Die baltische Frage

„Befreit vom Drucke einer willkürlichen Zensur, nicht hingerissen und berauscht vom Augenblick und von blindem, vergeltungslüsternem Hasse müssen wir als Anklägerin jener russischen Willkür aufgetreten, unter der unser baltisches Deutschtum Jahrzehnte lang so unsägliches gelitten hat. Nur auf die absolute Ohnmacht der baltischen deutschen Presse während der letzten zwanzig bis dreißig Jahre, nur auf die Tatsache, dass jedes entschiedene Auftreten gegen die russischen Vergewaltigungsakte an unserem geistigen und materiellen Besitz, einen aussichtslosen Kampf gegen übermächtige Windmühlenflügel bedeutet hätte, ist es zurückzuführen, dass die führenden und nach Möglichkeit in nationalem Sinne geleiteten Blätter dieser Presse schweigend zusehen mussten, wie die äußeren Konzessionen, die sie an die Missgunst der Zeit zu machen gezwungen waren, von ihren deutschen Lesern für bare Münze genommen wurden. Dem Ehrgefühl und dem Begriffe von Treue, Pflicht, und staatlicher Ordnung der Besten unter uns hätte es nicht widersprochen auch schon zur Zeit der russischen Herrschaft offen einen scharfen Protest gegen die unduldsamen Russifizierungsbestrebungen der russischen Regierung auszusprechen; in ähnlicher Lage wäre das einem zahlenmäßig geringem Stamme in einem anderen Staate auch gestattet gewesen. Hier hätte aber jeder russische Zensor die Proteste einfach gestrichen und so mussten sie denn, so ungefährlich sie selbstverständlich für die Sicherheit und politische Einheit des russischen Staates auch gewesen wären, unterbleiben, weil es unseren Traditionen und Anschauungen nicht entsprach, andere und heimliche Wege der Propaganda einzuschlagen. — Das ist heute nach dem völligen Umschwung auf allen Gebieten unseres äußeren Lebens gottlob anders geworden. Wir dürfen gegenwärtig frei unsere Meinung bekennen, ganz abgesehen davon, dass der Vernichtungskrieg den der russische Staat und das russische Volk dem gesamten Deutschtum in der Welt angesagt haben, auch uns moralisch restlos von jeder politischen Pflicht und Treue Russland gegenüber entbindet."

„Ein Gefühl der Bitterkeit und des Grolles muss jeder, soweit noch Volkstum und deutsches Wesen in ihm leben, überkommen, wenn er heute zurückdenkt an die letzten zwanzig bis dreißig Jahre. Die ältere Generation, noch frei und deutsch erzogen 'und in einer Zeit wurzelnd, da man hierzulande einen ernsten Herrenstolz darin setzte, Deutscher zu sein und „mit dem Gesichte nach Osten" dort stets nur inferiore Rassen zu erblicken, hat sich um tägliches Brot und tägliche Notdurft willen beugen und fügen müssen, innerlich zerbrochen und nach außen hin verstummt. Die jüngere Generation ist schwankend und ungewiss die neuen vorgeschriebenen Wege gewandert, ein unfreies und ein zu geistiger Unfruchtbarkeit verurteiltes Geschlecht, das für das äußere und öffentliche Leben meist Mittelmäßigkeiten und Kleine versammelte, kaum aber je einen Großen ausschied, der dann doch, im richtigen Gefühl die Bodenständigkeit verloren zu haben nach dem Mutterlande zurückwanderte, für die alte Heimat verloren. Im Zeichen des gewohnheitsmäßigen Kompromisses oder des Verzichtes auf Volkstum und Deutschtum, im Zeichen der steten anerzogenen Heuchelei oder des Verrates an Muttersprache und Wiege ist dann die jüngste Generation herangewachsen. Das Mutterland hat im Laufe dieser schweren Jahre, da wir, ein deutscher Volkssplitter im Osten, gegen eine Übermacht von Feinden mit furchtbarer Folgerichtigkeit den Kampf verloren, nur ganz verschwindendes Interesse an uns genommen. Gedrängt vom reißenden Strome der Geschichte fanden das junge Deutschland und seine Führer in jenen Jahren wichtigere und größere Aufgaben in anderen Richtungen; uns ließ man beiseite und gab uns dem Andrang der slawischen Flut preis. Selbst in dem stürmischen und wüsten Jahre der allrussischen und lettischen Revolution haben nur einzelne Herzen in Deutschland warm für den bedrängten Bruderstamm in den Ostseeprovinzen geschlagen: die tätige Hilfe, die uns damals vonseiten des Mutterlandes geleistet worden ist, ragte über die Tatsache einiger sympathischer Broschüren, persönlicher Gastfreundschaft für einzelne Flüchtlinge und gelegentlicher Geldsammlungen nicht hinaus. Aber auch hieran trugen wir zum Teile selbst die Schuld. Im Jahrhundert vorher hatte das baltische Deutschtum sich in unverantwortlicher Kurzsichtigkeit und nur allzu vertrauensvoll dem russischen Staate und der russischen Gesellschaft angeschlossen und man tat daher in Deutschland im Grunde nur Recht, uns nicht als Voll-Deutsche anzuerkennen. Selbst als die Welle des nationalen Erwachens zu Ende des vorigen und zu Beginn des neuen Jahrhundert die Völker und Stämme Europas überflutete, dass sie sich auf ihr Volkstum besannen und den Drang zur nationalen Sammlung empfanden, hat es ja hierzulande noch Leute und Gesellschaftskreise gegeben, die aus tiefster Überzeugung ihren Volksgenossen ein von Russland nie anerkanntes „russisches Staatsbürgertum" und eine Abkehr von alldeutschen Gedanken predigten."


„Halten wir in diesem Sinne ehrliche Rückschau und vergegenwärtigen wir uns in dieser Weise all' die seltsamen, widersinnigen Erscheinungen, die unser nationales Leben durch Jahrzehnte beeinflusst und korrumpiert haben, so werden wir wohl begreifen weshalb wir den Zusammenhang mit dem Mutterlande verlieren mussten, und weshalb wir heute allen Grund haben zu beklagen, dass nicht unsere gesamte Gesellschaft sich der großen nationalen Bedeutung der jüngsten Gegenwart bewusst ist."

„Heute, tief beeindruckt vom gewaltigen Siege des deutschen Gedankens und des Deutschtums in der Welt, tief ergriffen von der Einmütigkeit des deutschen Volkes — heute ist es für uns Deutschbalten ein traurig Ding, Rückschau und Einkehr zu halten. Unerbittlicher russischer Druck, Gleichgültigkeit in nationalen Fragen und ein unverantwortliches Aufgehen im russischen Staat unserseits und als eine überraschende Folge alles dessen ein unausrottbares Misstrauen gegen uns von russischer Seite, das den Stolz unserer Russischgesinnten tief verletzen musste — das ist das Ergebnis eines Rückblickes in unsere Vergangenheit. Es ist niederdrückend genug, wird aber, so wollen wir ernst und würdig hoffen, zur segensreichen Lehre für die neue Zukunft an uns werden.

Die Dinge haben sich mittlerweile geklärt: gehen wir vom gesunden, nationalen Standpunkt aus, so müssen wir heute trotz der noch fortrollenden Würfel des Schicksals doch bekennen, dass eine Rückkehr der altem Machthaber, ein Wiedergeltend werden der alten politischen Prinzipien unser Deutschtum hierzulande nicht überdauern kann. Weder entwürdigende Verstellung, noch — im Grunde immer unbegreiflich gewesene — ehrliche Sympathie können das wütende Misstrauen je überwinden, das man uns von Halbasien her entgegenbringt. Die Geschichte selbst hat gewaltigen Umschwung vorbereitend, auch uns mit hineingerissen in den Strom der großen Entscheidungen — selbsttätig wird sie hoffentlich auch unsere fernere Zukunft glücklich formen; der Glaube an das Gesetz von der historischen Folgerichtigkeit muss uns hier, über menschliche Zweifel hinweghelfen: es muss anders werden.

Dieses Anderswerden können sich freilich viele nicht vorstellen und manche wünschen es nicht einmal. Sie stellen sich auf den „realpolitischen" Standpunkt und gehen von dem etwas materiellen, in der Tat im Grunde nicht ganz unwahren Grundsatz aus, dass uns schließlich die Verwirklichung unserer nationalen Ideale wenig hilft, wenn wir nebenbei im realen Kampf ums Dasein unterliegen. — Dieser Meinung wäre nur ernst entgegenzuhalten, dass wir überhaupt fürs Leben unbrauchbar geworden sind, wenn wir wirklich den Existenzkampf nur noch im Rahmen der breiten, keine außergewöhnliche Tüchtigkeit und Befähigung erfordernden Verhältnisse der russischen Vergangenheit gewachsen sind und unterliegen müssen, wenn neue schwierige Bedingungen in die Erscheinung treten. So ist es aber auch gar nicht: auch dem Alltag mit seinen Forderungen und Konsequenzen des materiellen Lebens werden sich in Zukunft die Wege denkbar günstig ebnen und gerade die nationale Wiedergeburt, das Erwachen des nationalen Zugehörigkeitsgefühls werden unsere wirtschaftliche Produktionsfähigkeit stärken und regenerieren."

Dohrmann schließt mit den bemerkenswerten Worten:
„Es fällt schwer heute zielsicheren und willensstarken Ausblick zu halten. Das unwillkürliche, sich immer wieder aufdrängende Gefühl, dass die Entscheidung auch für uns noch nicht endgültig gefallen ist, lähmt uns und verwandelt manchen annehmbaren Vorschlag für die Zukunft unter dem Gesichtswinkel realer Kritik in eine von hunderterlei Voraussetzungen abhängige Illusion. Mit menschlich entschuldbarer Vorsicht und Furcht, die Dinge übers Knie zu brechen, müssen wir rechnen. Schließlich steht unser gesamtes öffentliches Leben noch ganz im Zeichen normen- und ordnungsloser Kriegszeit. Wir werden aber den Mut nicht sinken lassen dürfen und ein Zurück gibt’s auch nicht mehr: in jedem Falle ist die Rückschau in die Vergangenheit trostlos, während der Ausblick in die Zukunft uns ein, wenn auch eben noch verschwommenes und traumhaftes, so doch glückbedeutendes Bild unausbleiblicher nationaler und persönlicher Freiheit zeichnet."

Diese Worte werden verständlich, wenn wir uns in die letzten Jahre der Vergangenheit in Kurland vertiefen. Wie von einem furchtbaren schweren Alp befreit, wirkte der Einzug der deutschen Truppen auf alle nicht slawischer Abstammung. Nur die einzige Angst der Deutschen in den Ostländern war die, ob auch die Deutschen dauernd bleiben werden. Denn wenn die Russen zurückkehren würden, so würde dies das Verderben für alles eingesessene Deutsche im Baltenlande sein.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Baltenländer und Litauen