Abschnitt. 1 - „Alles besetzt.“ In Thüringer Sommerfrischen. Oberhof, Friedrichroda.

Mein Schicksal auf dieser Reise bleibt immer dasselbe; ich komme stets an einen andern Ort, als ich geplant habe. Weil ich von Wittenberg nach Oberhof wollte, saß ich eine Woche in Erfurt fest und bin nun ebensolang in Schwarzburg. Natürlich schüttle ich darüber selbst den Kopf, lasse ihn aber nicht hängen. Denn das müßte schon ein arger Ort sein, der mir in meiner Reiselaune nicht für einige Tage als der schönste der Welt erschiene. Jetzt ist mir Schwarzburg dieser schönste Ort.
Grundlos habe ich übrigens nicht auf Oberhof verzichtet. Zwei Tage vor meiner Abreise aus Erfurt war ich Zeuge der Verzweiflung zweier Menschenseelen, denen sämtliche Oberhofer Gastwirte auf ihre telegraphische Anfrage geantwortet hatten: „Alles besetzt.“ Es waren Mutter und Tochter, die eine so fett und die andere so mager, als stammten sie aus Pharaos Traum; übrigens war die Tochter schon lange ein junges Mädchen. Ein sehr verheirateter Mann in meinen Jahren erwirbt sich leicht das Vertrauen alter Damen; so hatte mir die Mutter gestanden, daß sie um der Tochter willen nach Oberhof wolle, weil sie gehört habe, daß sich dort „leicht etwas knüpfe“. Ich begriff ihre Verzweiflung über die Absage und riet ihr dann, nach Friedrichroda zu gehen, denn, dachte ich, in diesem Falle kann sich nur noch durch ein Wunder Gottes etwas knüpfen, und will er dies, so kann er's in Friedrichroda ebenso machen wie in Oberhof. Sie folgte diesem Rate; nun aber machte ich mich ans Telegraphieren. Zwei Antworten lauteten ablehnend, die dritte aber: „Provisorisches Zimmer reserviert.“ Das war ein mir neuer Terminus, ich wollt es versuchen und nahm meine Karte nach Oberhof.
Sicherlich wäre ich auch hingelangt, wenn die Sonne geschienen hätte. Ist's draußen hübsch, so guckt man eben zum Fenster hinaus und denkt nicht nach. Aber nun begann es zu regnen, kaum daß der Zug bei Neudietendorf in die Berge lenkte. Da kam mir der Gedanke, daß der Begriff des provisorischen Zimmers doch eigentlich auch ohne Erfahrung zu ergründen sei: ein Zimmer, in dem man keinem Menschen zumuten kann, länger als eine Nacht zu bleiben – und ich blätterte im Baedeker nach einer anderen Sommerfrische. Dabei fiel mir Schwarzburg in die Augen: „Weißer Hirsch, mit prächtiger Aussicht auf Wald und Wiese, wo allabendlich ein 70 bis 80 Stück zählendes Rudel von Hirschen zur Tränke im Schwarzabach erscheint“ – und ich griff nach dem Kursbuch; in Arnstadt mußte ich aussteigen. Aber halt – wenn es da nicht einmal ein „provisorisches“ Zimmer gab? Ich sah mir meine Fahrtgenossen an; mir gegenüber saß ein altes, rundliches Ehepaar aus Berlin, das immerzu lachte; das sah mir wohlgenährt und spießbürgerlich genug aus, in Thüringer Sommerfrischen genau Bescheid zu wissen. Aber sie wußten's nicht; „wir gehen ja zu Fuß nach Kissingen!“ sagten sie und lachten hell auf. Ein Witz also, aber was steckte dahinter? „Zu Fuß nach Kissingen“, wiederholten sie, und erst, nachdem sie sich Tränen über die Backen gelacht hatten, kam die Aufklärung: sie hatten bei einem Herrn Fuß in Kissingen Zimmer gemietet. In einer Ecke saß ein düster dreinschauender Herr mit einer Aktenmappe; er lachte nicht, sagte aber herablassend: „Dieses ist ein guter Witz!“ und fragte auch, was ich zu wissen wünschte. „Der ›Weiße Hirsch‹ ist nicht voll!“ versicherte er dann. Woher er dies wisse? „Dieses weiß jedermann.“ Diese Bestimmtheit des Ausdrucks und die ungemeine Würde fiel mir auf; das war kein Richter oder Rechtsanwalt, sondern vielleicht sogar ein Gerichtsvollzieher. Und dem war auch so.
In Begleitung des düstern Würdenträgers, der nach Stadtilm wollte, kletterte ich im Arnstädter Bahnhof einige Treppen auf und nieder, bis das Perronchen erreicht war, von dem das Züglein ins Schwarzatal abgeht: alles klein und niedlich. Der Himmel begann sich aufzuklären, der Blick ins Geratal, das die Bahn auf einem Viadukt überschreitet, war hübsch, aber mich lockte die Gelegenheit, Näheres über die Weltanschauung eines Gerichtsvollziehers zu erfahren. Es kam jedoch nicht viel dabei heraus. „Einige zahlen“, sagte er gewichtig, „aber die meisten muß man pfänden.“ Da er in Arnstadt geboren war, so fragte ich ihn, ob er die Marlitt persönlich gekannt habe. „Marlitt?“ fragte er langgedehnt. „War das eine Geschäftsfrau?“ Das konnte ich mit gutem Gewissen bejahen, ließ dann aber auch dies Thema fallen.
In Stadtilm bekam ich einen weit netteren Reisekumpan. Gleich wie er einstieg, gefiel mir der angegraute Herr mit dem freundlichen Ausdruck und den klaren, wohlwollend und doch forschend blickenden Augen ausnehmend gut. Kein Wunder, er erinnerte mich an den mir teuersten Menschen, meinen Vater, nicht im Schnitt der Züge, aber in ihrem Ausdruck und diesem Blick der Augen. Das muß ein Arzt sein, dachte ich, ein Landarzt, wie mein Vater war, und sprach ihn kurzweg „Herr Doktor“ an. Da er zudem meinen Namen kannte, so gab das bis Oberrottenbach, wohin er zu einer jungen Mutter fuhr, eine vergnügte Plauderei zwischen zwei alten Knaben, denen das Leben die Freude an Welt und Menschen nicht hat vergällen können. Auf jeden Fels und Baum am Wege, der ihm gefiel, machte er mich aufmerksam und erzählte von den Gräberfunden am Singer Berg, als die Bahn gebaut wurde: Trinkgefäße und Frauentand; „die Männlein und Weiblein waren nicht viel anders als heute“. Dann fragte er mich nach meinem Ziel, und als ich's nannte, beruhigte er mich zunächst mit der selben Bestimmtheit wie der Herr Gerichtsvollzieher, daß es im“Weißen Hirsch“ ganz gewiß Platz gebe, und fragte dann tiefernst, ob im deutschen Volke plötzlich die Bücherkaufwut ausgebrochen sei. Als ich erwiderte, daß derzeit noch keinerlei Anzeichen einer so bedenklichen Wandlung des Volkscharakters vorlägen, riet er mir, anderswohin zu gehen, und nannte gleich ein paar Orte, die freilich nicht an der Bahn lagen. „Da sitzen Sie mitten im Volk“, meinte er, „der ›Weiße Hirsch‹ taugt besser für holländische Königinnen und dito Bankiers.“ Zum Schluß erzählte er von der jungen, reichen Bauersfrau, zu der er fahre. „Sie hat ja alles getan, sich und das Kind gesund zu erhalten. Eine Schwangere darf kein Wasser schöpfen, über kein Beet steigen, keine schadhafte Tanne ansehen, weil sonst das Kind eine Hasenscharte bekommt, keine Leiche ansehen, weil es sonst blaß bleibt; das hat die Hanne vermieden. Auch hat sie bis heute allnächtlich Licht gebrannt, weil die Kobolde ihr sonst einen Wechselbalg untergeschoben hätten; und weil der Rottenbach nah ihrem Haus vorbeifließt, so hat sie sich hingeschleppt, sobald sie konnte, hat ein Pfennig-, ein Fünfpfennig- und ein Zehnpfennigstück hineingeworfen und dazu gesagt: ›Da hast du das Deine, laß mir das Meine‹, das stimmt nämlich den bösen Wassermann sanft. Auch ist das Kind am Donnerstag zur Welt gekommen, nicht etwa am Freitag, sonst hätte es kein Glück, auch nicht am Sonnabend, sonst müßte es von den Juden Geld leihen; wäre es gar am Dreifaltigkeitstag geboren, so müßte es am Galgen sterben. Selbstverständlich hat sie auch den Säugling nie in den Keller tragen lassen, sonst käme er ins Zuchthaus, sich ihn nie durchs Fenster reichen lassen, sonst bliebe er klein, und damit er einst fein singe, hat er ein Lerchenei verschlucken müssen. Bei solcher Fürsorge für sich und das Kind begreift sie gar nicht, warum sie seit acht Tagen so elend ist und auch ihre Milch nichts taugt. Und da unbegreiflicherweise das Besprechen, eine Latwerge und sogar ein Aderlaß nichts genützt hat, so hat sie mich vorgestern endlich holen lassen. Diagnose: gründlich verdorbener Magen infolge unmenschlichen Überfressens bei der Taufe. Natürlich glaubt sie mir nicht, hat aber hoffentlich meine Medizin genommen; gewiß weiß man das nie.“ – „Es ist noch viel Aberglauben hier?“ – „Wo nicht im Volke? Aber daneben viel Liebe und Hunger, viel Poesie, Sagen und Lieder, daß die Berge widerhallen. ›Thuringia cantat!‹ Und darum: ins Volk, lieber Herr!“ Das wiederholte er, als wir auf dem Bahnsteig in Oberrottenbach schieden. Denn unser Züglein dampfte nun nach Blankenburg weiter, ich aber bestieg ein anderes, noch zierlicheres, das hier ins Schwarzatal abzweigt.
Ich war nun allein im Coupé, und während mein Blick (die Wolken ballten sich wieder, aber noch schien die Sonne) über das Bergland hinschweifte, in das wir sachte emporklommen, über die triefenden Tannen des Buchbergs zur Rechten, des Kesselbergs zur Linken, über die grauen raschen Wellen der Rinne und die Hütten von Köditz, da erwog ich in meinem Gemüte, wohin es mich mehr ziehe, in ein Luxushotel im Tal oder in einen alten, behaglichen Gasthof oben, wo ich „ins Volk“ konnte, und war damit in einer Sekunde fertig. Bis Sitzendorf also wollte ich im Zuge bleiben und dann in einem Wägelchen nach Oberweißbach fahren. Aber da öffnete, als das Lokomotivchen immer langsamer, immer schwerer keuchend nicht mehr talaufwärts, sondern durch tiefe Einschnitte gegen Bechstein emporklomm, zur Wasserscheide zwischen Rinne und Schwarza, der Himmel alle Schleusen, daß ich vor lauter Plätschern, Prasseln und Gurgeln der Wasser kaum noch hören konnte, was die Waggonräder sagten. So ein Bergbahnchen hat keinen Sturmtakt wie ein Schnellzug im Flachland; das geht ganz behaglich: „Langsam, langsam, ich hab Zeit.“ Aber was riet mir dies Orakel nun? Ich schwankte. Bald hörte ich ganz deutlich: „Königinnen, Banker – nein!“ und dann wieder: „Nässe, Nässe, geh doch hin!“ Und als bei der Einfahrt in den Schwarzburger Bahnhof der Regen wie eine Wand vor dem Coupéfenster stand, flüchtete ich unter aufgespanntem Schirm auf den Bahnsteig.