Die Elbjungfrau von Magdeburg

Autor: Ueberlieferung
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Vor einem halben Jahrtausend erschien in Magdeburg an den Markttagen immer ein Mädchen, das so wundervoll und lieblich war, daß jedermann glauben mochte, sie sei nicht irdischer Abstammung. Denn ihresgleichen gab es nirgends.

Niemand kannte ihren Namen, noch ihre Herkunft. Sie war von hohem Wuchs, größer als alle anderen Frauen, und von ebenmäßiger Gestalt. Ihre Haare schimmerten goldglänzend und sahen seidenweich aus; sie reichten aufgelöst bis zu den Knöcheln hinab. Die Augen des Mädchens leuchteten wie blinkende Edelsteine. Sie trug gewöhnlich ein blausamtenes Kleid, ganz von der Farbe der blauen Elbflut, und über die Hüften war um das reiche Gewand eine goldgewirkte Schnur geschürzt, welche die Fülle der prächtigen Falten zusammenhielt. Ihr Leib war von einem schilfgrünen Mieder umschlossen, dessen Nähte mit Perlen besetzt und das mit einem Diamanten geschlossen war. Der Stein war so klar und durchsichtig, daß ihn viele Leute nicht für einen Edelstein, sondern bloß für einen Wassertropfen hielten, worin sich der Glanz der Sonne widerspiegelte. Ähnliche Diamanten, oder richtiger gesagt, perlende Wassertropfen, schmückten auch den Saum ihres Kleides.

Dieses Mädchen tauchte stets allein auf dem Markt auf, es trug ein Körbchen am Arm, kaufte Obst, Brot und Fleisch und eilte dann wieder zum Stadttor hinaus, ohne daß man wußte, woher sie kam oder wohin sie ging. Die Burschen der Stadt Magdeburg, vornehm und gering, nahmen großen Anteil an dieser holden Erscheinung. Doch keinem gelang es, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Endlich wagte es doch einer von ihnen, als sie wieder einmal mit gefülltem Korb den Markt verließ, ihr durch das Stadttor zu folgen und sie anzureden. Sie blieb auch stehen, aber auf seine Frage, wer sie sei und ob er sie begleiten dürfe, gab sie ihm eine verneinende Antwort und bat ihn, er möge nicht mehr in sie dringen und sie ihres Weges ziehen lassen.

Da sich der Jüngling aber nicht abweisen ließ und ihr viel von seiner heißen Zuneigung vorredete, gab sie zur Antwort, sie sei eine Nixe und wohne tief unten auf dem Grund des Elbstromes bei ihrem Vater und ihren Brüdern, für die sie auf dem Markt einkaufen müsse. Trotzdem ließ sich der Jüngling nicht abhalten, noch weiter in sie zu dringen und sie zu bitten, ihm ihre Liebe zu schenken. Er gelobte ihr auch, wenn sie seine Gattin werde, wolle er von der schönen Erde zu ihr unter die Wellen hinabsteigen und immer bei ihr bleiben.

Die flehentlichen Bitten des jungen Mannes rührten die Jungfrau so sehr, daß sie ihm versprach, sie wolle ihre Eltern fragen, ob sie ihn mitbringen dürfe. Er möge genau achtgeben, wenn sie ins Wasser hinabgetaucht sei. Wenn nämlich ein Teller mit einem Apfel auf der Wasserfläche erscheine, dann sei alles gut, dann könne er ihr getrost nachspringen, sie werde ihn in ihren Armen auffangen und zu ihren Eltern und Brüdern führen. Färbten sich aber die Wellen rot, so sei es um sie geschehen und sie habe dann mit ihrem Leben das ihm gegebene Versprechen gebüßt. Denn ihre strengen Brüder hätten sie dann getötet. Noch einmal blickte das Mädchen den Jüngling zärtlich an, dann tauchte sie in die Flut. Schon nach kurzer Zeit wallte es im Strome auf, und das Wasser färbte sich weithin rot wie Blut.

Da wußte der Jüngling, daß die Jungfrau von ihren Brüdern mit dem Tode bestraft worden war, und ging tiefbetrübt nach Hause. Die schöne Jungfrau aber wurde von diesem Tage an auf dem Markt nicht mehr gesehen.