Der Robbenschlag in den arktischen Regionen.

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1913
Autor: Dr. Karl Müller, Erscheinungsjahr: 1875

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Robben, Lebertran, Robbenjagd, Nordpolarmeer, Seehund, Meeressäugetiere
Der Tran ist ein für gewisse Gewerbe unentbehrliches Fett geworden, und seit deshalb der Walfischfang in den Meeren der nördlichen Erdhälfte so unergiebig geworden ist, dass er sich beinahe gar nicht mehr verlohnt, hat die Robbe oder der Seehund nächst dem Walfisch die wichtigste Stelle in den Meeresjagden eingenommen. Es laufen daher heutzutage weit mehr Schiffe aus europäischen Häfen auf die Seehundsjagd oder den Robbenschlag aus, als vordem in den Zeiten des ergiebigsten Walfischfangs auf diesen ausliefen, und man betrachtet den Robbenschlag noch immer als eines der einträglichsten seemännischen Gewerbe und als eine lohnende kaufmännische Spekulation.

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Unter den Meeressäugetieren außer den Walen nehmen besonders die Flossenfüßer, nämlich die ausgebreitete Familie der Robben oder Seehunde und die kleinere Familie der gewaltigen Morse oder Walrosse, eine hervorragende Stelle im Tierleben ein. Die an Zahl der Arten und Individuen so reiche Familie der Robben ist beinahe über alle größeren Gewässer der Erde verbreitet, und zwar desto häufiger je näher den Polen. Die Polarmeere und die Meere der gemäßigten Zone sind sogar ihre vorherrschenden Verbreitungsbezirke, und von hier aus sind sie auch nach den großen Binnenseen Asiens gelangt. Nur wenige Arten sind Weltbürger und wandern nach Laune und Bedarf zwischen den warmen und kalten Zonen hin und her; die meisten haben abgegrenzte Verbreitungsbezirke nach Maßgabe der klimatischen Verhältnisse; alle bewohnen das Meer und gehen von da nur kurze Zeit die Flüsse hinan oder auf kurze Strecken über Land nach größeren Wasserbehältern. Die meisten lieben die Nähe der Küsten, manche Arten ziehen aber auch die offene See vor. Im Allgemeinen nimmt man an, dass weitaus die Mehrzahl der Robben die Küsten und das feste Land oder die hochnordischen Eisflächen nur während des Fortpflanzungszeit und als kleine Junge aufsuchen, dass aber außerdem das Wasser ihr heimatliches Element und ihre eigentliche Wohnstätte sei. Ihre Unbehilflichkeit und Schwerfälligkeit der Bewegung am Lande kontrastiert lebhaft mit ihrer ungemeinen Beweglichkeit und Behendigkeit im Wasser, die wahrhaft wunderbar erscheint und nebst der allgemeinen Harmlosigkeit des Tieres und dem milden, sanften Blick ihrer schönen Augen die Robben auch zu den anmutigsten und interessantesten höheren Meeresgeschöpfen macht.

Alle Robbenarten leben gesellig zusammen, desto zahlreicher, je weniger vom Menschen betreten ihr
Aufenthalt ist, denn wenn sie auch am Eisbär und anderen größeren Vierfüßlern der Polarwelt Feinde haben mögen, so ist doch ihr gefährlichster, blutdürstigster und unersättlichster Feind stets der Mensch, der wilde und halbwilde wie der zivilisierte. Leben ja doch die Eskimos und andere Stämme an den Küsten des Polarmeeres beinahe ausschließlich von den Seehunden. Das Fell der Robbe liefert dem Eskimo den Stoff zu seiner Kleidung, den Überzug der Holzgestelle für seinen Kajak oder einsitzigen Nachen wie für seine Baidare [Kanu] oder mehrsitziges Frauenboot, das Lederwerk für seinen ganzen Haushalt; das Fett der Robbe gibt dem Eskimo den Tran für die Lampen aus Robbenschädeln, mit denen er in der langen Winternacht seine unterirdische Wohnung erhellt und erwärmt, sowie ein erwärmendes Getränke und das Fett, womit er seine anderen Speisen zubereitet. Das Fleisch der Robbe ist eines der vorherrschenden Nahrungsmittel der Küstenbewohner am Polarmeer, und selbst die Zähne und die Knochen sind noch gesuchte Artikel im Haushalt dieser wilden und halbwilden Stämme. Daher die stete eifrige Jagd all der einheimischen hochnordischen Küstenstämme auf die verschiedenen Robbenarten, welche den Ozean jener Zone bevölkern und bei Tage an deren Küsten und vorliegende Eismassen kommen, um vier zu schlafen und sich zu sonnen, weil ihre Lebensweise eine vorherrschend nächtige ist und sie wahrscheinlich nachts auch ihrer Beute an Fischen, Schal- und sonstigen Meerestieren sicherer sind. In Gegenden, wo die Robben noch wenig oder gar nicht gejagt worden sind, da lassen sie trotz ihres vorzüglich feinen Gesichts und Gehörs den Menschen ganz dicht an sich herankommen, sei es am Lande, wo sie sich träge dehnen, sei es im Meere, wo sie den Schiffer im kleinen Kajak oder im großen Boote verblüfft anstaunen und arglos stille halten, bis der tödliche Speerwurf, Pfeilschuss oder Kolbenschlag sie trifft. Dagegen soll der Knall des Schießgewehrs sie bald vor der Gefahr verwarnen, die ihnen von Seiten des Menschen droht und das einmal beschossene Rudel Robben sich instinktmäßig bei Zeiten vor dem Menschen zu retten suchen, indem es sich in die See flüchtet. Daher ist es auch unter den Robbenschlägern eine Art abergläubischer Brauch, sich so wenig wie möglich des Schießgewehrs zu bedienen, zumal nicht in Gegenden, die man zum ersten Male betritt. Die Robbe ist aber neuerdings nicht bloß durch den Tran, den man aus ihrem Fette gewinnt, für den menschlichen Haushalt so wichtig geworden, sondern ihre Haut liefert auch noch ein gesuchtes Leder und Pelzwerk. Die dicht behaarten und kraus- oder langhaarigen Robbenarten wie Seebär (Arctocephalus falclandicus), die Klappmütze, der bärtige Seehund, die Sattelrobbe und andere Arten liefern ein beliebtes dauerhaftes Pelzwerk; die Haut der kurz- und glatthaarigen Arten aber gibt ein vortreffliches beinahe ganz wasserdichtes und geschmeidiges Leder, welches besonders für Winterstiefeln, Riemenzeug etc. sehr geeignet und äußerst zäh und dauerhaft ist, und daher immer allgemeiner begehrt und verwendet wird.

Da die meisten erwachsenen Robben unserer Nordpolarmeere durchschnittlich eine Länge von fünf Fuß
und ein Gewicht von 1 bis 2 Zentnern haben, so ist der Ertrag des Robbenschlags ein sehr rascher. Die
meisten Fahrzeuge, welche auf den Robbenschlag in unseren arktischen Meeren ausgehen, verlassen im Frühling unsere europäischen oder die nordamerikanischen Häfen und gelangen in die arktische Zone etwa gleichzeitig mit dem ersten Schub des in Bewegung gesetzten polaren Eises. Die Küsten von Grönland, Spitzbergen, Nowaja Semljä u. s. w., noch mehr aber die Nordküsten des Stillen Ozeans sind das erste Ziel der Robbenschläger und liefern zunächst auf den Eisfeldern und Fluen, später am festen Küstenrandeis und dann am entblößten Strande oder auf den Küstenklippen eine ergiebige Jagd. Man sucht die Stellen auf, wo Robben entweder auf dem Eise liegend gesehen werden oder wo man welche vermuten darf, schleicht sich mit gutem Winde an und mordet dann unerbittlich Jung und Alt. Ein tüchtiger Schlag mit einem harthölzernen Knüttel über die Nase tötet den Seehund oder betäubt ihn so, dass er mit dem Speer oder Messer vollends getötet werden kann. Die Matrosen finden ein grausames Vergnügen an dieser unerbittlichen Metzelei und schlachten Jung und Alt ohne Wahl, während die europäischen Robbenschläger auch die hilflosen Jungen umbringen, wenn sie deren Mütter erschlagen haben. Die amerikanischen Robbenschläger, die sich meist einer Art Streitaxt oder eines Spitzhammers auf dem Robbenschlag bedienen, sind dagegen so grausam, nur die erwachsenen Tiere zu erschlagen und die hilflosen Jungen ihrem Geschick zu überlassen, wie nur es aus unserem Bilde S. 380 sehen, wo die beiden Matrosen nur die erwachsenen Robben (von der Art der Klappmütze, Stemmatopus cristatus) abtun, weil die Jungen nicht genug Fett liefern und ihr Fell (das neuerdings zu Pelzjacken für Damen übrigens mehr und mehr in Aufnahme kommt) nur geringen Wert hat. Die größeren Robbenarten des Südpolarmeeres werden ebenfalls gejagt, aber in anderer Weise. Der eigentliche Robbenschlag auf dem Treibeis und an den hochnordischen Küsten wird immer so betrieben, dass die Schiffe bis zum Herbst wieder heimkehren können, obschon sie, um gegen etwaige Unfälle gesichert zu sein, auf 2 bis 3 Jahre verproviantiert sind. Die nordamerikanischen Robbenschläger aus den Neuengland-Staaten, welche zunächst die bei Neufundland und Labrador antreibenden Eisfelder besuchen, laufen im März, aus und kehren schon Ende Mai oder Mitte Juni wieder heim; sie ziehen die Haut samt dem Fett ab und packen dieselbe in Tonnen; nach der Heimkehr wird das Fett von den Häuten geschabt und in großen Bütten der Sommersonne ausgesetzt, wo es sich binnen 3 bis 5 Wochen in Tran verwandelt; die Kadaver werden dann für die Raubtiere und Raubvögel auf dem Eise liegen gelassen.

Die europäischen Robbenschläger verfahren gewissenhafter; sie begnügen sich nicht mit den Häuten und der darunter liegenden Fettschwarte allein, sondern Waiden die erschlagenen Robben auch aus und gewinnen das Bauchfett und die Lebern, aus denen man durch sorgliches Ausschmelzen einen feinen Tran gewinnt, der sich an Güte, Fettgehalt, Schmackhaftigkeit und Heilkraft (wegen des Gehalts an Jod und Brom) mit dem aus den Lebern von Dorsch und Kabeljau gewonnenen loffodinischen Lebertran messen kann. Neuerdings hat man auch gelungene Versuche gemacht, das Fleisch der Robben durch Einsalzen und Pökeln zu konservieren und nach Hause zu bringen, wo es sich denn ergeben hat, dass dasselbe eine gesunde und nahrhafte Speise ist und später berufen erscheint, ein Nahrungsmittel der ärmeren Klassen auch bei uns zu werden. Je ausgebreiteter der Robbenschlag wird, desto mehr wird man darauf bedacht sein, auch noch das Fleisch und die Eingeweide des Tieres zu verwerten, wär's auch
nur zur Gewinnung von Leuchtgas und dann aus den Überresten zur Gewinnung von tierischer Kohle. Welchen Umfang aber der Robbenschlag schon dermalen gewonnen hat, ist daraus abzunehmen, dass man den jährlichen Ertrag desselben an den Küsten von Neufundland und Labrador durchschnittlich auf 500.000 Stück per Jahr, und den gesamten Ertrag für Europa, Nordasien und Amerika, soweit er auf Fahrzeugen der handeltreibenden zivilisierten Nationen ausgeübt wird, auf etwa 3 Millionen Stück veranschlagt.

Jäger auf dem Robbenschlage

Jäger auf dem Robbenschlage