Neue Pläne

Die Rückfahrt nach Oban erfolgte unter weit weniger angenehmen Verhältnissen, als die Fahrt nach der Insel Seil. Man hatte geglaubt, einem Erfolge entgegen zu gehen, und kam von einem Mißerfolge zurück.

Wenn die Enttäuschung, welche Miß Campbell empfand, durch irgend etwas gelindert werden konnte, so war es dadurch, daß Aristobulos Ursiclos die Ursache derselben bildete. Sie gewann dadurch das Recht, ihm, dem großen Verbrecher, ihre Meinung zu sagen und sein Haupt mit Verwünschungen zu bedecken. Daran ließ sie es denn auch nicht fehlen. Die Brüder Melvill wären schlecht angekommen, wenn sie ihn hätten vertheidigen wollen. Nein, es war fast nothwendig gewesen, daß das Boot mit dem Tölpel, an den man in jenem Augenblick gar nicht dachte, gerade denjenigen Punkt am Horizonte einnehmen mußte, wo er denselben in dem Augenblick bedeckte, an dem die Sonne ihren letzten leuchtenden Strahl aussandte. Das waren Dinge, welche jede Verzeihung ausschlossen.


Es versteht sich von selbst, daß Aristobulos Ursiclos, der sich zur Entschuldigung obendrein erlaubt hatte, über die ganze Geschichte mit dem Grünen Strahl zu spötteln, nach dieser zornerfüllten Predigt wieder nach der Schaluppe entwichen war, um nach Oban zu gelangen. Er handelte darin sehr weise, denn höchst wahrscheinlich hätte man ihm doch keinen Platz in der Kalesche angeboten, nicht einmal den dahinter schwebenden Dienersitz.

Zweimal war der Sonnenuntergang also unter Verhältnissen vor sich gegangen, die es gestattet hätten, das ersehnte Phänomen zu beobachten, und zweimal hatte sich das begierige Auge der Miß Campbell den glühenden Liebkosungen des Gestirns ausgesetzt, von welchen sie als Nachwehen mehrere Stunden lang eine bemerkbare Störung der Sehfähigkeit davontrug. Zuerst hatte die Rettung Olivier Sinclair's und heute das Vorüberkommen Aristobulos Ursiclos' ihr die günstige Gelegenheit geraubt, welche vielleicht in langer Zeit nicht wiederkehrte. In beiden Fällen freilich waren die begleitenden Umstände nicht die nämlichen gewesen, und so sehr Miß Campbell den Einen entschuldigte, eben so sehr zürnte sie nun dem Andern. Wer könnte sie deshalb der Parteilichkeit zeihen?

Am folgenden Morgen lustwandelte Olivier Sinclair, etwas in Gedanken versanken, am Strande.

Wer war dieser Herr Aristobulos Ursiclos? Ein Verwandter der Miß Campbell und der Brüder Melvill oder nur ein Freund von ihnen? Auf jeden Fall stand er mit der Familie auf vertrautem Fuße; das bewies schon die Art und Weise, wie Miß Campbell sich hatte gehen lassen, als sie ihm seine Ungeschicktheit vorwarf. Doch was ging ihn, Olivier Sinclair, das überhaupt an? Wollte er wissen, woran er sei, so brauchte er ja nur Bruder Sam oder Sib zu fragen; aber gerade das verbot er sich selbst und that es auch wirklich nicht.

Die Gelegenheit dazu fehlte ihm natürlich nicht.

Jeden Tag begegnete Olivier Sinclair den Brüdern Melvill, die entweder zusammen lustwandelten – wer hätte sich überhaupt schmeicheln können, je einen derselben allein gesehen zu haben? – oder von ihrer Nichte begleitet waren, am Ufer des Meeres. Man plauderte von Tausenderlei, und vorzüglich von der Witterung, was im vorliegenden Falle durchaus keine Aushilfe war, etwas zu sprechen, ohne etwas zu sagen. Würde es noch einmal einen so klaren Abend geben, wie man einen erwartete, um wieder nach der Insel Seil zu fahren? Daran konnte man vielleicht zweifeln. Seit den tadellos schönen Tagen des 2. und des 14. August zeigte der Himmel stets ein ungewisses Aussehen, mit Regenwolken, gelegentlichem Wetterleuchten und abendlichen Nebeln – mit allen Unarten, die einen jungen Astronomen zur Verzweiflung gebracht hätten, wenn dieser, am Objectivglas seines Fernrohrs sitzend, einen Bruchtheil der Himmelskarte hätte durchmustern wollen.

Warum sollten wir nicht zugestehen, daß der junge Maler sich jetzt ebenso wie Miß Campbell von dem Grünen Strahl hatte einnehmen lassen? Er ritt ganz dasselbe Steckenpferd wie das junge Mädchen; er ergab sich dieser Phantasie mit nicht weniger Hitze, um nicht zu sagen, mit nicht weniger Ungeduld, wie seine junge Gefährtin. O, er war kein Aristobulos Ursiclos, der, den Kopf in den Wolken der Wissenschaft verborgen, für eine einfache, optische Erscheinung nichts wie Verachtung hatte. Beide verstanden sich und Beide wollten nun einmal zu den wenigen Auserwählten gehören, welche der Grüne Strahl mit seinem Erscheinen beehrt hatte.

„Wir werden ihn noch sehen, Miß Campbell,“ wiederholte Olivier Sinclair, wir werden ihn sehen, und wenn ich ihn selbst anzünden sollte! Es war ja mein Fehler, daß er Ihnen beim ersten Male entging, und ich bin ebenso schuldig, wie jener Herr Ursiclos... Ihr Verwandter... wenn ich nicht irre?“

„Nein, mein Bräutigam... wie es scheint..,“ antwortete heute Miß Campbell und entfernte sich mit einiger Hast, um sich ihren Onkels anzuschließen, welche unsern von ihr gingen und sich die unvermeidliche Prise anboten.

Ihr Bräutigam! Es war eine eigenthümliche Wirkung, welche diese einfache Antwort, und vorzüglich der Ton, in dem sie gegeben wurde, auf Olivier Sinclair hervorbrachte. Doch, warum hätte jener junge Pedant nicht ein Bräutigam sein können? Unter dieser Voraussetzung erklärte sich wenigstens seine Anwesenheit in Oban. Daß er das Unglück haben mußte, sich zwischen die untergehende Sonne und Miß Campbell zu stellen, daraus folgte doch noch nicht... was folgte daraus noch nicht? Olivier Sinclair wäre sehr in Verlegenheit gekommen, das zu sagen.

Nach zweitägiger Unsichtbarkeit war Aristobulos Ursiclos übrigens wieder auf der Bildfläche erschienen. Olivier Sinclair beobachtete ihn zuweilen in Gesellschaft der Brüder Melvill, die ihm unmöglich mehr zürnen konnten. Er schien mit ihnen auf bestem Fuße zu stehen. Wiederholt waren sich auch, entweder am Strande oder im Salon des Caledonian-Hôtels, der junge Gelehrte und der junge Künstler selbst begegnet. Die beiden Onkels hatten es nun doch für angezeigt gehalten, sie einander vorzustellen.

„Herr Aristobulos Ursiclos aus Dumfries!“

„Herr Olivier Sinclair aus Edinburgh!“

Die beiden jungen Leute begnügten sich mit einer sehr mittelmäßigen Begrüßung, einer leichten Neigung des Kopfes, woran der etwas zu steif gehaltene Körper keinen Antheil nahm. Allem Anscheine nach konnte zwischen diesen beiden Charakteren niemals irgend welche Sympathie aufkommen. Der Eine durchmusterte den Himmel, um ihm bildlich seine Sterne zu rauben, der Andere, um deren Elemente zu berechnen; der Eine, der Künstler ließ sich nicht verleiten, auf dem Piedestal der Kunst Stellung zu nehmen; der andere machte aus seiner Wissenschaft ein Piedestal, von welchem herab er Vorstellungen gab.

Was Miß Campbell betrifft, so schmollte sie noch immer mit Aristobulos Ursiclos. Wenn er anwesend war, so schien sie ihn gar nicht zu bemerken, wenn er vorüber kam, wendete sie sich bemerkbar weg. Mit einem Worte, und wie wir bereits oben geschildert haben, sie „coupirte“ ihn mit aller Schärfe des britischen Formalismus. Die Brüder Melvill hatten genug Mühe, die Stückchen von ihm zusammenzulesen. Doch wie dem auch war, Alles würde sich ja, ihrer Ansicht nach, zum Besten kehren, wenn dieser launenhafte Strahl sich ein einziges Mal sehen lassen wollte.

Dann und wann betrachtete Aristobulos Ursiclos den hübschen Olivier Sinclair über seine Brille hinweg, wie es Kurzsichtige zu thun pflegen, welche etwas sehen wollen, ohne es sich merken zu lassen. Und was er da bemerkte, die unverdrossene Zuvorkommenheit des jungen Mannes gegenüber Miß Campbell, die Liebenswürdigkeit, mit der das junge Mädchen ihm bei jeder Gelegenheit entgegenkam, Alles das war nicht besonders geeignet, ihm zu gefallen. Doch hielt er sich, seiner Sache gewiß, stets reservirt.

Bei dem immer so ungewissen Himmel und vor einem Barometer, dessen beweglicher Nadel es niemals einfiel, einen festen Stand einzunehmen, fühlten übrigens Alle ihre Geduld auf sehr harte Probe gestellt. In der Hoffnung, einen dunstfreien Horizont zu finden, wäre es auch nur für wenige Augenblicke zur Zeit des Sonnenuntergangs, unternahm man noch zwei bis drei Ausflüge nach der Insel Seil, an welchen Aristobulos Ursiclos nicht theilnehmen zu sollen glaubte.

Vergebliche Mühe! Der dreiundzwanzigste August kam heran, ohne daß das Phänomen sich herabgelassen hätte, zu erscheinen.

Diese Phantasie nahm allmählich die Gestalt einer fixen Idee an, welche einer anderen gar keinen Raum ließ. Das steigerte sich bis zum Zustand der Besessenheit. Man träumte davon Tag und Nacht, so daß eine neue Art Monomanie zu entstehen drohte – zu einer Zeit, wo man solche überhaupt nur noch schwer zählen kann. Unter dieser Beeinflussung des Geistes verwandelten sich alle Farben in eine einzige, der blaue Himmel erschien grün, die Landstraßen sahen grün aus, der Strand war grün, die Felsen waren grün, Wasser und Wein schimmerten grün wie Absynth! Die Brüder Melvill bildeten sich ein, in grüner Kleidung einherzugehen und hielten sich für ein paar Papageien, welche grünen Tabak aus grüner Dose schnupften. Mit einem Wort, es war eine grüne Tollheit! Alle erschienen von einer Art Daltonismus befallen, und Augenärzte hätten hier Gelegenheit gehabt, ihre ophthalmologischen Revuen mit interessanten Memoiren zu bereichern. Das konnte nicht lange fortdauern.

Glücklicher Weise kam Olivier Sinclair ein rettender Gedanke.

„Miß Campbell,“ begann er eines Tages, „und Sie, meine Herren Melvill, es scheint mir doch, Alles in Allem, daß wir in Oban recht schlecht daran sind, das fragliche Phänomen zu betrachten.“

„Und wen trifft dieser Fehler?“ antwortete Miß Campbell, „während sie die beiden Schuldigen, welche beschämt die Köpfe senkten, scharf ansah.“

„Hier giebt es keinen Meereshorizont,“ fuhr der junge Künstler fort. „Wir sind deshalb genöthigt, einen solchen allemal auf der Insel Seil zu suchen, und laufen Gefahr, uns gerade in dem geeigneten Augenblick nicht dort zu befinden.“

„Das liegt auf der Hand,“ stimmte Miß Campbell zu. „Ich weiß in der That nicht, wie meine Onkels dazu gekommen sind, gerade diesen entsetzlichen Platz für unsere Beobachtungen zu wählen.“

„Liebe Helena,“ antwortete hierauf Bruder Sam etwas kleinlaut, ohne recht zu wissen, was er eigentlich sagen sollte, „wir haben nun allerdings geglaubt...“

„Ja... geglaubt... daß dasselbe...“ fügte Bruder Sib hinzu, um ihm zu Hilfe zu kommen.

„Daß die Sonne es nicht unter ihrer Würde finden würde, jeden Abend am Horizonte von Oban unterzugehen....“

„Weil Oban doch am Meere liegt.“

„Ihr habt eben eine sehr falsche Vorstellung gehabt, liebe Onkels, eine ganz falsche, da sie, von hier gesehen, nicht in's Meer versinkt.“

„Leider,“ stammelte Bruder Sam. „Wenn nur diese verwünschten Inseln nicht wären, welche uns die Aus sicht auf das offene Meer rauben.“

„Ihr verlangt doch nicht etwa, daß sie in die Luft gesprengt werden sollen?“ fragte Miß Campbell.

„Das wäre ganz sicher schon geschehen, wenns überhaupt möglich wäre,“ erklärte Bruder Sib in entschlossenem Tone.

„Wir können uns aber nicht auf der Insel Seil niederlassen,“ bemerkte Bruder Sam.

„Und warum nicht?“

„Liebe Helena, wenn Du es unbedingt willst...“

„Unbedingt!“

„So brechen wir dahin auf!“ antworteten Bruder Sib und Bruder Sam resignirten Tones.

Und die beiden opferwilligen Wesen erklärten sich sofort bereit, Oban zu verlassen.

Da nahm Olivier Sinclair noch einmal das Wort.

„Miß Campbell,“ sagte er, gern bereit Ihren Willen zu erfüllen, „glaube ich doch, daß wir noch etwas Besseres thun könnten, als nach der Insel Seil überzusiedeln.“

„Reden Sie, Herr Sinclair, und wenn Ihr Vorschlag noch besser ist, werden meine Onkels sich nicht weigern ihn zu befolgen.“

Die Brüder Melvill verneigten sich mit so automatischer Bewegung, daß sie sich vielleicht noch nie so ähnlich gesehen hatten, wie in diesem Augenblicke.

„Die Insel Seil,“ erklärte Olivier Sinclair, „ist wirklich nicht geeignet, auf derselben längere Zeit zu wohnen, wenn das auch für einige Tage angehen möchte. Wenn Sie gezwungen sind, Geduld zu üben, Miß Campbell, so darf das doch nicht auf Kosten Ihres Wohlbefindens geschehen. Ich habe mich auch überzeugt, daß von Seil aus der Blick nach dem Meere durch die Gestaltung der Inseln sehr eingeengt ist. Wenn's das Unglück wollte, daß wir über Erwarten lange warten müßten, wenn unser Aufenthalt daselbst sich vielleicht gar über einige Wochen ausdehnte, könnte es kommen, daß die Sonne, welche jetzt nach Westen zu zurückweicht, endlich hinter der Insel Colonsay, der Insel Oronsay oder gar hinter Groß-Islay verschwände und aus Mangel an hinreichendem Rundblick jede Beobachtung unmöglich machte.“

„Wahrhaftig,“ sagte Miß Campbell, „das wäre der letzte Schlag des neidischen Geschicks...“

„Dem wir sehr leicht entgehen können, indem wir eine mehr außerhalb des Archipels der Hebriden gelegene Station aufsuchen, vor der sich der Atlantische Ocean in voller Unendlichkeit ausbreitet.“

„Und wäre Ihnen eine solche bekannt, Herr Sinclair?“ fragte Miß Campbell lebhaft.

Die Brüder Melvill hingen gespannt an den Lippen des jungen Mannes.

Was würde er antworten? Wohin, zum Teufel, würde sie die Phantasie ihrer Nichte zuletzt noch verschleppen?

Die Antwort Olivier Sinclair's brachte auf sie jedoch eine beruhigende Wirkung hervor.

„Miß Campbell,“ sagte er, „nicht weit von hier liegt eine Station, die mir alle günstigen Bedingungen zu vereinigen scheint. Sie befindet sich hinter jenen Höhen der Insel Mull welche den Horizont im Westen von Oban begrenzen. Es ist eine der kleinen Hebriden, die am weitesten in den Atlantischen Ocean vorgeschoben liegt, die reizende Insel Jona.““

„Jona,“ rief Miß Campbell, „Jona, meine Herren Onkels, und da sind wir noch nicht?“

„Morgen werden wir da sein, erwiderte Bruder Sib.“

„Morgen noch vor Sonnenuntergang, fügte Bruder Sam hinzu.“

„So begeben wir uns dorthin,“ erklärte Miß Campbell, „und wenn wir auch in Jona unerwarteter Weise einen nicht hinreichend ausgebreiteten Horizont antreffen, so wißt, liebe Onkels, daß wir nach einem anderen Punkt der Küste suchen werden, von John O'Groats am nördlichen Ende Schottlands bis nach Land's End, an der Südspitze Englands, und wenn selbst das noch nicht hinreichend sein sollte...“

„Das ist ganz einfach,“ fiel Olivier Sinclair ein, „dann fahren wir eben um die ganze Erde!“


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der grüne Strahl
012a Man plauderte von Tausenderlei.

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012b Der „Pionier“ glitt nach der Meerenge von Kerrera zu.

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