Der jüdische Selbsthass
Autor: Lessing, Theodor (1872-1933) deutsch-jüdischer Philosoph und politischer Publizist, Erscheinungsjahr: 1930
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Juden, Theodor Lessing, Antisemitismus, Zionismus, Theodor Herzl, Propheten, Psalmisten, Judenhetze, Selbsthass, Ghetto, Lebensgeschichten, Karl Kraus, Otto Weininger, Arthur Trebitsch, Maximilian Harden, Walter Calé
„Der Seele, die nur sich gedichtet hat,
Das große Schöne in die Welt gehaucht.
Dem Geiste, der nur sich vernichtet hat
Doch immer neu aus sich empor getaucht,
Dem Volke, das sich selbst gerichtet hat
Und nun den fremden Richter nicht mehr braucht
Das große Schöne in die Welt gehaucht.
Dem Geiste, der nur sich vernichtet hat
Doch immer neu aus sich empor getaucht,
Dem Volke, das sich selbst gerichtet hat
Und nun den fremden Richter nicht mehr braucht
Inhaltsverzeichnis
I. Jüdisches Schicksal im Osten
An dem Tage, an welchem ich dies Buch vom Selbsthass zu schreiben beginne, stöhnen die Juden im Osten unter der Last einer schweren Kunde. In Jerusalem, im Gebiete des Haram ist vor der jüdischen Klagemauer ein Religionskrieg ausgebrochen. Er entstand, wie alle Kriege der Geschichte: indem überreizte Menschen einander sinnlose Worte zuwarfen, so lange, bis aus den sinnlosen Worten sinnlose Taten hervorgingen. Aber in diesen Taten entband sich ein lange aufgespeicherter Hass. Er kann das Werk des jüdischen Volkes bedrohen.
„Das Werk des jüdischen Volkes“: — die Auferstehung unsrer Heimat, schien gesichert zu sein! Denn auch die nüchternen Praktiker, welche keineswegs von einem Auszug Israels nach Palästina träumen, sondern sich als deutsch, französisch, englisch, italienisch oder sonstwie empfinden, waren für den Gedanken des Zionismus so weit gewonnen worden, daß sie zur Lösung der unlöslichen Judenfrage eine Aktionsgemeinschaft, die sogenannte Jewish Agency, begründeten. Da aber ereignete sich, was sich leicht auch künftig wieder ereignen könnte: Die eben gebauten, mit leidvollen Mühen dem Malariaboden abgetrotzten Dörfer und Farmen, die Pflanzungen, in denen jeder Baum das Leben eines Chaluz verkörpert, die Äcker, mit Schweiß und Tränen gedüngt, gingen in Flammen auf.
Artuf brennt. Ataroth brennt. Moza brennt. Arabische Banden steckten die Jerusalemer Villenvorstadt Talpioth in Brand und verwüsteten das Haus des Dichters Agnon. Die berühmte Jeschiwa in Hebron, die Talmudschule aus dem litauischen Slobodka, wurde überfallen. Waffenlose junge Schüler, vom Sohn des Rabbi geführt, flüchteten in den Betraum, wo sie, einer wie der andere, während sie das Sterbegebet sprachen, erschlagen wurden. Und alles geschah unter den Augen der Mandatarmacht. —
Was erwartet die Welt, daß wir Juden tun?
Dreißig Jahre lang und länger, seit der Bilu-Bewegung von 1882, hat unser edler Kern an der Lösung dieser Völkerfrage gearbeitet. Müde der immer neuen Ausbrüche von Massenwahn, welchen kein Adel der Tat, der Zucht oder des Herzens je zu versöhnen vermöchte, müde eines ewigen „Entweder — Oder“ (Entweder: du gibst dich selber auf — Oder: du trollst dich aus dem Lande), müde der jahrhundertelangen Maßregelung, Verschiebung, Reglementierung — aus Willkür oder aus Gnade — , müde all der Unsicherheit und Ungewissheit, hat das älteste unter den Erdenvölkern versucht, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.
Man sagte: „Ihr seid Schmarotzer auf fremdem Eigen“, da haben wir uns von der Wahlheimat losgerissen. Man sagte: „Ihr seid der Zwischenhändler unter den Völkern“ Da erzogen wir unsre Kinder zu Gärtnern und Bauern. Man sagte: „Ihr entartet und werdet zu feigen Weichlingen.“ Da gingen wir in Schlachten und stellten die besten Soldaten. Man sagte: „Ihr seid überall nur geduldet“ Wir erwiderten: „Keine tiefere Sehnsucht kennen wir, als herauszukommen aus Duldung.“
Aber wenn wir uns so in unserem Eigen bewährten, dann wieder hieß es: „Habt ihr noch immer nicht gelernt, daß die zähe Selbsterhaltung des Sondervolkes ein Verrat ist am Reiche der allgemein menschlichen, der übervölkischen Werte?“ Wir antworteten, indem wir nach hundert Toden und Wunden schweigend die jüdische Legion auflösten. Wir haben der Selbstwehr uns begeben und unser gutes Recht unter den Schutz des europäischen Gewissens gestellt. Was ist die Antwort?
Am heutigen Tage, dem 6. September 1929, scheint die Antwort so zu lauten: „Lebt oder leistet, wie immer ihr könnt, man wird euch dulden, solange man euch nutzen kann.“ „Geschäftsleute!“ wird man die Juden nennen. Aber wenn kein Geschäft mehr mit den Juden zu machen ist, dann lässt man sie fallen. Die übermächtigungssüchtigste Erdausnützergewalt, die englisch-amerikanische, wird auch das Judentum opfern für das erstbeste Kolonial- und Expansionsunternehmen. Wehe aber den Wehrlosen: „Niflad kidra al kefla, weile kidra. Niflad kefla al kidra, weile kidra. Wenkach, unwenkach, weile kidra!“ „Fällt der Topf auf den Stein, wehe dem Topf. Fällt der Stein auf den Topf, wehe dem Topf. Immer, immer, wehe dem Topf!“
Was (man antworte) soll der Jude tun? — Die Frage ist nicht zu beantworten. Und weil sie nicht zu beantworten ist, so entsteht eine Verlegenheit des Gewissens. Wie beschwichtigt der Mensch die Verlegenheiten seines Gewissens?
Nur in seltenen Fällen durch das Bekenntnis: „Ich bin schuldig.“ In weitaus den meisten Fällen aber durch den Versuch, die Schuld an dem unleidlichen Zustand in den unfreiwilligen Veranlasser des Zustands hineinzuerklären. Dies ist das Gesetz der „Sinngebung von nachhinein“. Das Grundgesetz aller Geschichte!*)
*) Th. Lessing, „Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen“. 4. Aufl. S. 211—252.
(Die Zahlen im Text beziehen sich auf die am Schlusse des Buches)
An dem Tage, an welchem ich dies Buch vom Selbsthass zu schreiben beginne, stöhnen die Juden im Osten unter der Last einer schweren Kunde. In Jerusalem, im Gebiete des Haram ist vor der jüdischen Klagemauer ein Religionskrieg ausgebrochen. Er entstand, wie alle Kriege der Geschichte: indem überreizte Menschen einander sinnlose Worte zuwarfen, so lange, bis aus den sinnlosen Worten sinnlose Taten hervorgingen. Aber in diesen Taten entband sich ein lange aufgespeicherter Hass. Er kann das Werk des jüdischen Volkes bedrohen.
„Das Werk des jüdischen Volkes“: — die Auferstehung unsrer Heimat, schien gesichert zu sein! Denn auch die nüchternen Praktiker, welche keineswegs von einem Auszug Israels nach Palästina träumen, sondern sich als deutsch, französisch, englisch, italienisch oder sonstwie empfinden, waren für den Gedanken des Zionismus so weit gewonnen worden, daß sie zur Lösung der unlöslichen Judenfrage eine Aktionsgemeinschaft, die sogenannte Jewish Agency, begründeten. Da aber ereignete sich, was sich leicht auch künftig wieder ereignen könnte: Die eben gebauten, mit leidvollen Mühen dem Malariaboden abgetrotzten Dörfer und Farmen, die Pflanzungen, in denen jeder Baum das Leben eines Chaluz verkörpert, die Äcker, mit Schweiß und Tränen gedüngt, gingen in Flammen auf.
Artuf brennt. Ataroth brennt. Moza brennt. Arabische Banden steckten die Jerusalemer Villenvorstadt Talpioth in Brand und verwüsteten das Haus des Dichters Agnon. Die berühmte Jeschiwa in Hebron, die Talmudschule aus dem litauischen Slobodka, wurde überfallen. Waffenlose junge Schüler, vom Sohn des Rabbi geführt, flüchteten in den Betraum, wo sie, einer wie der andere, während sie das Sterbegebet sprachen, erschlagen wurden. Und alles geschah unter den Augen der Mandatarmacht. —
Was erwartet die Welt, daß wir Juden tun?
Dreißig Jahre lang und länger, seit der Bilu-Bewegung von 1882, hat unser edler Kern an der Lösung dieser Völkerfrage gearbeitet. Müde der immer neuen Ausbrüche von Massenwahn, welchen kein Adel der Tat, der Zucht oder des Herzens je zu versöhnen vermöchte, müde eines ewigen „Entweder — Oder“ (Entweder: du gibst dich selber auf — Oder: du trollst dich aus dem Lande), müde der jahrhundertelangen Maßregelung, Verschiebung, Reglementierung — aus Willkür oder aus Gnade — , müde all der Unsicherheit und Ungewissheit, hat das älteste unter den Erdenvölkern versucht, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.
Man sagte: „Ihr seid Schmarotzer auf fremdem Eigen“, da haben wir uns von der Wahlheimat losgerissen. Man sagte: „Ihr seid der Zwischenhändler unter den Völkern“ Da erzogen wir unsre Kinder zu Gärtnern und Bauern. Man sagte: „Ihr entartet und werdet zu feigen Weichlingen.“ Da gingen wir in Schlachten und stellten die besten Soldaten. Man sagte: „Ihr seid überall nur geduldet“ Wir erwiderten: „Keine tiefere Sehnsucht kennen wir, als herauszukommen aus Duldung.“
Aber wenn wir uns so in unserem Eigen bewährten, dann wieder hieß es: „Habt ihr noch immer nicht gelernt, daß die zähe Selbsterhaltung des Sondervolkes ein Verrat ist am Reiche der allgemein menschlichen, der übervölkischen Werte?“ Wir antworteten, indem wir nach hundert Toden und Wunden schweigend die jüdische Legion auflösten. Wir haben der Selbstwehr uns begeben und unser gutes Recht unter den Schutz des europäischen Gewissens gestellt. Was ist die Antwort?
Am heutigen Tage, dem 6. September 1929, scheint die Antwort so zu lauten: „Lebt oder leistet, wie immer ihr könnt, man wird euch dulden, solange man euch nutzen kann.“ „Geschäftsleute!“ wird man die Juden nennen. Aber wenn kein Geschäft mehr mit den Juden zu machen ist, dann lässt man sie fallen. Die übermächtigungssüchtigste Erdausnützergewalt, die englisch-amerikanische, wird auch das Judentum opfern für das erstbeste Kolonial- und Expansionsunternehmen. Wehe aber den Wehrlosen: „Niflad kidra al kefla, weile kidra. Niflad kefla al kidra, weile kidra. Wenkach, unwenkach, weile kidra!“ „Fällt der Topf auf den Stein, wehe dem Topf. Fällt der Stein auf den Topf, wehe dem Topf. Immer, immer, wehe dem Topf!“
Was (man antworte) soll der Jude tun? — Die Frage ist nicht zu beantworten. Und weil sie nicht zu beantworten ist, so entsteht eine Verlegenheit des Gewissens. Wie beschwichtigt der Mensch die Verlegenheiten seines Gewissens?
Nur in seltenen Fällen durch das Bekenntnis: „Ich bin schuldig.“ In weitaus den meisten Fällen aber durch den Versuch, die Schuld an dem unleidlichen Zustand in den unfreiwilligen Veranlasser des Zustands hineinzuerklären. Dies ist das Gesetz der „Sinngebung von nachhinein“. Das Grundgesetz aller Geschichte!*)
*) Th. Lessing, „Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen“. 4. Aufl. S. 211—252.
(Die Zahlen im Text beziehen sich auf die am Schlusse des Buches)