Abschnitt. 17 - Seit fünfzig Jahren geht's in Erfurt sichtbar aufwärts; ...

Der Wiener Kongreß gab Erfurt an Preußen zurück; es ist zunächst von den Geschicken der Stadt nicht viel zu berichten. Die Universität wurde nun auch formell aufgehoben; Hauptstadt der neuen Provinz Sachsen wurde Magdeburg, Sitz des Provinziallandtags Merseburg; Erfurt war damals für Preußen vornehmlich als Festung wichtig, was jede Ausdehnung der Stadt hinderte. So war die Zunahme an Seelenzahl und Wohlhabenheit eine langsame; freilich war sie eine stetige, weil mit der wachsenden Kultur Blumen ein immer begehrterer Artikel wurden. Die Erfurter galten in Magdeburg und Berlin als unzufrieden; man schickte ihnen darum die schneidigsten Beamten, was sie seltsamerweise nicht glücklicher machte. Kein Wunder, daß es 1848 hier (24. November) zu einem blutigen Aufstand und Straßenkampf kam; fast ein Jahr währte dann der Belagerungszustand. So tagte 1850 das Unionsparlament in einer Stadt, die genauer als andere erfahren hatte, daß Deutschland einer Verfassung bedürfe. Freilich war sie nicht deshalb dazu erkoren, sondern weil Radowitz Erfurt liebte. Er ist auch hier begraben. Wollte die Grabschrift seinen bleibendsten Ruhmestitel verzeichnen, sie könnte nur lauten: „Es war der verdienstvollste Autographensammler Deutschlands“ – die Handschriften, die er mit unermüdlichem Eifer zusammentrug, sind eine reiche Quelle unserer literarischen und politischen Geschichte. Er aber wollte ja Deutschlands größter Staatsmann sein. Mit Josef von Radowitz ist viel Talent und noch mehr Willensschwäche, viel redlicher Wille und noch mehr Unvermögen der Tat ins Grab gesunken.
Seit fünfzig Jahren geht's in Erfurt sichtbar aufwärts; nun ist's, sagt ich schon, eine aufblühende Handels- und Industriestadt. Mit Leipzig oder Halle kann es nicht in Wettbewerb treten, aber doch behaglich leben und sich entwickeln. Das gilt freilich vom Materiellen mehr als vom Geistigen; große Zeitungen oder Verlagshandlungen hat Erfurt nicht; das Theater soll nicht auf Rosen gebettet sein, so viele es ihrer auch hier gibt. Immerhin erweisen Rathaus und Denkmäler sowie die Sammlungen der Stadt ein gewisses Interesse auch für jene Dinge, die „viel kosten und nichts einbringen“ – nichts als ein menschenwürdiges Dasein... Aber es sind andere Produkte, die heute Erfurts Ruhm in die Welt hinaustragen. Die meisten Hosenträger, die in Deutschland verbraucht werden, sind hier gefertigt, daneben sehr viele Damenmäntel und Milliarden Schuhe; jeder zwanzigste Mensch in Erfurt ist ein Schuster. Und jeder zehnte ein Gärtner oder Blumenzüchter. Und die Frau Flora – um wieder an den Brunnen am Anger zu erinnern – ist üppiger als der Herr Gewerbefleiß; dieser Handel ist auch jetzt noch der einträglichste.
Recht gut geht's nun den Erfurtern; man sieht's überall: an den gefüllten Restaurants und Konzertgärten, den stattlichen Läden, den neuen Häusern. Sie sind geräumig, scheinen solid gebaut; daß die Fassaden im Durchschnitt etwas nüchterner sind als in anderen deutschen Mittelstädten, hat auch sein Gutes: man sieht darum hier weniger Kuriosa... Auch die neuen Kirchen und Monumentalbauten vermögen einem nicht Schrecken noch Entzücken einzuflößen. Nur drei nehme ich aus. Die neue Thomaskirche verspricht ein hübscher gotischer Bau zu werden, und das Rathaus ist ein schönes, ansehnliches Werk desselben Stils, der Stadt, wo einst Bürgersinn so Großes geleistet, nicht unwert; auch die neuen Fresken sind gut, neben den historischen namentlich die aus der Faustsage. In anderem Sinn bemerkenswert ist leider die Post; sie mutet an wie der phantastische Traum eines schlechten Künstlers, aber schon eines sehr schlechten. Ein Friseur in der Barfüßerstraße freilich sagte mir enthusiastisch: „In so 'ner Post 'nen Brief aufzugeben ist'n Hochgenuß!“, aber dem Kunstgeschmacke dieses Mannes traue ich nicht recht. Er hat in seine Auslage einen netten jüngeren Herrn mit roten Bäcklein gestellt und darunter geschrieben: „Wir Deutsche fürchten Gott, sonst nichts auf der Welt.“ Wer so einen Bismarck hinstellt, verdient keine schönere Post. Übrigens habe ich den Spruch auch in zwei anderen Friseurläden Erfurts gefunden, und das hat mir wenig gefallen. Mir steht die Stunde vor Augen, da dies Wort fiel: am 6. Februar 1888; mein Lebtag bin ich froh, daß ich dabei war. Ein grauer Tag; im alten Hause in der Leipziger Straße herrschte Zwielicht, als sich der Große erhob, und mühsam durchklangen zuerst seine Sätze den Raum. Als er sich aber in Glut geredet, da klangen sie dröhnend ins Ohr und ins tiefste Gemüt hinein, und bei jenen Worten richtete er sich zur vollen Höhe auf; wie eine Gloriole umwob das durchbrechende Sonnenlicht den gewaltigen Schädel. Die Stunde hatte das Wort geboren; für die Stunde war es der beste Ausdruck dessen, was ein ganzes Volk erfüllte, und darum verdient es unvergessen zu bleiben. Aber eben darum, weil ich mit dabei war, als es erklang und für mein Ohr auch noch den persönlichen Klang der hohen, vibrierenden Stimme hat, sehe ich es ungern in Friseurläden und Wirtshäusern, auch scheint es mir aus anderen Gründen nicht recht zum dauernden Wahlspruch geeignet. Zur Zeit, da es Bismarck sprach, drohte der Konflikt mit Rußland; in Friedenszeiten brauchen wir nicht zu versichern, daß wir niemand fürchten. Wir haben uns 1870 das Recht erworben, daß uns Europa dies ohne weiteres für Kriegs- und Friedenszeiten glaube.
Doch zurück zum Stadtbild von Erfurt. Was man hier an Bauten und Denkmälern aus elf Jahrhunderten beisammen findet, habe ich nun, so weit mir Kraft und Wissen reichte, nacheinander zu schildern versucht. Aber dies Gemisch von Uraltem und Neuem, von Herrlichstem und Häßlichem, von feiner, schwelgerischer Kultur und armseliger Nüchternheit, kurz, das Nebeneinander ist, glaub ich, überhaupt nicht recht in Worten zu malen, geschweige denn, daß ich mir's zutraute. Gerade dies Gemisch, sagt ich schon, läßt mir das Stadtbild von Erfurt so einzig erscheinen. Anderwärts scheidet sich alt und neu fast ganz oder doch weit mehr als hier. Freilich gibt's auch in Erfurt ganz neue Stadtteile, wie das Villenviertel auf dem Löberfeld oder das Arbeiterviertel auf dem Johannisfeld, und ganz alte, wie das Viertel um die Universität oder das um die Augustinerkirche, aber das sind Ausnahmen; die meisten Stadtteile sind ein Gemisch, und zwar ein beispiellos buntes; was anderwärts eine Ausnahme ist, ist hier die Regel. Die Kamera des Photographen, der Pinsel des Malers und nun gar das eigene Auge kann dies weit besser verdeutlichen als das Wort des Schilderers. Ich gebe nur einige Andeutungen aus der Fülle dessen, was den Beschauer zunächst wie ein Rätsel anmutet, ihn dann aber ergreift, wenn er sich dessen bewußt wird, daß die Lösung dieses Rätsels lautet: „Hier ist eine Schicksalsstätte!...“
Man suche sich ein beschauliches Plätzchen auf dem Anger und blicke um sich. Ich empfehle zu diesem Zwecke das aus drei kränklichen Oleanderbüschen und einem grün angestrichenen Staket bestehende Gärtchen vor dem „Wiener Café“; hier stört einen niemand. Denn Erfurt ist großstädtisch genug, ein solches Etablissement zu besitzen, und kleinstädtisch genug, den armen Inhaber, natürlich einen Ungar – die Wiener Cafétiers in Deutschland sind alle Ungarn, wenn sie nicht Tschechen sind –, nur so langsam einen Krösus werden zu lassen, daß mich's nicht wundern würde, wenn ich ihn bei meinem nächsten Besuch in Erfurt samt dem Café nicht wiederfände. Mir tät's leid, denn was alles faßt von diesem „Garten“ aus ein einziger Blick! Zur Rechten ein Haus aus dem 17. Jahrhundert, der Römische Kaiser, dahinter der dumpfe, düstere Riese aus dem 11. Jahrhundert: die Kaufmannskirche, dann dicht vor dem Beschauer ein häßliches, dürftiges Haus aus dem 18., ein reiches und lustiges aus dem 16. und ein prunkend geschmackloses aus dem 19. Jahrhundert, eben die Post. Ähnliches gewahrt er, so weit sein Blick die Breite Straße hinabreicht, bis an den Hoffmeisterschen Brunnen, dessen Erz und Springquell, im Sonnenlicht wundersam schimmernd, das Bild abschließt: zu beiden Seiten Häuser, von denen auch nicht eines dem andern gleicht; modernste Basarbauten, armselige wacklige Überreste aus der Zopfzeit, nüchterne Nutzbauten des letzten Jahrhunderts, daneben schöne, stattliche Patrizierhäuser der Renaissance, die auf diese Nachbarn herabblicken wie ein wohlerhaltener, vornehmer Greis auf ein junges, entnervtes Geschlecht. Zur Rechten ragt dicht vor dem Beschauer der Rokokobau des Packhofes auf. Kurz, kaum zwei Häuser nebeneinander, zwischen denen nicht ein ungeheurer Abstand der Erbauungszeit und des Stils läge – Bauten so stattlich und reich und schön, wie man sie eben nur in einer Mittelstadt finden kann, die vor vierhundert Jahren eine Großstadt war, und andere so dürftig und erbärmlich, daß man ihr Vorhandensein in dieser Hauptstraße nur versteht, wenn man sich erinnert, daß Erfurt vor zweihundert Jahren eine scheinbar dem sicheren Untergang geweihte Kleinstadt war.
Ähnliches sieht man hier überall: die Reihe der herrlichen Renaissancehäuser der Johannes- oder Allerheiligenstraße wird immer wieder von Zinshäusern aus der Zeit um 1850 unterbrochen, neben dem Patrizier im Festgewand steht der armselige Philister der neuesten Zeit. Oder man lasse den Blick über den Domplatz schweifen; hier die herrliche gotische Stiftskirche, vor ihr ein Obelisk aus der Zopfzeit, ringsum aber Häuser, als dienten sie dem Zweck, lehrreich zu vorbildlichen, wie schön und wie häßlich, wie reich und wie armselig man in der Zeit von 1500–1900 abwechselnd in Deutschland gebaut hat. Oder man stelle sich neben jenen Brunnen am Anger: ein Blick umfaßt die ehrwürdige Barfüßerkirche, das schöne Renaissancehaus, wo Wilhelm von Humboldt um Karoline von Dachröden freite, einige Wohnhäuser, wie man sie in Posemuckel nicht auf den Hauptplatz stellt, einige Geschäftshäuser, die an lärmendem Stil den Bauten in einem Berliner Geschäftsviertel nicht nachstehen, und als Zugabe einen prächtigen Barockbau. Oder man sehe sich an, welche bunte Gesellschaft den Roland auf dem Fischmarkt umstellt, neben dem schönen Rathaus, dem herrlichen „Breiten Herd“ und dem „Roten Ochsen“ auch Häuser, von denen man sich verwundert fragt: „Ist hier der Boden so billig, daß man derlei stehen läßt?...“
Aber habe ich bisher kein anschauliches Bild von diesem Gemisch geben können, so nützt alle Häufung von Einzelheiten nichts. Ich kann nur wiederholen: schön ist diese Stadt nicht, wahrlich nein, und wen nur die Harmonie eines Gesamteindrucks lockt, der lasse sie unbesehen. Aber wer Augen hat, das Besondere zu sehen, wer historischen Sinn hat, wird gleich mir seine Erfurter Tage zu den anregenden seines Lebens rechnen und niemals vergessen.