Schlussbetrachtung

Wenn man nun die Resultate, die wir aus der kritischen Betrachtung der Kriminalstatistik gewonnen haben, zusammenstellt, so ergibt sich, dass die Frage, von der nur ausgegangen waren: „Sind die Juden eine kriminellere Rasse als die Germanen?“ verneint werden muss. Aber die unbedingte Verneinung der Frage wäre ebenso voreilig, wie die Schlussfolgerung der Antisemiten.

Stellt man die Verbrechen der Juden und die der Christen so schematisch mit einander in parallele, wie wir es an verschiedenen Stellen der Antisemiten rügen mussten, so heißt das, die Menschen und die Gesellschaft aus der Froschperspektive betrachten, in der man dann notwendig ein verzerrtes Bild erhalten muss. —


In allen Ländern mit ausgebildeter kapitalistischer Produktionsweise hat die Kriminalitätskurve annähernd denselben Verlauf, obwohl sich doch, wenn man die Behauptungen der Antisemiten verallgemeinert, aus der Verschiedenheit der Charakter-Eigentümlichkeiten oder der Rassengegensätze zwischen romanischen und germanischen Völkern z. B. ganz wesentliche Verschiedenheiten in der Kriminalität der einzelnen Länder ergeben müssten. — Das beweist, dass gegenüber anderen Momenten, welche das Verbrechen auslösen, der fast vollständig zurücktritt und sich höchstens einen nur modifizierenden Einfluss auf die Verbrechensform wahrt. Diese Momente aber, die in erster Linie als die auslösenden Ursachen einer bestimmten Art und Zahl von Verbrechen angesehen werden müssen, sind eben das wirtschaftliche und geschäftliche Milieu, in welchem die einzelnen Individuen leben.

Nur wenn ein Volk rein jüdischer Rasse, in welchem die kapitalistische Produktionsweise herrschte, unter die Lupe der Kriminalstatistik genommen würde, erst dann könnte exakte Vergleiche zwischen der Kriminalität der Juden und der Germanen anstellen. So lange das nicht möglich ist, kann keinesfalls die Kriminalitätsstatistik eines einzigen Volkes zum Ausgangspunkte so folgenschwerer Schlussfolgerungen genommen werden, wie es die Antisemiten tun; das ist selbst dann nicht zulässig, wenn man in mehr kritischer Weise als die von den Antisemiten geschieht, Süden und Christen aus denselben Gesellschaftsklassen, oder aus denselben Berufskategorien mit einander vergleicht; denn die Motive der verbrecherischen Handlung werden uns aus diesem Wege nicht enthüllt, aus die Motive bzw. die Ursachen der Verbrechen kommt es aber gerade an.

Die Antisemiten machen es sich freilich sehr bequem, wenn sie die angeblich zunehmende Neigung des deutschen Volkes für schwindelhaften Betrug und Meineid auf den unheilvollen Einfluss der Juden zurückführen. Die Ausführungen W. Gieses in dieser Richtung sind außerordentlich bezeichnend:

.... „Bei uns in Deutschland erzeugte das Überhandnehmen kecken, straffrei ausgehenden Betruges eine zunehmende Erregung der Geister. Nur zu oft werden wir an das leidige Sprichwort von den kleinen und großen Dieben gemahnt ... nun kann man wirklich nicht behaupten, dass diese Erscheinungen natürliche Ausflüsse des deutschen Volkscharakters wären. Die Deutschen haben, wie jedes Volk, ihre Bußprediger gehabt, die ihnen ins Gewissen reden mussten, aber unter den erhobenen Vorwürfen findet sich der Hinweis auf betrügerische Gewinnsucht, auf Bestechlichkeit u. s. w., nicht ... dagegen hat sich gezeigt, dass in allem, was Schwindel, Betrug, Korruption heißt, die Juden den Reigen führen, dass wir also diese sehr bedenklichen Erscheinungen in unserem wirtschaftlichen und gesamten öffentlichen Leben zum großen Teil ihnen verdanken.“

Diese Naivität in der Auffassung gesellschaftlicher Vorgänge und Erscheinungen ist wirklich köstlich. Man kann beim besten Willen in so wenigen Zeilen nicht mehr an schiefern Urteil und historischem Unverständnis zusammendrängen, als dies hier geschehen ist, ganz abgesehen davon, dass das Endurteil, wie wir im Einzelnen nachgewiesen haben, völlig verfehlt ist.

Dass die alten Germanen zu Tacitus Zeit nicht gut betrügerischen Bankrott begehen konnten, dürfte vielleicht auch ein Antisemit erkennen, dieses Vergehen und das analoge des Betruges setzt eine auf ausgebildeter Warenproduktion und auf umfangreichem Warenhandel basierte Gesellschaft voraus; sofort mit diesem tritt auch das spezifische Verbrechen in Erscheinung und erreicht seinen Höhepunkt in dem ausgebildeten Kapitalismus. Ja man könnte fast so weit gehen, zu behaupten, dass ebenso wenig wie die ursprüngliche Kapitalanhäufung ohne Raub und Gewalt undenkbar ist, auch der ausgebildete Kapitalismus sich ohne den Betrug nicht zu erhalten vermag. Der wahnsinnige Kampf Aller gegen Alle in der freien Konkurrenz heiligt schließlich jedes Mittel, welches die Kapital-Anhäufung fördert. Die Bereicherung des Warenproduzenten oder Warenhändlers inmitten einer konkurrierenden Nachbarschaft ist in letzter Linie nur durch Ausbeutung des Arbeiters und des Konsumenten möglich. Ein glänzender Schein, der das nichtige Sein der Waren verhüllt, muss in den Käufern immer neue Bedürfnisse wecken und zum Kaufe reizen. Wem in diesem sinnlosen Wettlauf der Atem ausgeht, ist unrettbar verloren. — Das sind aber alles Manipulationen, die sich hart auf der Grenze zwischen Recht und Unrecht abspielen. Ursprünglich durchwegs als strafbare Handlungen angesehen, erhalten sie anerkanntes Hausrecht in der Gesellschaft, je mehr das kapitalistische Milieu alle Gesellschaftsschichten umfasst. — Daher die Erscheinung, die nur einem harmlos-naiven Geiste auffallen kann, dass sich der Schwindel immer übermütiger auf allen Gebieten breit macht und immer weniger vom Strafrecht behelligt wird; denn mit den allgemeinen Rechtsanschauungen des Volkes oder wenigstens der maßgebenden Schichten desselben nimmt auch die Rechtsprechung modifizierte Formen an, bis sich schließlich völlig neue Rechtsgrundsätze entwickelt haben. — Das hindert freilich nicht, dass von Seiten der Ausgebeuteten und Übervorteilten dieser Wechsel der Rechtsanschauungen mit Missbehagen empfunden wird, dass von Seiten dieser Gesellschaftselemente ein steter Ansturm gegen diese Rechtsnormen unternommen wird. Die Auffassung der Antisemiten, sofern sie als Sprecher der Unterdrückten und Übervorteilten auftreten, entbehrt also keineswegs ihres berechtigten Kernes, aber sie verfehlt nichtsdestoweniger vollständig ihr Ziel. Die Juden haben den Kapitalismus nicht geschaffen — eine besondere Wirtschaftsform kann überhaupt nicht von einer einzelnen Gesellschaftsklasse geschaffen werden — in dem Kapitalismus selbst aber haben wir die Quelle der in der heutigen Form auftretenden Verbrechen zu erblicken. — Je weiter das Recht auf Existenz seiner ganzen Breite nach anerkannt wird, desto mehr Boden verliert das heutige Recht und es bildet sich ein neues Recht heraus, getragen von einem höheren Rechtsbewusstsein des Volkes, welches das Verbrechen nicht mehr kennt.