Der Kampf der Denker des 18. Jahrhunderts für die Befreiung im religiösen Denken

Der Kampf der französischen Denker des 18. Jahrhunderts für die Befreiung im religiösen Denken hatte seine Vorläufer im vorangegangenen Jahrhundert im protestantischen England, wo die unter dem Namen der Deisten bekannten Männer zweifelnd und zum Teil verneinend gegen alle religiöse Überlieferung sich gewandt haben. Bei dem Zweifel an den mittelalterlichen Überlieferungen der Kirche und dem Kampfe gegen ihre von den Staatsgewalten unterstützte Autorität — Zweifel und Kämpfe, welche den Ausgangspunkt des Lutherschen Protestantismus gebildet haben — konnte der nach Freiheit im religiösen und wissenschaftlichen Denken, nach Selbstbestimmung in moralischer Betätigung strebende Menschengeist für die Dauer sich nicht beruhigen. Waren durch den Protestantismus die kirchlichen Überlieferungen in ihrer autoritativen Gewalt erschüttert worden, so waren doch die biblischen Überlieferungen in ihrem Anspruch, unmittelbare göttliche Offenbarungen zu sein, unerschüttert, der uneingeschränkte Glaube an diese, als göttlich geltenden geoffenbarten Wahrheiten als Voraussetzung und Vorbedingung religiösen Denkens und Empfindens bestehen geblieben. Dass aber religiöse Freiheit und Denkfreiheit beim Gebundensein durch einen kritiklosen dogmatischen Glauben an geoffenbarte biblische Überlieferungen ebenfalls nicht bestehen kann, wird durch die heftigen dogmatischen Kämpfe innerhalb des Protestantismus selbst, durch die von der reformierten Kirche gegen abweichende Glaubensmeinungen nicht selten zutage getretenen fanatischen Verfolgungen dargetan. Es erklärt sich somit folgerichtig, dass schon im 17. Jahrhundert, dem Zeitalter des dreißigjährigen, zwischen den katholischen und protestantischen Völkern Europas auf Schlachtfeldern ausgefochtenen blutigen Kampfes, auch der Kampf der Geister gegen alle Überlieferung entbrennt, dass eine Kritik „aller Offenbarung“ sich zu regen beginnt, um dem auf halbem Wege stehen gebliebenen protestantischen Prinzip der Glaubensfreiheit zu einem entscheidenden Siege zu verhelfen. Den Ausgangspunkt der die neuzeitliche idealistische Philosophie eröffnenden Doktrin Descartes bildet ein entschiedener Protest gegen alle und jede Überlieferung, der Zweifel an der Wahrheit und Glaubwürdigkeit jedes aus der Überlieferung stammenden Tatsacheninhaltes, gleichviel, üb dieser aus Wahrnehmungen früherer Geschlechter — der Geschichte — oder aus unmittelbarer Wahrnehmung gegenwärtiger Geschlechter sich herleitet, so dass sogar den Zeugnissen der Sinne das Vertrauen versagt wird und einzig und allein die Selbstgewissheit des Denkens als feststehender Pol, als der archimedische Punkt übrig bleibt, von dem aus eine Fortbewegung erkennender Denktätigkeit stattfinden kann. Da jedoch Descartes den über jeden Zweifel erhabenen kritischen Standpunkt der Selbstgewissheit des Denkens — des „inneren Sinnes“ — bald verlässt, um unter Zuhilfenahme des metaphysischen Gottesbegriffs und seiner Attribute in Dogmatismus hineinzusteuern, so tritt sein Landsmann Pierre Bayle wie jedem Dogmatismus, so insbesondere dem Descartes entgegen und begründet seine Ansicht von der völligen „Unvereinbarkeit der Glaubenslehren mit der Vernunft“. Schon hier beginnt der ausgesprochene Gegensatz zwischen ,,Vernunftreligion und geoffenbarter Religion“, der im englischen Deismus zur Entwicklung gelangt und die französische Philosophie des 18. Jahrhunderts und deren „Opposition gegen die geltenden Dogmen und bestehenden Zustände in Kirche und Staat“ vorbereitet. Unter den englischen Denkern des 17. Jahrhunderts, die durch ihren, teils im Geiste streng wissenschaftlicher Prüfung und Untersuchung, teils in satirischem Tone gegen die „geoffenbarte Religion“ geführten Kampf die Aufklärungsperiode in Frankreich, mittelbar auch in Deutschland angebahnt haben, nimmt John Locke, „der Ahnherr der kritischen Philosophie“, wie ihn Erich Schmidt nennt, einen hervorragenden Platz ein. In demselben Jahre wie Spinoza — 1632 — geboren, eröffnet er auf der Grundlage tiefdringender naturwissenschaftlicher Studien die Reihe der neuzeitlichen empiristischen Philosophen durch seinen „Versuch über den menschlichen Verstand“, in dem zuerst die Untersuchung über „Ursprung, Umfang und Grenzen der menschlichen Erkenntnis“ als unerlässliche Bedingung aller erkennenden Denktätigkeit dargetan wird. Kann er dadurch den ehrenvollen Namen eines Vorläufers des Kantschen Kritizismus für sich in Anspruch nehmen, so ist er durch seine „Briefe oder Sendschreiben für die Toleranz“, in denen er die Mächtigen der Erde in Staat und Kirche auf das Unzulässige der religiösen Unduldsamkeit in schärfster Weise und mit unerschrockenem Mute hinweist, und dem schon vom Kirchenvater Tertullian verkündeten Satze: ,,Non est religionis relionem cogere“ folgend, das Frevelhafte und zugleich Widersinnige, das in dem Erzwingenwollen religiöser Überzeugungen liegt, das entweder zur Heuchelei oder zur Schwächung der Autorität der Gebietenden führe, darlegt, zum ältesten philosophischen Vorkämpfer für das innerste, heilige Gut des Menschen, für Gewissens- und Glaubensfreiheit geworden. Hierfür bleibt ihm ein ehrenvoller Platz in der Geschichte des Toleranzgedankens gesichert.

Bei aller Entschiedenheit aber, mit der Locke den Toleranzgedanken verficht, bei aller Schärfe, mit der er die Beschränkung der bürgerlichen Rechte der Mitglieder eines Staates wegen abweichender Glaubensansichten bekämpft, zieht er gleichwohl um sein Prinzip der Duldung eine Schranke, durch welche diesem der Charakter völlig freier Humanität entzogen wird. Wenn er auch die Berechtigung einer Staatsreligion, eines christlichen Staates, bestreitet und es nicht als Sache der bürgerlichen Gemeinschaft anerkennt, darnach zu fragen, welcher religiösen Gemeinschaft jemand angehöre, so dass „nicht einmal Heiden, Juden, Mohammedaner aus religiösen Gründen von den bürgerlichen Rechten ausgeschlossen werden dürfen“, so kann doch, nach seiner Meinung, „der Staat von jedem seiner Mitglieder verlangen, dass er auch Mitglied irgend einer religiösen Gemeinschaft sei, denn Atheismus sei gemeinschädlich.“ Diese Einschränkung des sonst so enthusiastisch verfochtenen Toleranzgedankens beruht unverkennbar auf der irrtümlichen Gleichsetzung der Begriffe „Religion“ und „Kirche“, auf dem Fehlen der Unterscheidung zwischen persönlichem individuellem religiösen Empfinden und dem sich Bekennen zu einer positiven bestehenden Religionsgemeinschaft. Wer nicht Mitglied irgend einer bestehenden religiösen Gemeinschaft ist, dem gegenüber ist, nach Locke, der Staat zur Duldung — zur Toleranz, — nicht verpflichtet, weil er Atheist und als solcher gemeinschädlich sei. Ein solcher vermeintlicher „gemeinschädlicher Atheist“ könnte aber mit Fug und Recht dem gegen ihn erhobenen Vorwurf mit den Worten Schillers begegnen: „Welche Regeln ich bekenne? Keine von allen, die du mir nennst. Und warum keine? — Aus Religion.“ Diese Schranken, die dem Toleranzgedanken von dem englischen Deisten gezogen waren, zu beseitigen, blieb dem 18. Jahrhundert vorbehalten, in welchem eine scharfe Scheidung zwischen „geoffenbarter“ positiver Religion und „Vernunftreligion“ sich vollziehen sollte. Die Art, wie der Versuch, diese Scheidung zu vollziehen, in Angriff genommen wurde und dadurch die Weiterentwicklung des Toleranzgedankens sich vollzog, ist in hohem Grade charakteristisch für den Unterschied der französischen und deutschen Aufklärungsperiode und für die Denkrichtung ihrer Vertreter bei beiden Nationen. Während bei den Franzosen, die man im Hinblick auf die große Staatsumwälzung des 18. Jahrhunderts das Volk der befreienden Tat nennen könnte, die Geistesarbeit der diese Umwälzung vorbereitenden Aufklärer von vornherein die praktische Tendenz einer Beseitigung der überlebten Zustände in Staat und Kirche erkennen lässt, begegnen wir den Vertretern der deutschen Aufklärung als Vorkämpfern für das befreiende Denken, das die Unhaltbarkeit des in Fragen religiösen Glaubens Angefochtenen auf dem Wege begrifflicher Erörterung dartut. Ebenso wie der Lockesche Empirismus bei den Franzosen in den Sensualismus Condillacs und von diesem weiter in den Materialismus Holbachs und La Mettries, mündet der von den englischen Deisten und zuoberst von Locke zu Gunsten der Vernunftreligion geführte Kampf gegen den Dogmatismus und die von der Staatsgewalt unterstützte Autorität der positiven Religionen in Frankreich in die satirische, oft von leichtfertiger Frivolität nicht freie Negation eines Voltaire, der als der erste und einflussreichste Führer der französischen Aufklärungsperiode gelten darf. In Deutschland nimmt der Empirismus Lockes seinen Weg über Leibniz und die an ihn anknüpfende Wolff’sche Schule zum Kritizismus Kants, der „durch Humes skeptische Bedenken gegen den Kausalitätsbegriff aus seinem dogmatischen Schlummer erweckt“, die Erkenntnistheorie, die Ethik und die gesamte philosophische Weltauffassung an Haupt und Gliedern umgestaltet und neu aufbaut. Ebenso sehen wir den vom englischen Deismus für die „Vernunftreligion“ aufgenommenen und von Locke für den Toleranzgedanken begonnenen Kampf, nachdem er eine Strecke Weges durch die Versöhnungsversuche der Leibniz –Wolff’schen Philosophie zurückgelegt hat, in den Männern der deutschen Aufklärung seine Vertreter und Fortbildner finden, an deren Spitze die Namen Lessings, Mendelssohns und Herders stehen. Von diesen stellt der erstgenannte — Lessing — durch geniale schöpferische Kritik die Grenzen zwischen ,,geoffenbarter“ und „Vernunftreligion“ mit strengbegrifflicher Schärfe fest und gibt dem auf dieser Grundlage entwickelten Toleranzgedanken die klarste Fassung. Moses Mendelssohn — der im treuen Geistesbunde mit seinem genialen Freunde an dieser großen Aufgabe arbeitende Popularphilosoph — bringt diese Gedanken, besonders in ihrem Verhältnis zur ältesten aller „geoffenbarten“ Religionen — zum Judentum — dem allgemeinen Verständnis nahe und wird dadurch zu einem der Hauptvertreter der Aufklärungsidee in der deutschen Literatur dieser Periode und zum Befreier und geistigen Fortbildner seiner Glaubensgenossen in Deutschland. Herder — der Begründer und Schöpfer der geschichtsphilosophischen Betrachtung des Völkerlebens, erweckt das Verständnis für den Anteil, den die verschiedenen Völker des Erdballs seit den ältesten Zeiten an der allmählich aufsteigenden und sich entwickelnden Kultur und sittlichen Vervollkommnung des Menschengeschlechts gehabt haben. Er lehrt fremde, von der eigenen abweichende, durch individuelle Begabung und umgebende Verhältnisse bedingte Eigenart der Völker nach Gebühr würdigen und wird durch diese objektive Betrachtung von Menschen und Verhältnissen zum Überwinder tiefgewurzelter Vorurteile, zum Apostel der Humanitätsidee und zum begeisterten und einflussreichen Förderer und Fortbildner des Toleranzgedankens in der deutschen Literatur dieser klassischen Periode.