Die Exzedenten in 24 Stadtteilen

Dieses Verhalten der Polizei musste sofort die Exzedenten ermutigen. Die jungen Burschen waren zweifellos von den Organisatoren ausgeschickt worden, damit man sich der Haltung der Polizei, auf deren Wohlwollen man ja ohnehin rechnete, ganz versichere.

Es war etwa 3 Uhr nachmittags, als plötzlich auf dem Platze Nowyi-Bazar ein Haufen von Männern erschien, alle in rote Hemden gekleidet. (Das rote Hemd gehört zur Festkleidung der russischen Arbeiter, kommt jetzt aber allmählich aus der Mode. Es ist klar, dass die Exzedenten die Arbeitertracht mit besonderer Absicht wählten.) Die Leute brüllten wie Besessene. Unaufhörlich schrieen sie: „Tod den Juden! Schlaget die Juden!“ Von der Schenke „Moskwa“ aus (von der oben anlässlich der Verteilung der Flugzettel die Rede war) teilte sich dieser Haufe von einigen Hundert in 24 Abteilungen zu etwa 10 bis 15 Mann.


Und von da ab begann systematisch zu gleicher Zeit in 24 Teilen der Stadt die Zerstörung, Plünderung und Beraubung jüdischer Häuser und Läden. Man fing damit an, Steine in solcher Menge und mit solcher Wucht in die Häuser zu werfen, dass man nicht nur die Fensterscheiben, sondern auch die Läden zertrümmerte. Dann riss man Türen und Fenster aus, drang in die Häuser und in die jüdischen Wohnungen ein und zerschlug und zerbrach, was man an Möbeln und an Einrichtung vorfand.

Die Juden mussten ihren Schmuck, ihr Geld und was sie überhaupt an Kostbarkeiten hatten, den Räubern ausliefern. Wenn sie nur den geringsten Widerstand leisteten, bekamen sie mit den zertrümmerten Möbelstücken wuchtige Hiebe auf die Köpfe. Besonders gewütet wurde in den Magazinen. Die Waren wurden entweder geraubt oder auf die Gasse geworfen und vernichtet. Ein großes christliches Gefolge begleitete die Exzedenten: Intelligenz, Beamte, Seminaristen u. a. Damen der „besten Gesellschaft“ nahmen von den Räubern Kleidungsstücke an, zogen an Ort und Stelle seidene Mäntel an oder wickelten sich in kostbare Stoffe. Die Räuber selbst taten nicht anders: Sie berauschten sich an Getränken, legten den Schmuck an, den sie gefunden hatten und kleideten sich in die gestohlenen Gewänder. In der Gostinaja-Straße wurde ein Schuhwarenmagazin geplündert, alle Räuber warfen ihre alten Schuhe weg und zogen neue an. Die dabei anwesenden Polizisten taten dasselbe: Alle lackierten Stiefel wurden an die Polizisten abgegeben.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Judenmassacres in Kischinew (1903)