voller Staunen zu Hertha hinüber.

„Engel, kommst Du mich zu befreien, mich hinüber in das bessere Jenseits zu geleiten? Heilige — Engel, ich folge Dir!“

„Du verkennst mich, Fremder, ich bin Hertha, die Tochter dieses Hauses!“

„Ah — die holde Jungfrau, jetzt erkenne ich Dich wieder; kommst Du, mich zum Tode zu führen, aus Deiner Hand ist er mir süß!“

Hertha errötete: dann flüsterte sie leise;

„Ich — will Dich retten, komm, folge mir!“

„Gerne, Dir folge ich — und sei es zum Tode!“

„Nicht zum Tode, zum Leben will ich Dich führen!“

Sanft von des Mädchens Hand geleitet, schritt der Jüngling, der wie von einem holden Traum umfangen an ihrer Seite ging, nach dem Ausgang der Höhle. Die Nacht war weiter vorgeschritten. Im Osten zeigten sich schon die ersten Vorläufer des kommenden Morgens. Hertha sah es.

„Eile Dich — ehe der Tag anbricht, musst Du in Sicherheit und ich in meiner Kammer sein!“

Der Jüngling schaute sich forschend um.

„Wo sind wir?“

„Am See — hier liegt mein Nachen, steig ein, ich will Dich nach einem sicheren Asyl bringen!“

Ohne zu fragen stieg der Fremde ein. Wenig Ruderschläge genügten, um das leichte Boot hinüber nach der Insel zu bringen.

„Steig aus, folge mir!“ befahl Hertha, nachdem sie ihr Boot angekettet. „Siehe, hier sucht Dich niemand. Auf dieser kleinen Insel bist Du sicher, halte Dich hier verborgen; sobald die Nacht herniedersinkt, kehre ich zu Dir zurück!“

„So willst Du mich verlassen? Flieht mein holder Engel?“ fragte der Jüngling. „O sage mir, wie nennst Du Dich, damit ich Deinen Namen in meine Gebete einschließen kann!“

„Hertha nenne ich mich, und Du?“ fügte sie lieblich errötend hinzu.

„Johannes heiße ich, mein Vater sandte mich ins Kloster für den Dienst des Herrn, doch noch bindet mich kein heiliges Gelübde, noch bin ich frei!“

Seltsam, die Worte schienen Hertha so inhaltschwer, sie antwortete nicht, sondern wandte sich langsam zum Gehen — da —

„Hertha! Hertha!“ jubelte es von des Jünglings Lippen und „Johannes, Johannes,“ antwortete die Jungfrau. Sie wussten nicht, wie es geschehen, plötzlich hielten sie sich umschlungen, Herz klopfte an Herz und Lippe senkte sich auf Lippe. Nur stammelnde Laute, halbverworrene Worte flüsterten sie sich zu, da — ein leises Zwitschern ließ Hertha aus dem ersten Liebestraum erwachen. „Die Lerche — die Lerche singt, der Tag naht, ich muss fort. Leb wohl Geliebter, sobald die Nachtigall ihr Lied ertönen lässt, dann kehre ich wieder!“

„Leb wohl Geliebte, ich zähle die Minuten bis ich Dich wieder in die Arme schließe. Hertha, meine süße Hertha!“

„Lass mich, der Tag erwacht!“ flüsterte Hertha und riss sich aus den sie umschlingenden Armen des Jünglings. Der Nachen brachte sie ans Land. Dann eilte sie die Ausbuchtung des Sees entlang. Bald war die lichte Gestalt dem Nachschauenden entschwunden.

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Ungesehen erreichte Hertha ihre Kammer. Wildes Schreien und Toben zeigte ihr später an, dass Stina die ihr unerklärliche Flucht des Jünglings bemerkt.

„Der böse Geist hat ihn entführt!“ schrie Swen, „weshalb hast Du den Christen vor der gerechten Strafe schützen wollen! Sag, was galt Dir der blonde Fant?“

„Als Geisel sollte er mir dienen!“ log Stina, „nun ist er verschwunden“

Seltsamerweise fanden die, mit Fackeln hinab in das unterirdische Gewölbe eilenden Männer den Ausweg nach dem See nicht, das grelle Fackellicht verdrängte das matt hereinschimmernde Tageslicht.

Hertha zitterte vor der Entdeckung, doch der Tag verging. Stina nur fegte wie ein Wirbelsturm durch das Haus und die Wangen der Mägde mussten für die üble Laune der Schlossherrin büßen.

Abends kehrte Swen von einem Ausflug heim. Sein Antlitz war düster und Verderben loderte umschattet aus seinen grauen Augen.

„Stina, nun wird es Ernst. Bewaffnete Haufen nähern sich unserer Burg. Der Bischof wütet, er fordert als Sühne für den Tod seiner Sendboten mein Haupt, ha ha noch haben sie mich nicht, schlägt alles fehl, so zünde ich die Burg an allen vier Ecken an, lebendig soll mich keiner fangen!“ fügte er wutschnaubend hinzu.

Stina lachte. „Soweit sind wir noch nicht, die Burg ist fest, wir haben Mundvorrat auf Wochen. Ich fürchte die Wolliner Krämer nicht! O, ich sehne mich nach Kampf und Krieg, das stählt die Arme und die Herzen! Und —“ die letzten Worte murmelte sie halblaut vor sich hin, damit Swen sie nicht hörte — „dann vergesse ich den Jüngling, dessen Bild mir so lockend vor der Seele steht!“

Die eintretende Hertha vernahm die letzten Worte, Angst und Sorge um Johannes Sicherheit erfasste das liebende Mädchen, doch zu gleicher Zeit züngelte Eifersucht in ihrem Herzen auf, denn mit dem Scharfblick eines liebenden Weibes las sie unheilige Leidenschaft in ihrer Stiefmutter verzerrten Gesichtszügen.

„Heute Nacht fliehe ich mit Johannes nach Wollin! Unserer Liebe droht Gefahr!“ dachte sie. Da trat Stina dicht zu Hertha hin. Langsam, mit lauernden Blicken überflog sie die Gestalt des schönen Mädchens; plötzlich blieb ihr Bück auf dem Saum von Herthas weißem Kleide haften, sie hob das Überkleid empor: „Wo warst Du, Hertha, sieh den schmutzigen Saum Deines Gewandes, Du schlepptest über feuchte, rote Steine, Du —“

Hertha wandte ihr totenbleich gewordenes Gesicht zur Seite. „Wo sollte ich gewesen sein?“ gegenfragte sie zaghaft.

„Lasst jetzt Euer törichtes Geschwätz!“ rief Swen ärgerlich. „Heute ein schmutzig Kleid beklagen, wo der Feind bald vor den Toren steht. Stina, ist alles bereit — lasse den Mägden Pechkränze winden und Hanf und Flachs mit Teer tränken!“

„Ich gehe, aber Du Hertha begib Dich in Deine Kammer, dort bleibe, bis —“

„Stina, geh an Dein Tagewerk! Was sollen die unnützen Reden!“ schrie Swen, mit Gewalt auf den Tisch schlagend, dass die Metkrüge hoch emporsprangen.

Stina ging, doch nicht ohne einen langen Blick auf Hertha geworfen zu haben. Dann flog die Tür hinter ihr ins Schloss.

„Sie hegt Verdacht und sinnt auf neue Bosheit!“ dachte Hertha. „Johannes, wir müssen fliehen, sonst droht uns Gefahr!“

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Im Schloss herrschte große Unruhe. Ausgesandte Boten kamen mit der Nachricht zurück, dass sich von Wollin her große Haufen Bewaffneter der Burg näherten. Auch zu Schiffe nahten Feinde. Von allen Seiten wollte man den gefürchteten Swen mit einem Male angreifen.

Knechte und Mägde saßen im Schlosshof, Werg und Hanf zu dicken Kränzen verarbeitend, die dann mit Pech und Teer getränkt wurden. Stroh, Heu, überhaupt leicht feuerfangende Stoffe häuften Kriegsknechte zu Seiten des Haupteinganges auf. Andere schleppten Waffen aus der Rüstkammer herbei, das ganze Schloss glich einem kriegerischen Lager. Hoch oben auf dem Turme standen die Späher, wackere Ausschau haltend.

Nur eine wurde von der allgemeinen Unruhe nicht erfasst. Dies war Hertha, die in ihrer Kammer am Spinnrocken saß. Doch das Rädchen schnurrte nicht, kein goldenes Gespinst füllte die Spule. Hertha saß, die Hände im Schoß gefaltet, und schaute hinaus in die Ferne.

„Sobald die Dämmerung herniedersinkt muss ich zu ihm! Eile tut not, Stina sinnt Unheil.“ Dann warf sie sich neben ihrem Lager in die Knie.

„Mutter, Mutter, und Du Heiland, der mich im Traum so gütig anschaute, helft — helft mir. Mutter, stehe mir bei, mein schwierig Werk zu vollführen! Stina bewacht mich mit scharfen Blicken, und doch — doch muss ich zu ihm, den meine Seele liebt.“

Der Tag verging. Die Vorbereitungen zur Verteidigung waren vollbracht, ein Mahl vereinte Swen, seine Vasallen und sein Hausgesinde im großen Saal. Laute Reden schallten bis zu der einsamen Hertha hin. „Jetzt sitzen sie beim Mahl, jetzt ist es Zeit!“ Vorsichtig lauschte sie zur Tür hinaus, der Gang war leer und düster. „In der Eile hat man vergessen, die Lampe anzuzünden, gut, so deckt Dunkelheit meinen Ausgang!“

Leise — leise wie ein Schatten huschte Hertha den Gang hinab nach einem Seitenpförtchen!

Niemand begegnete ihr; wie befreit atmete sie auf, als nun hochragende Waldbäume die Fliehende in ihren Schutz aufnahmen. Wie ein vom Jäger verfolgtes Reh flog Hertha den schmalen Weg entlang, der nach dem See führte. Bald glitzerte im silbernen Schein der Spiegel des Sees vor ihr auf.

„Johannes!“ flüsterte das Mädchen, „Johannes, Geliebter, ich komme — dann trennt uns nichts mehr!“

Vorwärts, den Weg entlang, schaute Hertha; so sah sie die Gestalt nicht, die ihr, vorsichtig unter den Bäumen hinschlüpfend, folgte.

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„Hertha, geliebtes Mädchen, nun halte ich Dich am Herzen, wie sehnte ich mich nach Deinem Anblick,“ flüsterte Johannes, die zarte Gestalt zärtlich an sein laut klopfendes Herz schließend. „Immer gedachte ich Deiner. Da siehe her, dies Kreuz habe ich geschnitzt, knie mit mir nieder und hebe Deine Hände mit mir zum Gott der Liebe empor! Ja, Gott ist die Liebe, bald wirst Du es erkennen, wenn durch heilige Lehre gestärkt Dein Herz zum Christenglauben sich hinneigt. Bischof Otto selbst wird Dich taufen, meine Hertha, und dann eint Priesters Hand den Bund unserer Herzen. O Geliebte, wie süß leuchtet uns die Zukunft entgegen!“

Hertha ruhte still verklärt an Johannes Brust — plötzlich ruckte sie zusammen, ein Trompetenstoß gellte durch die abendliche Stille. „Die Feinde kommen, der Türmer gibt das Zeichen!“ flüsterte Hertha zitternd. „Fürchte nichts, es sind die Unseren. Mit offenen Armen empfangen sie Dich — nun ist alle Not, alle Angst zu Ende. Ich will —“

Das nächste Wort versagte dem Erschrockenen. Plötzlich, wie aus dem Boden gewachsen, stand Stina vor den Liebenden und hinter ihr erschienen vier wüste Knechte mit Fackeln.

„Johannes — alles ist verloren!“ schrie Hertha entsetzt auf.

„Ja — alles ist verloren!“ höhnte Stina. „Nehmt den Verräter dort in Eure Obhut!“

„Nimmermehr!“ rief Hertha, die in der Stunde der Gefahr zur Heldin emporreifte. „Johannes, bleibe bei mir, ich schütze Dich. Stina, lasse ab, er gehört mein.“

„Dein — Du sollst ihn nicht besitzen!“ schrie das böse Weib in hochloderndem Zorn auf. Ein Dolch zuckte in hellem Fackellicht auf, Hertha warf sich an Johannes Brust — der Dolch verfehlte sein Ziel; mit dem Ausruf: „Ich bin getroffen!" sank das liebende Mädchen zusammen.

„Hertha — süßes Lieb, schlage die Augen auf. Hertha, hörst Du meine Stimme nicht mehr?“ klagte Johannes. Stina vernahm seine Worte und heißer Rachedurst loderte in ihr empor. Einem eifersüchtigen Antrieb folgend stieß sie die sterbende Hertha hinab in das hochaufspritzende Wasser. Johannes versuchte ihr nachzustürzen, doch die vorgestreckten Arme der Knechte versperrten ihm den Weg zur Geliebten. Da — plötzlich, nachdem die Wellen sich wieder geglättet, funkelte es hell und silbern vom See auf. Die Wogen teilten sich und eine schneeweiße Taube schwebte — leise die Flügel schlagend — zum Himmel empor. Dieser öffnete sich und glänzende Engelgestalten umflatterten die reine Seele, die in ihre Heimat zurückkehrte.

Wie von einem Blitzstrahl getroffen stand Stina, auch den Knechten sanken die Arme herab. Ein zweiter Trompetenstoß gellte durch die Luft, ein langgezogener, hilfeheischender Klang. „Der Feind ist da!“ murmelte ein Knecht. „Ja — der Feind ist da!“ schrie Stina, wie aus einem Traum erwachend, schrecklich auf, und ohne noch auf Johannes zu achten, stürmte das fürchterliche, mordbeladene Weib, gefolgt von den Knechten, dem gefährdeten Schloss zu. Johannes sank auf seine Knie.

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Wild wogte der Kampf. Auf beiden Seiten ward mit höchster Erbitterung gekämpft. Galt es den Wollinern, den schrecklichen Tod ihrer Sendboten zu rächen, so kämpften Swen und die Seinen um Freiheit, Leben und Eigentum. Fackelschein erhellte die Nacht. Von der See pfiff der Wind, dazwischen klangen die Stimmen der Kämpfenden und schmetterten schrille Trompetenstöße, die den Mut der Krieger anfeuern sollten.

Stina kämpfte wie ein Mann, wild hing ihr das schwarze Haar um das Gesicht, es flatterte hinter ihr drein, und wo sie erschien, da vernichtete sie Leben auf Leben. Tod und Verderben folgten ihren Schritten — und dennoch unterlag Swen und die Seinen. Schon wankten die Reihen, schon zeigten sich Lücken, und langsam zog sich die gelichtete Schar mit ihrem Anführer in das feste Schloss zurück. Stina sah es nicht — sie war im Handgemenge mit einem baumlangen, in schwarze Gewänder gehüllten Reisigen, dessen Hauptschmuck eine einzelne rote Feder zeigte.

„Stirb! Verruchter!“ schrie Stina, auf ihn eindringend.

„Töte, was sterblich ist!“ klang es ihr dumpf entgegen. Da erfasste Todesangst das Weib, ihr erhobenes Schwert glitt kraftlos an der breiten Brust des Schwarzen ab — sein Hohnlachen verwirrte sie; anstatt sich nach dem Schloss zu wenden, eilte sie den Klippen zu, die hinter dem Schloss in steiler Höhe nach der Ostsee abfielen.

Wie ein Schatten huschte die lange Gestalt des schwarzen Gesellen vor ihr her. Plötzlich stand Stina auf der Klippe. Dicht unter ihren Füßen rauschte das Meer, unheimlich leuchteten die weißen Schaumkronen der Wellen zu ihr auf. Sie war allein. Grauen packte das sonst so mutvolle Weib. Die Einsamkeit ängstigte sie, deshalb strebte sie nach dem Schloss zurück.

Schon hob sie den Fuß, um zu gehen, als ein vielstimmiges wildes Geschrei zu ihr hinüber tönte, im selben Moment flammte es auch schon rotglühend zwischen den Bäumen auf. Flammen loderten empor.

„Das Schloss brennt, Swen hat sich selbst die Totenfackel entzündet!“ rief Stina, von Grauen geschüttelt. Stimmen kamen näher.

„Halloh, hier!“ schrie es hinter ihr auf. „Hier ist Stina, die Mörderin — fangt sie, damit wir sie lebendig nach Wollin bringen!“ Stina sah sich von allen Seiten umstellt, hinter sich die Verfolger, vor sich das aufschäumende Meer. Da gedachte sie der Worte des greisen Mönches. „Ihr Geister der Unterwelt nehmt mich auf!“ rief sie laut. Ein Schrei — ein Sprung, gespenstisch flatterte es den Abhang hinab. Als die Verfolger auf der Klippe erschienen, da verschwand ein dunkler Gegenstand in den wild aufschäumenden Wogen. Stinas Platz war leer.

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Johannes nahm an dem Kreuzzug unter Kaiser Friedrich II. teil. Ritterlich kämpfte er gegen die Ungläubigen und fiel unter den Säbelhieben eines Sarazenen. Seine letzten Worte waren: „Hertha, Heilige, ziehe mich hinauf zu Dir!“ Im fernen Lande liegt sein Leib begraben, seine Seele ist auf ewig mit der einzig Geliebten vereint.

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Im Laufe der Jahre ward aus dem heidnischen Gordinosee ein christlicher Jordansee. Von der Burg blieb nach den Worten des Mönches kein Stein auf dem andern stehen, niemand kennt so recht die Stätte mehr, wo Swen und Stina gehaust, nur die Klippe, von der sich das böse Weib hinab m die Ostsee stürzte, heißt noch heute: „Stinas Utkiek.“ Der Ausfluss des Jordansees ins Meer ward gleich nach dem Sieg der Wolliner mit Baumstämmen verlegt. Dünensand ist im Laufe der Jahrhunderte darüber geweht, sodass heue keine Spur mehr von jener Verbindung zu sehen ist. Auf der Oberfläche des Jordansees schwimmen holde, weiße Wasserrosen, deren Kelche in purpurner Glut leuchten. Sie erschienen zuerst an jener Stelle, wo Herthas Leib hinab in den See sank. Nach und nach haben sich die verschiedenen Buchten des poesieumflossenen Sees mit diesen lieblichen Blüten bedeckt. Unbeweglich stehen die schneeigen Blüten auf den grünen Blättern, rein und keusch anzusehen wie einst die holde Hertha — die Jungfrau vom Jordansee.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Jungfrau vom Jordansee. Nach alten Chroniken.