Vorrede.

Erörterungen über Systeme von Stadtanlagen gehören heute zu den brennenden Fragen der Zeit. Wie bei allen Zeitfragen bewegen sich auch hier die Urteile nicht selten in den heftigsten Gegensätzen. Im Allgemeinen aber kann beobachtet werden, dass einer einhelligen ehrenvollen Anerkennung dessen, was in technischer Richtung in Bezug auf den Verkehr, auf günstige Bauplatzverwertung und besonders in Bezug auf hygienische Verbesserungen Großes geleistet wurde, eine fast ebenso einhellige, bis zu Spott und Geringschätzung gehende Verwerfung der künstlerischen Misserfolge des modernen Städtebaues entgegensteht. Damit ist auch das Richtige getroffen, denn in technischer Beziehung wurde tatsächlich viel, in künstlerischer aber fast nichts geleistet, und stehen den großartigsten neuen Monumentalbauten meist ungeschickteste Platzformationen und Parcellirungen der Nachbarschaft gegenüber. Da schien es denn angezeigt, einmal den Versuch zu wagen, eine Menge schöner alter Platz- und überhaupt Stadtanlagen auf die Ursachen der schönen Wirkung hin zu untersuchen; weil die Ursachen, richtig erkannt, dann eine Summe von Regeln darstellen würden, bei deren Befolgung dann ähnliche treffliche Wirkungen erzielt werden müssten. Dieser leitenden Absicht zufolge soll die vorliegende Schrift also weder eine Geschichte des Städtebaues noch eine Streitschrift darstellen, sondern Material samt theoretischen Ableitungen für den Praktiker bieten; sie soll ein Theil des großen Lehrgebäudes praktischer Aesthetik und dem Stadtbautechniker ein willkommener Beitrag sein zu seiner eigenen Sammlung von Erfahrungen und Regeln, denen er bei Conception seiner Parcellirungspläne folgt. Deshalb wurde auch ein möglichst reiches Material von Illustrationen und hauptsächlich von Stadtplan-Details beigegeben, und wäre hierzu noch zu bemerken, dass für dieselben, so weit es nach dem vorliegenden Kartenmateriale möglich war, ein gemeinschaftlicher Maßstab angenommen wurde, dessen Einheit am Schluss (beim Illustrations-Register) angegeben ist. In einzelnen Fällen, wo dies nicht möglich war, wurde der Maßstab nach erfahrungsmäßig ziemlich sicheren Anhaltspunkten (mittlere Kirchenlänge etc.) wenigstens näherungsweise bestimmt. Die Beispiele sind auf Oesterreich, Deutschland, Italien und Frankreich beschränkt, weil der Autor dem Grundsatze folgte, nur Selbstgesehenes zu besprechen, von dem die ästhetische Wirkung nach eigener Anschauung beobachtet wurde. Nur nach diesem Grundsatze schien es möglich, allen technischen und künstlerischen Collegen ein beachtenswertes nützliches Materiale zu liefern, dessen vollständige Erschöpfung ja ohnehin nur von einer Geschichte des Städtebaues, nicht aber von einer Theorie desselben verlangt werden könnte.

Wien, 7. Mai 1889. C. Sitte.