Band I, Erster Sabbat. Die Maurerkelle. Im Jahr 3506 der Weltschöpfung

Den nächsten Sabbat nach vollendetem Gottesdienste drängte sich die Gemeinde hörbegierig um den Chacham. Dieser öffnete die erste Rolle und las:

Die Maurerkelle.
Im Jahre 3506 der Weltschöpfung.


Ich, Simeï Sohn Jaïr Sohn des letzten jüdischen Königs Zidkijah, zeichne hier zu Jerusalem in meinem vier und achtzigsten Lebensjahre im vierten Jahre nach Herstellung des zweiten Tempels die Geschichte meines wechselvollen Lebens nieder, und übergebe sie Dir, mein geliebter Sohn Manasse, mit der Bitte, dass Du sie als Familiengut aufbewahrest.

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Ein Jahr vor meiner Geburt belagerte Nebukadnezar, König von Babel, meine Vaterstadt Jerusalem. Mein Großoheim Jechonjah, damaliger König von Juda, lieferte sich freiwillig dem Eroberer aus, und wurde nebst seiner ganzen Familie, den reichsten und angesehensten Männern Jerusalems und mit dem Tempelschatze nach Babel geführt. Mein Großvater Zidkijah wurde von Nebukadnezar als tributpflichtiger König in Inda eingesetzt, und musste ihm den Vasalleneid ablegen.

Jerusalem war während meiner Kindheit nicht mehr „die prangende Stadt, die Wonne des ganzen Landes," wie sie mein Ahnherr David in seinen heiligen Gesängen schilderte; ihre besten Bürger waren hin; ihre Straßen waren verödet; kein frohes Gewimmel von Wallfahrern war auf denselben zu sehen; sie glich einer verlassenen Witwe.

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Mein Großvater ließ es sich leider einfallen, in seinem neunten Regierungsjahre, trotz der Abmahnungen des Propheten Jirmijah und des Synedrium's, dem Nebukadnezar den Gehorsam zu kündigen. Jerusalem wurde zum zweiten Male belagert, und nach zwei Jahren von den Babyloniern mit Sturm genommen; mein Großvater flüchtete sich nebst seiner ganzen Familie durch einen unterirdischen Gang seines Palastes,*) welcher in einer Entfernung von einigen Meilen in der Ebene von Jericho in eine Höhle ausmündete. Unglücklicher Weise verfolgten einige babylonische Krieger daselbst einen Hirsch, welcher sich in die Höhle flüchtete; die ihm nachsetzenden Krieger begegneten uns, nahmen uns gefangen und führten uns nach Riblah, wo Nebukadnezar sich eben aufhielt. Dieser ließ meinen Vater und meinen Oheim hinrichten und meinen Großvater blenden. Ich war ein schöner, blühender Knabe; Nebukadnezar schonte daher meiner, und beschloss, mich als Edelknaben an seinem Hofe erziehen zu lassen; mein Großvater wurde nach Babel geführt und in einen Kerker geworfen.

*) Vgl. Raschi 2. B. der Könige 25, 5.

Unterdessen wurde unser heiliger Tempel durch den babylonschen Feldherrn Nebusar-Adân verbrannt, und die Mitglieder des Synedriums nebst der angesehensten Bevölkerung Jerusalems in Ketten nach Babel geführt. Am Tage nach ihrer Ankunft in Babel war ich Augenzeuge eines grässlichen Schauspiels. Nebukadnezar ließ nämlich die Mitglieder des Synedriums zu sich kommen und befahl ihnen, ihm die Lehre Mosis vorzulesen.*) Als sie zur Stelle kamen, wo es heißt, dass Derjenige, du einen voreiligen Eid gebrochen hat, ein Schuldopfer bringe, worauf ihm der Priester vergeben kann,**) sprach Nebukadnezar: „So ist es? verließ sich also euer König darauf, dass ihr ihm den Bruch des Vasalleneides vergeben «erdet? Gut; er hat schon seine zwei Söhne und seine zwei Augen zum Schuldopfer gebracht; ihr aber sollt mir auch büßen!"

Das Synedrium beteuerte hoch, den Eidbruch widerraten und gemissbilligt zu haben; es fruchtete aber nichts. Nebukadnezar ließ jedes Mitglied an einen Rossschweif binden, und durch die Straßen Babels schleifen.

Der bejammernswerte Anblick der ehrwürdigen Väter steht noch ganz frisch in meinem Gedächtnisse; ihre verstümmelten Leichen schienen zum Himmel zu rufen: „Auf, o Herr! nimm Dich Deiner Sache an, und gedenke Deiner Schmach, die Dir täglich vom Nichtswürdigen widerfährt!"***)

*) Vgl. Raschi und Midrach Êcha 2, 10.
**) Vgl. 3. B. Mosis 5, 4-6.
***) Vgl. Psalm 74, 22.


Der Gott meiner Väter gab mir Gunst in den Augen der königlichen Familie und der Hofbeamten; es mangelte mir an nichts; ich erhielt eine sorgfältige Erziehung, und wurde in allen möglichen Wissenschaften unterrichtet; Musik und Poesie sprachen mich am meisten an. Die Musik ist die Sprache des Himmels, der Seligen im Paradiese; die Poesie ist die Sprache der edlen Seelen, der feinen Gefühle. Wie oft erinnerte ich mich, wenn ich mir ein Lied mit der Harfe begleitete, an unfern Stammvater David, welcher sich so manche trübe Stunde durch den Gesang verscheuchte!
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Geheimnisse der Juden
Marokko. Sultan

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Marokko. Stadttor mit Wachen

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Marokko. Straßenszene in Tangar

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Marokko. Hafen von Tangar

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