Psychologie und Pathologie des Selbsthasses

Über das Thema „Selbsthass“ wird in diesem Buche gesprochen werden. Das ist ganz und gar nicht ein nur jüdisches Thema. Es ist ein Phänomen des gesamten Menschengeschlechtes! Aber dieses allgemein menschliche Phänomen „Selbsthass“ kann an der Psychopathologie der jüdischen Volksgeschichte besonders glänzend beleuchtet werden.

Wer das Phänomen „Selbsthass“ ehrlich ergründen will, der muss tief in die Tiefe steigen. Bis zu jenem Punkte, wo aus einem vormenschlichen Elemente zum ersten Male der Menschheit geistiges Bewusstsein das fragende und klagende Auge aufschlägt.


Wir müssen hinabtauchen in einen Urgrund, wo aus der allverschlungenen All-Einheit, welche weder Ich kennt noch Du, zum ersten Male die große Ich-und-Du-Spaltung hervorblitzt. Hüben ein wissendes Subjekt; drüben die abstellbare Welt von „sachlichen Gegebenheiten“. Das ist keineswegs ein „abnormes“ Phänomen (es sei denn, man betrachtete das ganze Dasein des Geistes als eine Krankheit). Es ist das Wunder des Geistes selbst, welches fügt, daß in der menschlichen Kreatur das Leben sich wider sich selber kehren, lebenspolar und schließlich lebensgehässig werden kann.

Die Blume, der Baum, der Quell, das flutende Wasser blühen fraglos-sicher im Banne des Rhythmus.

Unbekümmert und selig in sich selbst atmet in Ewigkeit alle Natur. Nur im Feurigbewegten, im schweifenden Tier (am deutlichsten im verhäuslichten Tier), den wir schon einige Ansätze zum — Selbsthass.

Eine ungeheure Macht „angegeistigter“ Leidenschaft (die Machtgier, die Rachsucht, das Mitleid, die Reue) sind unterströmt von diesem heimlichen Selbstzerstörerdrange. Von einem geheimen „Erlöserschmerz“, einem wunderlichen Triebe alles begrenzten Lebens, seine Grenze zu vernichten. Schon im Tiere gibt es Zustände der „Selbstqual“, zum mindesten im eingeengten, vermenschlichten und erkrankten Tier. Und bei diesen primitiven Zuständen müssen wir ansetzen, um den Bruch zu verstehen: Die lebenzerklüftende Krankheit, der das älteste der Völker auch als erstes anheimzufallen droht.

Man hat das Rätsel: „Selbsthass“ sich zu leicht gemacht.

Mit billiger Seelenkunde verkünden die Lehrbücher der Psychologie: „Die Menschen zerfallen in Selbstfreudige (Philautoi) und Selbstanbohrende (Misautoi). Und alles menschliche Wirken ist das eine Mal der naive Ausdruck und die unmittelbare Ausdrucksspur unsres natürlichen Lebens. Das andere Mal aber stammen unsre Werke und Taten aus unsern Bedürfnissen nach Ausgleich, Ergänzen und Ausheilen. Sie offenbaren dann nicht, was wir sind, sondern was wir sein möchten. Höhenbilder, Sehnsuchtsbilder oder Ideale stehen vor uns, und wir werden nicht mehr froh, bis wir sie an uns verwirklicht haben.“ — Es gab Zeitalter, die mit dergleichen billigen Gegenüberstellungen zu spielen liebten. Sie redeten von dem Gegensatz zwischen „naiv und sentimental“, „unmittelbar und mittelbar“.

Heinrich Heine spöttelte: „Meine deutschen Freunde behaupten, ich sei nicht wie sie ein naives Genie, sondern habe nur das bekannte jüdische Talent, immer nur so zu tun als ob. Da ich nun aber die feste Absicht hege, in jedem Augenblicke meines Lebens und bis zu seinem Ende fortzufahren, so zu tun als ob, so hoffe ich, daß im Ergebnis genau das gleiche dabei herauskommen wird, als wenn ich, wie meine Freunde, naiv gewesen wäre.“

Die Klage Goethes über das Zeitalter, darin „ein jeder jeden andern hasse und niemand sich oder dem andern etwas Gutes gönne“, weist hin auf das selbe Phänomen. Goethe bezeichnet es gern mit dem griechischen Worte: „Heautontimorumenie“ (Neigung, sich selber zu quälen). Er sagt wiederholt, daß dies Leiden des modernen Menschen darauf beruhe, daß er im Kern „von sich selber schlecht denke“. Das sei aber eine Krankheit, die in Zukunft sich weiter ausbreiten werde.

Wie sehr diese Krankheit im jüdischen Volke verbreitet ist, bezeugen zahlreiche Volksworte und Redensarten, wie denn wohl kein anderes Volk eine solche Fülle selbstkritischer, ja selbstironischer Weisheit aufzuweisen hat. Man hört auch heute noch Sätze wie diese:

„Der Jude kann nicht Jontef feiern“ (d. h. er muss sich immer das Leben schwer machen). Oder: „Wo der Goj lacht, da weint der Jüd.“ Sehr viele tiefe Einblicke in, den Zusammenhang des Leidens mit dem Geiste, des Wissens mit der Not gehören zum ältesten Erbgut des leidendsten und daher gewitztesten unter den Völkern. „Gott wird nur in den Schwachen mächtig.“ „Wissen ist Leiden.“ „Der Buckel macht witzig.“ „Not lehrt beten.“ Solchen Erkenntnissen gemeinsam ist die Herleitung des Reiches menschheitlicher Werte aus einem Negativum des Lebens. Und von dieser Einsicht in das Negative ist der Selbsthass nur der unvermeidliche Schatten.

Kennzeichnend ist eine ebenso alte wie oft erwähnte Anekdote. Ein Ostjude in jüdischer Kleidung macht es sich in einem Eisenbahnabteil bequem, indem er die Füße auf die Polster des gegenüberliegenden Sitzes legt, als ein modisch gekleideter Fremder einsteigt, worauf der Jude seine schmutzigen Schuhe zurückzieht und l den Herrn um Entschuldigung bittet. Dieser beginnt ein Gespräch mit der Frage: „Fahren Sie über Pessach auch nach Hause?“, worauf der andere, im Fremden den Stammesgenossen erkennend, die Beine auf die Polster zurücklegt mit dem beruhigten Ausruf: „E soi.“

Diese geheime oder offene Selbstmissachtung verkennt das Große und Schöne gerade darum, weil es aus jüdischem Boden steigt. Als stünde immer noch in Blüte der alte Zweifel: „Was kann Großes kommen aus Nazareth? Wie können Propheten wachsen in Galiläa?“

Der Begriff „jüdischer Antisemitismus“ scheint ein Widerspruch in sich selber zu sein. Aber er ist es so wenig, daß, wenn irgendwo von einem Juden gesagt wird, er sei ein Rosche (Judenhasser), die andern alsbald rufen: „Das ist echt jüdisch.“

Es bedürfte einer langen Untersuchung, um vollständig festzustellen, aus welchen Quellen (fruchtbaren wie vergifteten) diese Neigung zur Selbstverkennung steigt. Hier sei nur darauf verwiesen, daß das erniedrigte Selbstgefühl lange Versklavter im Befehliger oder im Verächter den geborenen Herrn sieht, während der aus dem eigenen Leidenskreise Entborene auf das unausgesprochene Vorurteil stößt: „Dieser kann nichts Rechtes sein, denn sonst würde er nicht mit uns an einem Tische sitzen.“ Oder: „Was kann dieser Mann schon gelten; er ist ja nicht anders wie wir.“


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der jüdische Selbsthass