Der grüne Strahl

Autor: Jules Verne (1828-1905), Erscheinungsjahr: 1882
Themenbereiche
Inhaltsverzeichnis
  1. Die Brüder Sam und Sib
  2. Helena Campbell
  3. Der Artikel der ‚Morning Post‘
  4. Den Clyde stromabwärts
  5. Von einem Dampfer zum andern
  6. Der Strudel von Corryvrekan
  7. Aristobulos Ursiclos
  8. Ein Wölkchen am Horizont
  9. Plaudereien von Mrs. Bess
  10. Eine Partie Krocket
  11. Olivier Sinclair
  12. Neue Pläne
  13. Die Wunder des Meeres
  14. Das Leben auf Iona
  15. Die Ruinen von Iona
  16. Zwei Flintenschüsse
  17. An Bord der ‚Clorinda‘
  18. Staffa
  19. Die Fingalshöhle
  20. Für Miss Campbell
  21. Ein voller Sturm in einer Höhle
  22. Der Grüne Strahl
  23. Schluss
1. Die Brüder Sam und Sib

„Betsey!“ „Betty!“ „Bet!“ „Beth!“ „Bess!“

So lauteten die Namen, die unmittelbar hintereinander aus dem prächtigen Salon von Helensburgh ertönten – eine merkwürdige Gewohnheit der Brüder Sam und Sib, die Verwalterin ihres Landhauses herbeizurufen.

In diesem Augenblick verhallten diese familiären Abkürzungen des Namens Elisabeth aber ebenso wirkungslos, als wenn seine Trägerin mit ihrem vollen Namen gerufen worden wäre.

Dagegen erschien der Intendant Patridge, die schottische Mütze in der Hand, in der Salontür.

Patridge richtete seine Worte an zwei freundlich aussehende Männer, die in der Nische des großen Fensters saßen, das mit den drei buntglasigen Scheiben ein Stück über die Hausfassade vorsprang.

„Die Herren haben nach Mrs. Bess gerufen“, sagte er; „Mrs. Bess befindet sich aber nicht im Haus.“

„Wo ist sie denn, Patridge?“

„Sie begleitet Miss Campbell, die im Park spazierengeht.“

Auf ein von beiden Männern gegebenes Zeichen zog sich Patridge würdevoll zurück.

Jene waren die Brüder Sam und Sib – oder nach eigentlichem Taufnamen Samuel und Sebastian –, die Oheime von Miss Campbell. Schotten vom alten Schlag, Schotten aus einem altehrwürdigen Hochlandclan, zählten sie zusammen 120 Jahre, bei einem Altersunterschied von nur 15 Monaten zwischen dem älteren Sam und dem jüngeren Sib.

Um mit wenigen Zügen diese Musterbilder von Ehrenhaftigkeit, Wohlwollen und Aufopferungsfähigkeit zu skizzieren, genügt wohl die Bemerkung, daß ihr ganzes Leben einzig und allein ihrer Nichte geweiht gewesen war. Sie waren die Brüder ihrer Mutter, die, schon nach einjähriger Ehe verwitwet, durch eine hitzige Krankheit frühzeitig dahingerafft wurde. Sam und Sib Melvill blieben also als die einzigen natürlichen Beschützer der kleinen Waise zurück. Übereinstimmend in ihrer Zärtlichkeit, lebten, dachten und träumten sie nur für sie.

Um ihretwillen waren sie, ohne es eben zu bedauern, unverheiratet geblieben, zwei gutmütige Naturen, die hienieden keine andere Rolle als die eines Beschützers zu spielen haben. Ist es nicht schon genug gesagt, wenn wir von ihnen verraten, daß der Ältere gleichsam Vaterstelle, der Jüngere dagegen mehr Mutterstelle bei dem Kind vertrat? So kam es zuweilen vor, daß Miss Campbell sie dementsprechend mit einem: „Guten Tag, Papa Sam! – Nun, wie geht's, Mama Sib?“ begrüßte.

Mit wem hätte man sie passender vergleichen können, diese beiden Onkel, als, abgesehen von geschäftlicher Erfahrung und Findigkeit, mit jenen zwei so guten, so übereinstimmenden und einander zärtlich zugetanen, hochherzigen Kaufleuten, den Gebrüdern Cheeryble aus der City von London, den beiden vollkommensten Geschöpfen, die je der Phantasie Boz Dickens' entsprungen sind? Es wäre unmöglich gewesen, einen treffenderen Vergleich zu finden, und wenn man den Verfasser beschuldigen könnte, deren Typus dem bedeutenden Werk ‚Nicolas Nickleby‘ entlehnt zu haben, so würde niemand dieses Plagiat zu bedauern haben.

Sam und Sib Melvill, durch die Heiratung ihrer Schwester verwandt mit einem Seitenzweig der alten Familie Campbell, hatten einander niemals verlassen. Die gleiche Erziehung hatte sie auch moralisch gleichmäßig geformt. Sie hatten zusammen denselben Unterricht in derselben Schule und ein und derselben Klasse genossen. Da sie stets über alles dieselben Gedanken zutage förderten und die gleichen Ausdrücke dafür zu gebrauchen pflegten, konnte jeder leicht einen angefangenen Satz des anderen vollenden, wobei den Hauptpunkten auch dieselben Gesten erhöhten Nachdruck verliehen. Mit einem Wort, diese beiden Wesen bildeten eigentlich nur ein einziges, obgleich ihre persönliche Erscheinung einige Verschiedenheiten aufwies. Sam war nämlich etwas größer als Sib, Sib etwas korpulenter als Sam; ihr graues Haar hätten sie aber vertauschen können, ohne den Charakter der grundehrlichen Gesichter zu verändern, denen der ganze Adel der Abkömmlinge des Clans von Melvill aufgeprägt war.

Müssen wir besonders hinzufügen, daß sie bezüglich des Schnitts ihrer einfachen, hinter der Mode des Tages stets etwas zurückbleibenden Kleidung, wie der Wahl der Stoffe aus vorzüglichem englischen Tuch genau denselben Geschmack verrieten? Nur der eine kleine Unterschied – wer hätte den Grund dazu erklären können? – bestand zwischen ihnen, daß Sam die dunkelblaue, Sib dagegen die kastanienbraune Farbe zu bevorzugen schien.

Wer hätte mit diesen ehrenwerten Gentlemen nicht gern auf vertraulichem Fuß gestanden? Gewohnt, im Leben immer gleichen Schritts zu gehen, machten sie einst gewiß auch einer unfern dem andern halt, wenn ihnen das Stündlein der ewigen Ruhe schlug. Immerhin konnte man diese beiden letzten Pfeiler der Familie Melvill noch als recht solide bezeichnen. Sie hielten gewiß noch lange Zeit das alte Gebäude ihres Geschlechts aufrecht, das dem 14. Jahrhundert entstammte, der epischen Zeit eines Robert Bruce und eines Wallace, der Heldenepoche, in der Schottland noch mit England um seine Unabhängigkeit rang.

Wenn Sam und Sib aber auch keine Gelegenheit hatten, für das Wohl des Vaterlands zu kämpfen, wenn ihr minder bewegtes Leben unter dem Segen friedlicher Ruhe verlief, den ein behäbiges Vermögen verleiht, so darf man ihnen daraus weder einen Vorwurf machen, noch sie für entartet halten wollen. Sie setzten eben in ihrem Bestreben, Gutes zu wirken, die edlen Überlieferungen ihrer Vorfahren fort.

Beide kerngesund, ohne daß sie sich den Vorwurf irgendeiner Unregelmäßigkeit der Lebensweise zu machen hatten, schienen sie bestimmt, hohe Jahre zu erreichen, ohne jemals, weder an Geist noch an Körper, zu altern.

Vielleicht hatten sie einen Fehler – wer könnte sich rühmen, ohne einen zu sein? –, sie verbrämten ihre Unterhaltung gern mit zahlreichen, dem berühmten Burgvogt von Abbotsford entlehnten Bildern und Zitaten, und besonders auch mit solchen aus den epischen Dichtungen Ossians, in die sie geradezu vernarrt schienen. Doch wer könnte ihnen im Land Fingals und Walter Scotts daraus einen Vorwurf machen?

Um ihr Porträt mit einem letzten Pinselstrich zu vollenden, müssen wir noch hinzufügen, daß sie starke Schnupfer waren. Jedermann weiß ja wohl auch, daß die Tabakshandlungen im Vereinigten Königreich meist einen kräftigen, in Nationaltracht prangenden Schotten mit der Dose in der Hand als allgemein verständliches Symbol gebrauchen. Nun, die beiden Brüder Melvill hätten ganz gut dazu gepaßt, als Abzeichen auf den bemalten Zinkschildern zu figurieren, wie man sie an den Schutzdächern über den betreffenden Lokalen sieht. Sie schnupften ebensoviel, wenn nicht gar noch etwas mehr, als sonst einer diesseits wie jenseits des Tweed. Dabei besaßen sie merkwürdigerweise nur eine einzige Tabaksdose, natürlich ein sehr großes Exemplar. Dieses tragbare Stück Möbel wanderte stets abwechselnd in die Tasche des einen und des andern und bildete damit gewissermaßen noch ein weiteres Band zwischen den Brüdern. Es versteht sich ganz von selbst, daß sie zu genau der gleichen Zeit, etwa zehnmal in der Stunde, das Bedürfnis empfanden, sich an dem vortrefflichen, aus Frankreich bezogenen Pulver der Herba nicotiana zu erquicken. Wenn der eine die Tabaksdose aus den Tiefen seines Rocks hervorholte, hatten eben beide Appetit auf eine gute Prise, und beide beglückwünschten sich, wenn sie niesten, mit einem: „Gott helfe uns!“

Alles in allem waren sie zwei richtige erwachsene Kinder, die Brüder Sam und Sib, in bezug auf alle praktischen Lebensfragen; von industriellen, finanziellen und kommerziellen Angelegenheiten verstanden sie absolut nichts und gaben sich auch gar nicht den Anschein, davon etwas zu verstehen; politisch zählten sie im Grunde vielleicht zu den Jakobiten, bewahrten ein ererbtes Vorurteil gegen die Dynastie Hannover und gedachten noch immer des letzten der Stuarts, ungef?hr wie in Frankreich jemand dem letzten der Valois pietätvolles Andenken bewahren könnte; in Herzenssachen gar waren sie noch weniger Kenner.

Und doch hatten die Brüder Melvill nur den einen Wunsch, klar zu sehen im Herzen von Miss Campbell, deren geheimste Gedanken zu erraten, diese, wenn nötig, in bestimmter Richtung zu leiten, sie zu entwickeln, wenn das angezeigt erschien, und endlich sie an einen wackeren Mann ihrer (der Brüder) eigenen Wahl zu verheiraten, der gar nicht verfehlen könnte, das junge Mädchen glücklich zu machen.

Wenn man ihnen glauben durfte – oder vielmehr, wenn man sie reden hörte –, schien es, als hätten sie jenen braven Mann schon gefunden, dem diese beneidenswerte Aufgabe zufallen sollte.

„Helena ist also ausgegangen, Bruder Sib?“

„Ja, Bruder Sam; aber es ist schon 5 Uhr und sie muß bald zum Cottage heimkehren ...“

„Und wenn sie zurückkommt ...“

„Denk' ich, Bruder Sam, wird die geeignete Zeit sein, mit ihr einmal ein recht ernsthaftes Gespräch zu führen.“

„Binnen wenigen Wochen, Bruder Sib, vollendet unsere Tochter das 18. Lebensjahr.“

„Das Alter der Diana Vernon, Bruder Sam. Ist sie nicht ebenso liebreizend wie die bewundernswerte Heldin von ‚Rob Roy‘?“

„Gewiß, Bruder Sib, und bei der Grazie ihres Auftretens ...“

„... bei der Lebhaftigkeit ihres Geistes ...“

„... bei der Originalität ihrer Ideen ...“

„... erinnert sie mehr an Diana Vernon als an Flora Mac–Ivor, die große, imponierende Gestalt aus ‚Waverley‘!“

Die auf ihren nationalen Romandichter stolzen Brüder Melvill zitierten noch mehrere andere Namen weiblicher Hauptcharaktere aus dem ‚Altertümler‘, ‚Guy Mannering‘, dem ‚Abt‘, dem ‚Kloster‘, dem ‚schönen Mädchen von Perth‘, dem ‚Schloß von Kenilworth‘ usw., aber ihrer Meinung nach mußten alle Miss Campbell den Vorrang lassen.

„Sie ist ein junger Rosenstock, Bruder Sib, der etwas schnell aufgeschossen ist, und dem es eine Wohltat sein wird ...“

„... ihm eine Stütze, einen Beschützer zu geben, Bruder Sam, und da hab' ich mir sagen lassen, daß der beste Beschützer ...“

„... natürlich nur ein Ehemann sein kann, Bruder Sib, denn er schlägt in demselben Boden Wurzel ...“

„... und wächst ganz entsprechend, Bruder Sam, mit dem Rosenstock, den er schützt.“

Beide Brüder und Oheime Melvill waren gleichzeitig auf diese, dem ‚Vollkommenen Gärtner‘ entlehnte Metapher gekommen. Offenbar gewährte ihnen das eine gewisse Befriedigung, denn es erweckte ein völlig gleiches, zufriedenes Lächeln auf ihren gutmütigen Gesichtern. Bruder Sib öffnete die gemeinsame Tabaksdose und griff säuberlich mit zwei Fingerspitzen hinein; dann wanderte sie in die Hand des Bruders Sam, der sich eine tüchtige Prise herauslangte und sie dann gelassen in die Tasche gleiten ließ.

„Also stimmen wir überein, Bruder Sam?“

„Wie immer, Bruder Sib!“

„Auch bezüglich der Wahl des Beschützers?“

„Könnte man überhaupt eine sympathischere und für Helena passendere Persönlichkeit finden als jenen jungen Gelehrten, der uns wiederholt so anerkennenswerte Gefühle kundgegeben ...“

„Ob ebenso ernsthaft gemeinte?“

„Wer sollte daran zweifeln? Gut unterrichtet und graduiert auf den Universitäten von Oxford und Edinburgh ...“

„... ein Physiker wie Tyndall ...“

„... ein Chemiker wie Faraday ...“

„... der alle Dinge dieser Erde von Grund auf kennt, Bruder Sam ...“

„... und den man mit keiner Frage in Verlegenheit zu setzen vermöchte, Bruder Sib ...“

„Der Abkömmling einer hochangesehenen Familie der Grafschaft Fife und daneben Besitzer eines ziemlichen Vermögens ...“

„... ohne seine, meiner Empfindung nach, trotz der Aluminiumbrille höchst ansprechende Persönlichkeit zu erwähnen!“

Die Augengläser dieses Helden hätten nun freilich in Stahl, in Nickel oder sogar in Gold gefaßt sein können, das hätte seinen Wert in der Anschauung der Brüder Melvill weder vermehrt noch vermindert. Solche optischen Hilfsmittel stehen übrigens jungen Gelehrten meist recht gut zu Gesicht, da sie ihrer Physiognomie den Stempel eines gewissen würdigen Ernstes aufdrücken helfen.

Doch würde dieser Graduierte der oben genannten Universitäten, dieser leidenschaftliche Physiker und Chemiker auch Miss Campbell ebenso genehm sein? Glich Miss Campbell einigermaßen der Diana Vernon, so weiß jedermann, daß Diana Vernon für ihren gelehrten Vetter Rasleigh keine andere Empfindung hegte, als die einer dauernden, aufrichtigen Freundschaft, und daß sie ihn am Ende des Buchs nicht heiratete. Schön! Das war indes gar nicht dazu angetan, die Brüder Melvill zu beunruhigen. Sie gingen hier gänzlich mit der Erfahrung alter Junggesellen zu Werke, das heißt, sie verstanden von derartigen Dingen gar nichts.

„Sie sind einander schon öfters begegnet, Bruder Sib, und unser junger Freund schien für die Schönheit Helenas nicht unempfänglich zu sein.“

„Das glaub' ich gern, Bruder Sam. Wäre dem göttlichen Ossian die Aufgabe zugefallen, ihre Tugenden, ihre Schönheit und Grazie zu preisen, dann würde er sie ‚Moina‘, das heißt ‚die von der ganzen Welt Geliebte‘ genannt haben ...“

„Wenn er, Bruder Sib, für sie nicht auf den Namen ‚Fiona‘, das heißt ‚die Schöne ohnegleichen aus der gälischen Zeit‘, gekommen wäre.“

„Hat er, Bruder Sam, nicht gewissermaßen vorahnend unsere Helena geschildert, wenn er sagt: ‚Lassend die Kammer der Einsamkeit, trat sie in Schönheit hervor, wie aus Gewölk der junge Mond‘ ...“

„‚Wie Licht umstrahlte sie Liebreiz‘, Bruder Sib, ‚ihr Gang war Musik des Gesangs.‘“

Glücklicherweise sanken die beiden Brüder, ihre Zitiererei unterbrechend, aus dem etwas nebelumhüllten Himmel der Barden wieder in den Bereich der Wirklichkeit hernieder.

„Jedenfalls“, meinte der eine, „wenn Helena unserm jungen Gelehrten gefällt, kann es gar nicht fehlen, daß er auch ihren Beifall findet ...“

„Und wenn sie ihrerseits, Bruder Sam, ihm noch nicht all die Aufmerksamkeit erwiesen hat, welche die großen Eigenschaften verdienen, mit denen er von der Hand der Mutter Natur so reichlich ausgestattet ist ...“

„... dann kommt das, Bruder Sib, einzig und allein daher, daß wir ihr noch nicht gesagt haben, es sei Zeit für sie, in den Stand der heiligen Ehe zu treten.“

„An dem Tag aber, wo wir ihre Gedanken auf dieses Ziel gerichtet haben werden, wird sie, selbst angenommen einen gewissen Widerwillen ihrerseits, nicht gegen den ihr erwählten Gatten, noch gegen die Ehe im allgemeinen ...“

„... gar nicht zögern, uns mit einem freudigen ‚Ja‘ zu antworten, Bruder Sam ...“

„Genau wie der vortreffliche Benedikt, Bruder Sib, der, nachdem er sich lange gesträubt ...“

„... doch bei der Lösung des Knotens in ‚Viel Lärmen um nichts‘ die Beatrix heiratet.“

In dieser Weise legten sich die beiden Oheime von Miss Campbell die zu erwartenden Dinge zurecht, und der auf allgemeines Wohlgefallen hinauslaufende Ausgang ihrer Kombination erschien ihnen gleich naturgemäß, wie der in der Komödie Shakespeares.

In vollkommener Übereinstimmung waren sie aufgestanden und sahen einander mit feinem, befriedigtem Lächeln an, rieben sich auch, von derselben Empfindung inspiriert, die Hände. Es war nun einmal eine abgemachte Sache, diese Heirat. Welche Schwierigkeit hätte sich ihr entgegenstellen können? Der junge Mann hatte bei ihnen schon verblümt um das junge Mädchen angehalten, und sie würde darauf eine Antwort erteilen, um deren Inhalt sie sich keinerlei Sorge zu machen brauchten. Alle Vorbedingungen erschienen ja erfüllt – es konnte sich höchstens noch darum handeln, etwa den Termin der Hochzeit festzusetzen.

Das sollte und mußte eine schöne, erhebende Feier werden, die in Glasgow vor sich gehen sollte; hier aber, um diesen Nebenumstand wenigstens zu erwähnen, nicht in der Kathedrale Saint Mungo, der einzigen Kirche Schottlands, die, mit Saint Magus auf den Orkaden, im Zeitalter der Reformation unangetastet geblieben war. Nein! Diese war in ihrer Konstruktion zu massig und deshalb etwas zu düster für eine Trauung, die, nach der Vorstellung der Brüder Melvill, einer vollen Blütenentfaltung frischer Jugend, einem Strahlenkranz von Liebe gleichen mußte. Sie gedachten dazu eher Saint Andrew oder Saint Enoch oder sogar die Kirche Saint George zu wählen, die sich im vornehmsten Teil der Stadt erhebt.

Die Brüder Sam und Sib fuhren fort, ihre Projekte in einer Form zu entwickeln, die mehr an einen Monolog, als an einen Dialog erinnerte, weil ihr Gespräch ausnahmslos dieselbe Reihenfolge in völlig gleicher Weise ausgedrückter Ideen zutage förderte.

So plaudernd, betrachteten sie durch die rautenförmige Öffnung des Fensters die schönen Bäume des Parks, unter denen Miss Campbell eben spazierenging, die herrlich grünen Rabatten, die plätschernde Bäche umrahmten, den von einem fast phosphoreszierenden feinen Dunst bedeckten Himmel, der den Hochlanden des inneren Schottlands eigentümlich zu sein scheint.

Sie sahen sich gar nicht an; das wäre unnütz gewesen; von Zeit zu Zeit aber faßten sie sich, wie getrieben durch einen zärtlichen Instinkt, am Arm und drückten einander die Hände, als wollten sie durch Schließung einer Art magnetischen Stroms die Überleitung ihrer Gedanken gegenseitig erleichtern.

Oh, das sollte herrlich werden! Alles müßte das Gepräge edler Vornehmheit tragen. Die armen Leute von der West George Street, wenn es solche gab – doch wo fänden sich keine Arme? –, würden natürlich auch nicht vergessen werden bei dem frohen Fest. Wenn Miss Campbell unerwarteterweise für größere Einfachheit der Zeremonie sein und ihre beiden Oheime in diesem Sinn zu beeinflussen suchen sollte, dann würden die ihr zum ersten Mal in ihrem Leben ernstlich Widerpart halten. Weder in diesem Punkt, noch in irgendeinem andern gedachten sie sich zu Konzessionen herbeizulassen. Unter höchster Feierlichkeit sollten die Gäste beim Hochzeitsmahl nach altem Brauch ‚aus dem hölzernen Truthahn‘ trinken. Und der rechte Arm des Bruders Sam streckte sich zur Hälfte gleichzeitig aus, wie der rechte Arm des Bruders Sib, als wenn sie einander schon im voraus einen jener berühmten schottischen Trinksprüche zuriefen.

Da öffnete sich eben die Tür des Salons. Ein junges Mädchen mit Rosen auf den Wangen, die ein rascher Gang darauf gemalt hatte, wurde sichtbar. In der Hand hielt sie ein aufgeschlagenes Journal. Sie trat auf die Brüder Melvill zu und begrüßte jeden mit zwei herzlichen Küssen.

„Guten Tag, Onkel Sam“, sagte sie.

„Guten Tag, mein liebes Kind!“

„Wie geht es, Onkel Sib?“

„Vortrefflich, liebes Kind.“

„Helena“, ergriff Bruder Sam wieder das Wort, „wir haben mit dir ein kleines Arrangement zu besprechen.“

„Ein Arrangement? Welches Arrangement? Was habt ihr wieder heimlich geplant, liebe Onkel?“ fragte Miss Campbell, deren Augen nicht ohne einen gewissen gutmütigen Spott von einem zum andern wanderten. „Du kennst einen jungen Mann, Mr. Aristobulos Ursiclos?“

„Gewiß kenn' ich ihn.“

„Mißfällt er dir?“

„Warum sollte er mir mißfallen, Onkel Sam?“

„Also gefällt er dir?“

„Warum sollte er mir gefallen, Onkel Sib?“

„Nun, nach reiflicher Überlegung haben der Bruder und ich geglaubt, ihn dir als Gatten vorschlagen zu sollen.“

„Ich soll mich verheiraten? Ich?“ rief Miss Campbell, während sie in so herzliches Gelächter ausbrach, wie der Widerhall im Salon wohl noch keines zurückgegeben hatte.

„Du willst dich also nicht verheiraten?“ sagte Bruder Sam.

„Wozu sollte das nützen?“

„Niemals?“ sagte Bruder Sib.

„Niemals“, erklärte Miss Campbell, eine ernsthafte Miene annehmend, die ihr lächelnder Mund Lügen strafte, „wenigstens nicht eher, als bis ich …“

„Als bis du was?“ riefen die Brüder Sam und Sib einstimmig.

„Nicht eher, als bis ich – den Grünen Strahl gesehen habe!“

000 Verne, Der grüne Strahl

000 Verne, Der grüne Strahl

002a Das Landhaus „Helenenburgh“.

002a Das Landhaus „Helenenburgh“.

003c Die Broomielaw-Brücke in Glasgow.

003c Die Broomielaw-Brücke in Glasgow.

003d Das Schloß Dumbarton.

003d Das Schloß Dumbarton.

005a Die lange Meerenge der Kyles of Bute.

005a Die lange Meerenge der Kyles of Bute.

007a Westküste von Schottland.

007a Westküste von Schottland.

008a Oban.

008a Oban.

011c Auf der pittoresken Straße von Glachan...

011c Auf der pittoresken Straße von Glachan...

012b Der „Pionier“ glitt nach der Meerenge von Kerrera zu.

012b Der „Pionier“ glitt nach der Meerenge von Kerrera zu.

018a Staffa.

018a Staffa.