Die Baltenländer und Litauen

Beiträge zur Geschichte, Kultur und Volkswirtschaft unter Berücksichtigung der deutschen Verwaltung
Autor: Gesammelt und herausgegeben von Otto Kessler, Erscheinungsjahr: 1916

Exemplar in der Bibliothek ansehen/leihen
Themenbereiche
Von Otto Kessler erschienen ferner:
Serbien, unter Berücksichtigung der deutschen Interessen. Berlin 1909.
Balkanbrand, I. Der Krieg gegen die Türken. Leipzig 1913.
Balkanbrand, II. Der Krieg um Mazedonien. Leipzig 1913.
Das deutsche Belgien. Berlin 1915.
Das deutsche Polen. Berlin 1916.
Die Ukraine. München 1916.
Jahrbuch für den Balkanhandel, a) Serbien, b) Bulgarien, c) Rumänien, d) Griechenland, e) Europäische Türkei, Montenegro, Albanien. Berlin 1914.
Inhaltsverzeichnis
  1. Die baltische Frage
Vorwort.

Ein urdeutsches Land ist durch die Ereignisse des Weltkrieges zum Mittelpunkte unzähliger Hoffnungen und Bestrebungen geworden, die während der Dauer des Feldzuges eine öffentliche Aussprache nicht gestatten; der Zweck der vorliegenden Arbeit ist demnach, weite Kreise "mit der Kultur und Wesensart der baltischen Länder bekannt zu machen, die seit der Gründung der deutschen Kolonie in den Ostseeländern, auch in der polnischen, schwedischen und russischen Zeit bis heute, deutsch geblieben sind. Auch die Kultur der Letten und Esten ist deutsch. Sie verdanken dieselbe den Deutschen, insbesondere den Pastoren, dem Adel und den Ritterschaften, und in den Städten dem deutschen Bürgertum. Wir entnehmen ferner dieser Arbeit, dass der russische Einfluss auf diese Kultur in hohem Grade zersetzend und zerstörend wirkte, dass derselbe aber nur ein äußerlicher ist und im wesentlichen durch die russischen Beamten aufrecht erhalten wird. Deutsche, Letten und Esten sind evangelisch; griechisch-orthodox ist nur ein kleiner Teil der beiden letzteren, da er gewaltsam und künstlich konvertiert worden ist. Die Kultursprache ist die deutsche, Verwaltung, Verfassung und Gericht sind den deutschen ähnlich. Auch geographisch gehören Livland, Kurland und Estland zusammen und sind durch Seen, Flüsse und Sümpfe von Russland scharf geschieden. Die Beherrschung der Ostseeprovinzen sichert demnach die Beherrschung der Ostsee und ihres Handels, des Domimaris Baltici.

Das in dieser Arbeit über Litauen Gesagte soll zur Ergänzung des oben erwähnten dienen, es war erforderlich, um ein klares Bild über die Länder jenseits der deutschen Nordostgrenze zu entwerfen, zumal viele Beziehungen in Handel und Wandel in diesen Ostländern identisch sind. Die Litauer sind zum größten Teil katholischen Glaubens und von Polen von jeher beeinflusst.

Dank einer großen Anzahl von heimischen Kennern dieser Länder, die in entgegenkommenster Weise umfangreiches dokumentarisches Material zur Verfügung stellten, wird diese Arbeit gewiss dazu beitragen, das neue Ostland, von dem augenblicklich große Teile unter deutscher Verwaltung stehen, in weiteren Kreisen bekannt zu machen.
                              Der Herausgeber.


                        Inhalt.

Vorwort
I. Die baltische Frage
II. Die litauische Frage
III. Geschichte der baltischen Provinzen und Litauens:
      1. Aus der russischen Geschichte
      2. Aus der Geschichte der Baltenländer
      3. Aus der Geschichte Litauens
IV. Die Kultur und Bevölkerung der Baltenländer und Litauens
V. Litauer, Letten und Esten:
      1. Die politischen Ziele der Litauer
      2. Das Deutschtum in Litauen
      3. Litauen unter deutscher Verwaltung
      4. Die Letten und die Esten
      5. Letten und Russen und die lettischen Legionen
VI. Die Deutschbalten:
      1. Die staatsrechtliche Stellung
      2. Recht und Gericht
      3. Die baltischen Ritterschaften
      4. Die Glaubensverfolgung
      5. Das Deutschtum
      6. Die deutsche Kolonisierung
      7. Die deutschen Schulen im Baltikum
VII. Volkswirtschaft:
      1. Allgemeines
      2. Die Landwirtschaft Kurlands
      3. Verkehrswege im Baltikum
VIII. Baltische und litauische Handelsstädte, Geschichte, Handel und Industrie:
      1. Riga
      2. Die übrigen Haupthandelsplätze
IX. Baltischer Geist:
      1. Gesammelte Artikel aus der baltischen Presse
X. Aus russischen Zeitungen und aus dem Gebiete des "nichtbefreiten" Baltikum:
      1. Die „Nowoje Wremja" und das deutsche Libau
      2. Der „Russkoje Slowo" und Kurland
      3. Baltische Stimmen aus Livland
XI. Statistik
XII. Betreffend Gerichtsbarkeit:
      1. Bürgerliches Recht
      2. Ersatzpflicht der Beamten
      3. Hypotheken und Grundbuchangelegenheiten
      4. Konkursrecht
      5. Geschäftsaufsicht für Zahlungsunfähige
      6. Gebühren und Kostenwesen
      7. Freiwillige Gerichtsbarkeit
XIII. Verordnungen der deutschen Verwaltung in Kurland und Litauen:
      1. Zollordnung
      2. Zollrolle
      3. Ausführungsbestimmungen vom 3./8. 15. zur Zollrolle
      4. Verordnung betreffend Änderung der Zollrolle
      5. Verordnung zur Regelung des Reiseverkehrs der Zivilbevölkerung
      6. Grenzregelung
      7. Einführung des Passzwanges
      8. Der Postverkehr
      9. Eisenbahn-Verkehr (Personen-, Güter- und Tierverkehr) der Landeseinwohner
      10. Grund- und Gewerbesteuerordnung
      11. Gerichtsverfassung
      12. Prozessverfahren
      13. Das Strafrecht
      14. Das Versicherungswesen in Litauen

                        Die baltische Frage.
                        Der Balten Bitte.

Wer ist in der Welt so arm wie wir,
So rechtlos und verlassen?
Das eigne Reich zertritt uns schier
In seinem blindwütigem Hassen.
Gott sei's geklagt im Kriegesbrand:
Wir Balten haben kein Vaterland!

Uns Balten strahlt ein Traumgesicht
Ob dieser blut'gen Erden,
Wir aber zittern: Ist es nicht
Zu schön, um wahr zu werden?
Wer weiß — einst weht des Friedens Band,
Und wir Balten, wir haben ein Vaterland? — —

N'un zieht des Reiches Feind heran,
Der Feind, der unsres Blutes.
O Deutschland komm, wir fleh'n dich an
Wir hoffen frohen Mutes,
Du baust mit deiner Eisenhand
Uns Heimatlosen ein Vaterland.
                    Elisabeth Goerike, Talsen, Kurland.

Die Lösung der baltischen Frage gehört zu den hervorragendsten Aufgaben, die der Weltkrieg zur dringenden Notwendigkeit gemacht hat. Es ist die Absicht des Herausgebers, durch die in der vorliegenden Arbeit wiedergegebenen Äußerungen erster Kenner der Baltenländer und in diesen urdeutschen Gebieten ansässiger oder ansässig gewesener Deutsch-Balten ein historisches, volkswirtschaftliches und für die deutsche Kolonisation äußerst wichtiges Bild wiederzugeben, wie es den heutigen Bestrebungen aller derjenigen Kreise entsprechen dürfte, denen die Wiedergeburt einer jahrhundertelangen deutschen Tradition unter fremder Herrschaft und russischer Knebelung am Herzen liegt. Ein deutscher Offizier, der als einer der Ersten kurländischen Boden betrat, hat in Begeisterung seinen Gefühlen in folgenden Worten Ausdruck gegeben:

„Deutsche, lernt Kurland kennen!

Oft im Leben ist das Gute den Menschen nah, und sie wissen es nicht. Achtlos gehen sie vorüber, bis das „Zuspät" ihnen die Augen öffnet.

Wenn ihr wüsstet, welch ein Kleinod, unbekannt und unerkannt, umbrandet vom Meer, im Schütze seiner unermesslichen Wälder auf seinen Erlöser hofft, ihr würdet staunen, ihr würdet sagen, wie ist es möglich, dass wir so blind waren.

Hier haben die Moskowiter der Natur nicht ihren Zauber nehmen können. Hier wohnt deutsche Art. Und zu der gehören auch die lettischen Bauern, die nicht geflohen sind. Auch sie stehen durch jahrhundertelanges Zusammenleben mit Deutschen geformt uns nahe und werden in kurzer Zeit in uns aufgehen. Auch sie zieren die Eigenschaften unseres Volkes: die Liebe zum Lande und der nie rastende Fleiß, ihm seine Schätze abzugewinnen. Und mit solchen Leuten können wir leben. Welche Schätze warten hier auf uns! —

Hunderte von Kilometern sind wir durch das Land geritten, und wenn man sich heute sagte: „Schöner kann die Gegend nicht werden," am nächsten Tage leuchtete aus schimmernden Feldern und blumigen Matten ein Schloss nach dem anderen auf. — Auf Höhen gebaut, von Bäumen umgeben, ragen die schönen Türme der Kirche, in den Abendhimmel. Sie umgebend neigt sich der Roggen golden unter der Schwere der Ähren. Unermessliche Strecken des Brotkorns harren der Schnitter. Blaugrün winkt der Hafer im lauen Winde. „Kurland hat für drei Jahre Hafer," sagte mir ein alter Bauer.

Die Kartoffelfelder stehen in schneeiger Blüte, meterhoch wächst das Kraut.

Lieblichen Duft hauchen die weiten Kleefelder. Von jeder Höhe schweift der Blick in eine neue schönere Ferne. Silberne Bänder durchziehen das Land. Edelfische schwimmen in den Gewässern. Riesige Karpfenteiche gibt es überall. Versteckt aus Büschen und Obstbäumen grüßen Bauernhöfe. Unter alten Eichen weiden trotz aller Requisitionen immer noch zahlreiche Herden.

Schönheit und Reichtum überall — Gottesländchen nennen die Russen Kurland.

Tief hängen heute die Wolken des Krieges über dem schönen unglücklichen Lande. Was wird aus ihm werden? Helfen wir alle dazu, dass einst dieser goldenen Au wieder die goldene Sonne lacht. Manchmal nur mischt sich in diesen Kelch ein bitterer Tropfen. Gibt es nicht immer noch Kleinmütige, die ein größeres deutsches Vaterland für unmöglich halten? Ein russischer Diplomat hat einmal gesagt: „Wehe Russland, wenn Deutschland erkennt, dass seine Kolonisationsaufgaben im nahen Osten liegen. Aber unverständlicherweise ist dieser Gedanke nicht lebendig." —

Ahnt man in Deutschland, was auf dem Spiele steht, wenn altes deutsches Kulturland an die Slawen ausgeliefert wird und der ewiglandhungrige, unersättliche russische Bauer sich dieser Gebiete für immer bemächtigt?"

Diese herrlichen Worte sind jedem Deutschen, den das Waffenhandwerk heute in diese Länder geführt hat, wie aus der eigenen Seele gesprochen. In den Kreisen der deutschen Gesellschaft aber, die die ersten Kriegsmonate in diesen Landen noch unter der russischen Gewaltherrschaft zu leben gezwungen waren, beginnt erst langsam eine Dämmerung über die neuen Zustände in ihrer Heimat. Sie wagen noch nicht ihre Gefühle der bedingungslosen Loyalität gegen den russischen Staat zu lösen, als sei es ,,ein seltsamer Zwischentakt, der vorübergehend den trägen Lauf der Dinge dortzulande" störe. Diese charakteristischen Erscheinungen des baltischen Deutschtums sind die Folgen und Nachwehen einer für das deutsche Volkstum verhängnisvollen Vergangenheit. Mit Recht werden in der Libauschen Zeitung, der ersten reichsdeutschen Zeitung in den besetzten Teilen der Ostseeprovinzen, diese Folgen mit mangelhafter politischer Erziehung, ungenügender Selbständigkeit im politischen Denken und der Verkümmerung des nationalen Selbstbewusstseins in gewissen Kreisen der deutschen Gesellschaft gekennzeichnet. „Denn, wollen wir nicht“, sagte Hanns A. Dohrmann, der Chefredakteur des genannten Blattes, „auch weiterhin langsam aber sicher am Ruin und unwiderruflichen Niedergang unserer Eigenart durch sträfliche Gleichgültigkeit in nationaler Hinsicht mitarbeiten, so müssen wir umkehren, und neue Wege und neue Bahnen einschlagen, die keine Winkelzüge und Irrgassen, Opportunitätsakte und Kompromisse mehr kennen.

„Aus Rückschau und Ausblick, aus den konkreten Lehren der Vergangenheit und den an eine bessere Zukunft geknüpften abstrakten Hoffnungen, aus Abwägen und Dawiderhalten muss sich unser Urteil über die einzuschlagenden neuen Wege bilden. Das Gebiet der nationalen Selbsterhaltung kommt in dieser Richtung für uns besonders in Betracht. Es wird daher eine unserer vornehmsten Aufgaben sein müssen, festzustellen, was wir auf diesem Gebiete in der Vergangenheit versäumten, und was auf diesem Gebiet in Zukunft anders zu handhaben sein wird, als das bisher geschehen ist. In Betracht zu ziehen werden wir auch haben, inwieweit wir in unserer nationalen Betätigung in der Vergangenheit direkt und indirekt behindert waren und welche Möglichkeiten sich uns nunmehr bieten."