Stellung der Frauen in der Gesellschaft

Der französische Kritiker Remy de Gourmont beweist sehr geschickt und geistreich, dass der internationale Typus des „gnädigen Fräuleins“ in Frankreich zwischen 1800 und 1810 entstanden, und — aus dem revolutionären Umsturz und dem Aufblühen des dritten Standes hervorgegangen — ein Produkt der neuen ökonomischen und moralischen Verhältnisse ist. Im XVIII. Jahrhundert gab es keine „gnädigen Fräuleins“: es gab nur verheiratete Frauen, die noch halbe Kinder waren — sie heirateten mit 13 bis 15 Jahren — und „junge Mädchen“, die, wenn sie aus irgend einem Grunde bis zu ihrem zwanzigsten Jahr und noch länger unvermählt blieben, dennoch die Lebensweise ihrer jungen verheirateten Mitschwestern führten und die nachsichtigste Beurteilung seitens einer Gesellschaft fanden, welche, von den Enzyklopädisten erzogen, die Gesetze der Natur guthieß. Voltaire definierte in „Candide“ die Frauenfrage seines Zeitalters kurz, klar und erschöpfend in dem Satz: „Gibt man den Mädchen keinen Mann, so nehmen sie sich selber einen.“ Solch ein junges, noch nicht verheiratetes Wesen ist die übliche Heldin der galanten Literatur des XVIII. Jahrhunderts, von der man starke drei Viertel unseren heutigen jungen Damen nicht in die Hände geben wird, und der Romane der feinen Gesellschaft, über die Schriftsteller, wie Jaques Casanova, Memoiren hinterlassen haben. Die durch die große Revolution herbeigeführte ökonomische Umwälzung Frankreichs hob mit einem Schlage die Sitte der frühen Eheschließungen auf, verlängerte die gesetzliche Wartezeit der Mädchen und rief — auf Grund und unter dem Schutze einer idealistischen Moral — einen steten Kampf mit dem Geschlechtstriebe ins Leben, in dem nach der Meinung des XIX. Jahrhunderts die Erziehung der Frau bestand, und der jenen Typus des „gnädigen Fräuleins“ schuf, der sich fest und unverwüstlich bis auf den heutigen Tag erhalten hat.

Wenn wir dem Kulturleben Russlands im ersten Jahrzehnt des XIX. Jahrhunderts nachgehen, so sehen wir gleichsam den Widerschein derselben Evolution der Frau wie in Frankreich: die frühe Ehe fällt fort, die galanten Sitten verschwinden, es entwickelt sich jenes idealistische Erziehungssystem, das in einer strengen Überwachung der jungen Mädchen bestand. Das ist die Zeit des Aussterbens der weiblichen esprits forts, der Philosophinnen und Freidenkerinnen des XVIII. Jahrhunderts, die, wie z. B. die Fürstin Daschkow, zur Zeit Katharinas wie Inseln aus dem trüben Ozean der allgemeinen Rückständigkeit und Unwissenheit der russischen Frau hervorragten. Nicht nur die Personen sterben aus, mit ihnen zugleich stirbt das Ideal, jener Ehrgeiz, dem Manne ähnlich sein zu wollen, welcher die Daschkow und ihre zahlreichen kleineren Abbilder geschaffen hatte. Jener Typus der Frauen ist am Aussterben, der, herausgerissen aus der schwülen Gefangenschaft des Schlafgemaches vorpetrinischer Schlösser und der trunkenen Gelage Peters des Großen selbst, nach einen geistreichem Buche griff und der kalten Vernunft eines Bayle, d'Alembert, Gibbon oder Montesquieu in die Arme sank. Diese Frauen standen in Briefwechsel mit Grimm, Diderot und Voltaire, inspirierten den „Nakas“ Katharinas II., verfaßten eine Anzahl nicht gerade talentvoller, aber kluger und boshafter Lustspiele und das Märchen vom „Zarewitsch Chlor“, geißelten den Charlatan in dem „Großkophten“ Cagliostro und hatten in der Person der Daschkow den Vorsitz in der „russischen Academie des Sciences“. In ihrem eigenen Heim fühlten die Frauen sich unglücklich und machten auch ihre Familie unglücklich — denn wie konnte ein denkendes Wesen bei solchen Ungeheuern von Männern sein Glück finden, wie sie uns in den Satiren und Memoiren des XVIII. Jahrhunderts geschildert werden! Oder richtiger gesagt: diese Frauen waren tot, obwohl sie am Leben waren, solange sie an den häuslichen Herd gekettet blieben, und erwachten erst zum Leben, wenn sie die Ketten sprengten und ihren Herd umstürzten. Die russische politische Abenteuerin, die Staatsumwälzungen hervorrief, Gesetze erdachte, Kriege erklärte und führte, bei Hofe und bei den Botschaften intrigierte, hatte infolge ihrer unzähligen äußeren Interessen entschieden keine Zeit, sittliche Einkehr bei sich selbst zu halten. Sie eignete sich die philosophischen Formeln dem Wortlaute nach vorzüglich an und wußte dieselben nach Bedarf mit großer Schlagfertigkeit und Grazie zu zitieren.


Ihre sinnlichen Leidenschaften aber, die, während der starke Geist tätig war, das schwache Fleisch bestürmten, bekämpfte sie nur schwach. Daher verschenkte sie von der Höhe des Thrones herab halb Russland an ihre Liebhaber und trat in der Gesellschaft mit der märchenhaften Ruhe des selbstbewußten Lasters auf, wie ja das treffliche Wort eines italienischen Geschichtsschreibers, das Alexander Herzen später aufgriff, das russische Leben des XVIII. Jahrhunderts nicht ohne Grund als eine „Tragödie im Freudenhause“ schildert. Die Frau des Katharina-Zeitalters ist ein großer, erhabener, gebildeter und humaner Geist in der Gefangenschaft des lasterhaftesten und schamlosesten Körpers. Eine Theorie der Selbstzucht, die ihren Wohnsitz in einem anarchistischen, stürmischen und von wilder Sinnlichkeit verzehrten Organismus hat, der keine Herrschaft anerkennen will. Ein Zeitalter junger Mädchen von hoher Sittlichkeit, die, herangewachsen, sich in Kurtisanen verwandeln. Die wundervollen Worte, Gedanken und Gefühle der tugendhaften Sophie in Fonwisins*) „Muttersöhnchen“ (Nedorosl) sind mit noch größerer Beredsamkeit in den Memoiren Katharinas II. selbst und in den ihrer Favoritin Daschkow entwickelt — sowie in den Memoiren einer jeden Abenteuerin größeren oder kleineren Kalibers dieser Epoche. Vor einigen Jahren hatte ich das Glück, ein anonymes Manuskript zu entdecken — die Autobiographie einer Spionin aus der großen Welt des Katharinahofes **). Diese holde Frau macht bei ihrem niederträchtigen Gewerbe keinen Schritt, ohne sich mit einem schönen Aphorismus von Diderot oder mit einem stark gewürzten Zitat von Rousseau zu decken. Das russische XVIII. Jahrhundert verstand es vor allem, ehrlich zu lesen, zu denken, zu fühlen, zu sprechen und zu schreiben; aber mit noch großartigerer Geste — in den Schmutz zu tauchen und sich sorglos in einer Pfütze von Wein, Blut und aphroditischen Getränken zu wälzen. Diese Riesenweiber des XVIII. Jahrhunderts, fest, zäh und ausdauernd, erreichten in der Regel ein langes Leben und konnten noch in den 30er und 40er Jahren des XIX. Jahrunderts ihre äußerst sittlichen und frommen Enkelinnen mit Sprüchen aus der „Prinzessin von Babylon“, Moralgrundsätzen aus dem „Faublas“ und mit religiösen Anschauungen im Stile von Bayles Lexikon erröten machen. Die meisten hatten Stürme wilder Leidenschaften, wenn nicht gar Flecken blutiger Verbrechen hinter sich, aber sie lebten ohne jede Reue. Von dieser wußte auch das Vorbild, das Ideal und der Abgott der Abenteuerinnen dieser Epoche nichts, die Zerbster Prinzessin, die, ohne irgend welche Rechte oder Aussichten zu haben, es dennoch vermochte, eine russische Kaiserin zu werden; obwohl eine Deutsche, schuf, erfüllte und verkörperte sie das mit ihrem Namen und ihrer Persönlichkeit untrennbar verbundene echt russische — das russischste in der russischen Geschichte — glänzende und abscheuliche Zeitalter. Diese Frauen glaubten nicht an ein Jenseits und fürchteten den Tod nur als einen Prozess der völligen Vernichtung. Und sie starben auch auf sonderbare Weise: auf dem Fußboden an einem nicht näher zu bezeichnenden Orte, wie Katharina II. vor der ungeladenen Pistole des nächtlichen Räubers Hermann — wie jene Venus moscovite, die später zu der entsetzlichen Piquedame Puschkins wurde. Es ist zu bedauern, dass keiner von den erstklassigen russischen Schriftstellern den Typus der höfischen Abenteuerinnen mit gebührender Sorgfalt behandelt hat, und dass er die Beute der konventionellen melodramatischen Mache eines Salias, Wsewolod Solowjew oder bestenfalls eines Ljeskow wurde. In Frankreich machte die Tragödie der Guillotine dieser adeligen Generation von halben Gelehrten und halben Kurtisanen, dieser Art „Müttern des alten Regimes“ en gros ein Ende. Bei uns starben sie, jede für sich, in langsamem Verfall, der selbst ihrem Ende den Charakter einer häßlichen Grimasse aus einer banalen Posse verlieh.

*) Denis Iwanowitsch Fonwisin (geb, 1734, gestorb. 1. Dezember 1792) gilt als einer der ersten Schöpfer des russischen künstlerischen Realismus. Seine Komödie „Muttersöhnchen“ gehört zu den klassischen Satiren in der russischen Literatur. Im Gegensatz zu Dershawin und anderen Schriftstellern des Katharina-Zeitalters, die die Kaiserin in geschmacklosen und pompösen Oden verherrlichten, erblickte er in dem Schriftsteller den „Wächter des allgemeinen Wohles“. Alexander Herzen schreibt über ihn: „Er lachte bitter über die halb barbarische Gesellschaft und über ihren Anstrich von Zivilisation. Er war der erste Autor, in dessen Schriften jenes dämonische Prinzip des Sarkasmus und des Unwillens hervorbrach, welches sich fortan durch die ganze russische Literatur hindurchzieht und herrschender Geist darin werden sollte.“ D. Herausg.

**) Siehe mein Buch „Die Menschen unserer nächsten Vergangenheit“; „Eine geheimnisvolle Korrespondentin.“



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Frau
Der legendäre Liebhaber Casanova

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Alexander Puschkin (1799-1837), russischer Nationaldichter

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Denis Diderot (1713-1784), französischer Schriftsteller

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Montesquie (1689-1755), französischer Schriftsteller

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Peter I., der Große (1672-1725), Zar und Großfürst

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