Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen

Ein Beitrag zur Lösung moderner Fragen der Architektur und monumentalen Plastik unter besonderer Beziehung auf Wien.
Autor: Sitte Camillo (1843-1903), Erscheinungsjahr: 1901

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Themenbereiche
Inhaltsverzeichnis
    Einleitung.
  1. I. Beziehung zwischen Bauten, Monumenten und Plätzen.
  2. II. Das Freihalten der Mitte.
  3. III. Die Geschlossenheit der Plätze.
  4. IV. Größe und Form der Plätze.
  5. V. Unregelmäßigkeiten alter Plätze.
  6. VI. Platzgruppen.
  7. VII. Platzanlagen im Norden Europas.
  8. VIII. Die Motivenrmuth und Nüchternheit moderner Stadtanlagen.
  9. IX. Moderne Systeme.
  10. X. Die Grenzen der Kunst bei modernen Stadtanlagen.
  11. XI. Verbessertes modernes System.
  12. XII. Beispiel einer Stadtregulirung nach künstlerischen Grundsätzen.
  13. Schluss.
EINLEITUNG.

Zu unseren schönsten Träumen gehören angenehme Reiseerinnerungen. Herrliche Städtebilder, Monumente, Plätze, schöne Fernsichten ziehen vor unserem geistigen Auge vorüber, und wir schwelgen noch einmal im Genüsse alles des Erhabenen oder Anmutigen, bei dem zu verweilen wir einst so glücklich waren.

Zu verweilen! — Könnten wir das öfter wieder an diesem oder jenem Platze, an dessen Schönheit man sich nicht sattsehen kann; gewiss, wir würden manche schwere Stunde leichteren Herzens tragen und neu gestärkt, den ewigen Kampf des Lebens weiterführen. Zweifellos ist die unverwüstliche Heiterkeit des Südländers an den hellenischen Küsten, in Unteritalien und anderen gesegneten Himmelsstrichen zunächst ein Geschenk der Natur, aber die alten Städte waren hier dieser schönen Natur nachgebildet, und auch sie wirkten auf das Gemüt der Menschen mit sanfter, unwiderstehlicher Gewalt in demselben Sinne. Schwerlich wird Jemand dieser Annahme einer so starken Einwirkung der äußeren Umgebung auf das menschliche Gemüt widersprechen, der selbst einmal die Schönheit einer antiken Stadt sich lebhaft versinnlicht hat. Vielleicht am anregendsten hiezu sind die Ruinen von Pompeji. Wer hier nach täglicher ernster Arbeit Abends über das blosgelegte Forum seine Schritte heimwärts lenkt, der fühlt sich mächtig hinangezogen über die Freitreppe des Jupiter-Tempels, um von dessen Plattform immer wieder die herrliche Anlage zu überschauen, aus der uns eine Fülle von Harmonie entgegenströmt, wie die schönste Musik in vollen, reinen Klängen. An einer solchen Stelle begreifen wir auch die Worte des Aristoteles, der alle Grundsätze des Städtebaues dahin zusammenfasst, dass eine Stadt so gebaut sein solle, um die Menschen sicher und zugleich glücklich zu machen. Zur Verwirklichung des letzteren dürfte der Städtebau nicht blos eine technische Frage, sondern müsste im eigentlichsten und höchsten Sinne eine Kunstfrage sein. Das war er auch im Altertume, im Mittelalter, in der Renaissance, überall da, wo überhaupt die Künste gepflegt wurden. Nur in unserem mathematischen Jahrhundert sind Stadterweiterungen und Städteanlagen beinahe eine rein technische Angelegenheit geworden, und so scheint es denn wichtig, wieder einmal darauf hinzuweisen, dass hiermit nur die eine Seite des Problems zur Lösung käme, und dass die andere Seite, die künstlerische, von mindestens ebenso großer Wichtigkeit wäre.

Hiermit ist der Zweck der folgenden Untersuchung angegeben, wobei jedoch gleich eingangs zu bemerken kommt, dass es nicht darauf abgesehen ist, schon längst und oft Gesagtes neuerdings zusammenzutragen. Es ist auch nicht die Absicht, neuerdings in Klagen über die bereits sprichwörtliche Langweiligkeit moderner Stadtanlagen auszubrechen oder Alles und Jedes einfach zu verdammen und nochmals an den Pranger zu stellen, was auf diesem Gebiete in unserer Zeit geschehen. Eine solche, blos negative Arbeit muss allein dem Kritiker vorbehalten bleiben, dem ewig nichts recht, der immer nur verneint. Wer dagegen die Ueberzeugung in sich trägt, dass Gutes und Schönes auch heute noch geschaffen werden kann, der bedarf auch des Glaubens an die gute Sache und der Begeisterung für dieselbe. Also weder der historische noch der kritische Standpunkt soll hier in den Vordergrund gestellt werden, sondern es sollen alte und neue Städte rein kunsttechnisch analysirt werden, um die Motive der Composition bloszulegen, auf denen dort: Harmonie und sinnberückende Wirkung, hier: Zerfahrenheit und Langweiligkeit beruhen; und das Ganze zu dem Zweck, womöglich einen Ausweg zu finden, der uns aus dem modernen Häuserkastensystem befreit, die der Vernichtung immer mehr anheimfallenden schönen Altstädte nach Tunlichkeit rettet und schließlich auch selbst den alten Meisterleistungen Aehnliches hervorbringen liesse.

Diesem praktisch-künstlerischen Programme entsprechend, werden uns näher stehende Stadtanlagen und Monument-Aufstellungen der Renaissance und Barocke am meisten in Erwägung zu ziehen sein, und nur Weniges über antikgriechische und römische Conceptionen wird in Erinnerung gebracht werden müssen, was teils das Verständnis für die Renaissance-Anlage erschließt, teils bei der weiteren Analyse noch gebraucht wird, denn auch Zweck und Bedeutung mancher Hauptstücke des Städtebaues haben sich seither gar sehr geändert.

So ist die Bedeutung der freien Plätze inmitten der Stadt (eines Forums oder eines Marktplatzes) eine wesentlich andere geworden. Heute höchst selten zu großen öffentlichen Festen verwendet und immer weniger zu täglichem Gebrauch, dienen sie häufig keinem anderen Zweck, als mehr Luft und Licht zu gewähren, eine gewisse Unterbrechung des monotonen Häusermeeres zu bewerkstelligen und allenfalls noch auf irgend ein größeres Gebäude einen freieren Ausblick zu gewähren und dieses in seiner architektonischen Wirkung besser zur Geltung zu bringen. Ganz anders im Altertume. Da waren die Hauptplätze jeder Stadt ein Lebensbedürfnis ersten Ranges, indem auf ihnen ein großer Theil des öffentlichen Lebens sich abspielte, wozu heute nicht offene Plätze, sondern geschlossene Räume verwendet werden.

Die Agora der altgriechischen Städte war der Ort der unter freiem Himmel tagenden Rathsversammlung. Der zweite Hauptplatz einer antiken Stadt, der Markt, hat sich zwar heute noch im Freien erhalten, wandert aber gleichfalls immer mehr in geschlossene Markthallen. Bedenkt man ferner, dass auch die Opfer vor den Tempeln im Freien dargebracht wurden, dass alle Spiele und selbst die Aufführung von Tragödien und allen anderen dramatischen Werken in ungedeckten Theatern erfolgte; erinnert man sich ferner noch daran, dass ja auch die sogenannten Hypäthral-Tempel in diese Kategorie nach oben offener Räume gehören und dass schließlich selbst das antike Wohnhaus diesem Typus folgt und nur eine Art Umstellung eines oben offenen Hofraumes mit verschiedenen Sälen und Zimmerchen darstellt, so gewahrt man, dass zwischen den genannten Gebäuden (Theater, Tempel, Wohnhaus) und den Stadtplätzen der Unterschied eigentlich geringfügig ist. wenn von unserem gänzlich veränderten Standpunkte aus das auch befremdlich erscheint.

Dass die Alten aber die Empfindung hatten von der Gleichartigkeit aller dieser Dinge, geht deutlich aus Vitruv hervor; denn obwohl dieser selbst erklärt (1. V. pr. 5), dass er die zusammengehörenden Gegenstände immer als ein geschlossenes Ganze besprochen habe, behandelt er die Anlage des Forums nicht dort, wo er von der Wahl der Orte für öffentliche Anlagen, von der Wahl gesunder Plätze oder von der Anlage von Strassen, dass sie nicht windig sein sollen (1. 1.) redet, oder wo er die Geschichte des Demokrates erzählt, welcher den Stadtplan für Alexandrien soll entworfen haben, sondern Vitruv stellt das Forum in einem Capitel mit der Rasilica zusammen und in demselben Buch (1. V.) folgt noch die Besprechung der Theater, Palästren, Ringbahnen und Thermen; Alles öffentliche, mehr weniger zu architektonischen Werken ausgebildete Versammlungsorte unter freiem Himmel. Ganz dasselbe kann vom antiken Forum gesagt werden, das Vitruv somit ganz richtig in dieser Gruppe vorführt. Die nahe Verwandtschaft eines Forums mit einem wenigstens rings herum geschlossenen architektonisch durchgebildeten Raum, der auch demgemäss mit Malereien und Statuen etc. geziert ist, festsaalartig, geht auch aus Vitruv’s Beschreibung und noch deutlicher aus der ganz mit Vitruv stimmenden Forumsanlage zu Pompeji hervor. Vitruv sagt gleich eingangs: „Die Griechen legen ihre Marktplätze im Quadrat mit geräumigen und doppelten Säulenhallen an und schmücken diese mit dichtstehenden Säulen und steinernen oder marmornen Gebälken und bringen über der Decke Gänge an. In den Städten Italiens aber darf der Marktplatz nicht auf dieselbe Weise angelegt werden, deshalb, weil von den Vorfahren der Gebrauch überliefert ist, dass auf dem Forum Gladiatoren-Spiele veranstaltet werden. Man soll daher rings um den Schauplatz die Säulenweiten geräumiger anlegen und ringsum in den Säulenhallen Wechslerbuden und in den oberen Stockwerken vorspringende Zwischenräume anbringen, welche mit Rücksicht sowohl auf den zweckmäßigen Gebrauch, als auch auf die dem Staat daraus erwachsenden Einkünfte angelegt sein sollen.“

Was ist nach dieser Beschreibung ein Forum anderes, als eine Art Theater? Noch deutlicher geht dies aus dem Plane dieses Forums (Fig. 1) hervor. Auf allen vier Seiten, rings herum, ist das Forum dicht besetzt mit öffentlichen Bauten, aber nur an der nördlichen Schmalseite ragt der Tempel des Jupiter frei hervor, und gleich daneben scheint die Vorhalle des Gebäudes der Decurionen noch bis an den freien Platz gereicht zu haben. Im Uebrigen geht rings herum eine Säulenhalle in zwei Stockwerken; der Raum in der Mitte des Platzes ist frei, während am Rande desselben sehr zahlreich größere und kleinere Monumente aufgestellt waren, deren Postamente und Inschriften noch zu sehen sind. Was muss die Wirkung dieses Platzes gewesen sein. Nach modernen Begriffen noch am ehesten die eines großen Concertsaales mit Galerie, aber ohne Decke, ein hypäthraler Versammlungssaal. Damit hängt auch die strenge Abgeschlossenheit des Raumes zusammen. Nicht nur Hausfronten in moderner Art sind gänzlich fern gehalten, sondern auch die Einmündung von Strassen sehr beschränkt. Hinter den Gebäuden III, IV, V befinden sich drei Sackgassen, welche nicht bis aufs Forum geführt wurden. Die Strassen E, F, G, II aber waren bei der Einmündung mit Gittern verschlossen, und auch auf der Nordseite mündeten die Strassen nicht frei ein, sondern passirten dabei die Thore A, ß, C und D.

Nach denselben Grundsätzen angelegt ist das Forum Romanum (Fig. 2). Die Umschließung des Raumes ist zwar mannigfaltiger, aber die hiezu dienenden Gebäude sind gleichfalls durchaus öffentliche Monumentalbauten; Straßenzüge münden auch hier nur spärlich und ohne die Geschlossenheit des Raumes nach Art eines Festsaales zu beeinträchtigen; die Monumente stehen auch hier nicht in der Mitte, sondern an den Rändern des Platzes entlang; kurz: das Forum ist für die ganze Stadt dasselbe, was für ein einzelnes Familienhaus das Atrium ist, der wohleingerichtete, gleichsam reich möblirte Hauptsaal. Deshalb wurde auch hier eine ungewöhnliche Fülle von Säulen, Monumenten, Statuen und anderen Kunstschätzen zusammengehäuft, denn es galt gleichsam ein großartiges hypäthrales Interieur zu schaffen. Nach mehrfachen Berichten waren häufig hunderte und sogar tausende von Statuen, Büsten etc. auf einem einzigen Forum vereinigt. Das Alles, wohlgeordnet bei freigehaltener Mitte, dass wie bei einem Saal der an den Wänden entlang aufgestellte Reichtum auch übersehen werden könne und zur Geltung käme, musste eine überwältigende Wirkung hervorbringen. So wie aber der Schatz an Werken der Plastik hauptsächlich hier vereinigt wurde, so wurden auch die Monumentalbauten hier, so weit es passend und möglich war, concentrirt; genau wie es auch Aristoteles von einer Stadtanlage verlangt, dass die den Göttern geweihten Tempel und sonstigen Staatsgebäude in angemessener Weise vereint sein sollen, während Pausanias sich dahin ausspricht: Man könne etwas keine Stadt nennen, wo es keine öffentlichen Gebäude und Plätze gibt.

Im Wesentlichen, nach denselben Regeln angeordnet, zeigt sich der Marktplatz von Athen (Fig. 3), soweit die vorliegende Restauration der Wirklichkeit nahe kommen konnte. Die höchste Steigerung dieses Motives ist aber zu erkennen an den großen Tempelbezirken des griechischen Alterthumes zu Eleusis, Olympia, Delphi und an anderen Orten. Architektur, Plastik und Malerei vereinen sich da zu einem Gesamtwerke der bildenden Künste von einer Erhabenheit und Herrlichkeit, wie eine mächtige Tragödie oder eine große Symphonie. Das vollendetste Beispiel dieser Art bietet die Akropolis von Athen (Fig. 4). Das in der Mitte freigehaltene Hochplateau, umschlossen von hohen Festungsmauern, bietet die herkömmliche Grundform dar. Das untere Eingangstor, die mächtige Freitreppe, die wundervoll durchgeführten Propyleen, sind der erste Satz dieser in Marmor, Gold und Elfenbein, Bronze und Farbe ausgeführten Symphonie; die Tempel und Monumente des Innenraumes sind die zu Stein gewordene Mythe des hellenischen Volkes. Das erhabenste Dichten und Denken hat hier an geweihter Städte seine räumliche Verkörperung gefunden. Das ist in Wahrheit der Mittelpunkt einer bedeutenden Stadt, die Versinnlichung der Weltanschauung eines großen Volkes. Das ist nicht mehr bloß ein Teil einer Stadtanlage in gewöhnlichem Sinne, sondern ein zum reinen Kunstwerk herangereiftes Werk von Jahrhunderten.

Auf diesem Gebiete sich ein noch höheres Ziel zu stecken, ist unmöglich. Auch nur Aehnliches zu erreichen, glückte selten. Niemals aber sollte uns die Erinnerung an solche Werke größten Styles verlassen, die uns vielmehr stets, als Ideal wenigstens, vorschweben sollten bei ähnlichen Unternehmungen.

Bei der weiteren Untersuchung der künstlerischen Grundsätze, nach welchen solche Schöpfungen zu Stande kamen, wird sich übrigens zeigen, dass die wesentlichsten Motive des Aufbaues durchaus nicht verloren gingen, sondern vielmehr bis zu uns herauf sich erhalten haben, und es wird nur eines günstigen Anstoßes bedürfen, sie lebensvoll wieder erstehen zu lassen.

Fig 02 Rom - Das Forum Romanum

Fig 02 Rom - Das Forum Romanum

Fig 03 Athen - Marktplatz

Fig 03 Athen - Marktplatz

Fig 04 Athen - Die Akropolis

Fig 04 Athen - Die Akropolis

Fig 05 - Florenz - Die Signoria

Fig 05 - Florenz - Die Signoria

Fig 06 Breslau - Der Rathhausplatz

Fig 06 Breslau - Der Rathhausplatz

Fig 19 Florenz - Via degli Strozzi

Fig 19 Florenz - Via degli Strozzi

Fig 26 Wien - Der Neue Markt

Fig 26 Wien - Der Neue Markt

Fig 27 Florenz - Portico degli Uffici

Fig 27 Florenz - Portico degli Uffici

Fig 28 Forum zu Pompeji

Fig 28 Forum zu Pompeji

Fig 31 Vizenca - Piazza dei Signori

Fig 31 Vizenca - Piazza dei Signori

Fig 47 Venedig - Piazzetta

Fig 47 Venedig - Piazzetta

Fig 52 Strassburg - Münster

Fig 52 Strassburg - Münster

Fig 73 Schloss Schönbrunn bei Wien

Fig 73 Schloss Schönbrunn bei Wien

S13 Florenz - Loggia dei Lanzi

S13 Florenz - Loggia dei Lanzi

S29 Rom - Das Pantheon

S29 Rom - Das Pantheon

S83 Rom - Das Capitol

S83 Rom - Das Capitol