Erstes Kapitel (Fortsetzung)

„Das Pferd gehört meinen Herren von Frankfurt,“ rief der Edelknecht patzig.
„So mögen. Eure Herren von Frankfurt es auch auslösen;“ versetzte der Gläubiger gleichgültig. „Der ehrsame Rat wird einen Reichsbürger nicht schädigen lassen an seinem Gut durch einen Dienstmann.“
„Ich bin ein Edelmann, Bursche!“ brauste der Junker; „und wenn ich Spießbürgern diene, so geschieht es aus gutem Willen, und nicht . . .“
„Lieber Herr!“ erwiderte der Wirt: „Ich vermag eines Adligen Tun und Lassen nicht zu schätzen; allein ich wollte, Ihr hättet Euern Martinstag wo anders zugebracht. Ich habe Euch nicht geladen, und will folglich Eure Zehrkosten nicht aus eigenem Seckel bestreiten. Darum nehme ich Euern Gaul und damit genug.“
„Unterstehe Dich!“ rief Gerhard: „Plumper Wicht! Glaubst Du, meine Freunde werden mich verlassen?“
„Ei, Herr Junker!“ sprach der Wirt lächelnd: „Ihr seid zu alt in der Welt geworden, um das im Ernste sprechen zu können. Freunde werden Feinde, sobald sie helfen sollen. Und vollends die Euren, mit denen Ihr acht Tage gezecht und gewürfelt habt. Die Einen sind auf der Landstraße besser zu Hause, als in ihren vier verschuldeten Pfählen. Die Andern sind verdorbene Bürgersöhne, die Gewerbe und Fleiß an den Nagel gehängt haben, um das väterliche Erbe ohne Verzug durch die Gurgel zu jagen. Solche Martinsmänner sind aber den Wirten nur bis zu einem gewissen Zeitpunkte willkommene Gäste. Doch horch . . . mich dünkt, ich höre ihrer Etliche die Stiege herauftürmen. Versucht Euer Heil, Herr. Zwanzig Turnosen – die Pfennige er-
lasse ich Euch – öffnen die Stalltüre und geben Euerm Gaul freien Pass nach Costnitz. Kein Albus weniger! Verlasst Euch darauf.“
Der Wirt ging ruhig von dannen, und an seiner Statt tobten vier Männergestalten herein, denen man die Ausschweifungen verwichener Nacht nicht wenig ansah. „Guten Tag, Bruder Hülfshofen!“ brüllten sie im Chor und schüttelten dem Verdrießlichen die steifgewordenen Hände. „Wie geht es? wie geschlafen? warum ist's hier so verteufelt kalt?“ – Gerhard zögerte keinen Augenblick, ihnen die unangenehme Lage, in der er sich befand, zu eröffnen. Die Freunde lachten aus vollem Halse und konnten sich gar nicht lassen vor mutwilliger Lust.
„Nun, das nenne ich doch in der Brühe sitzen!“ rief der baumlange Wernher von Hyrzenhorn: „So fröhlich wurde die Gans eingeläutet, und so traurig ist der Nachtisch“
„Was ist aber dazu tun?“ sprach Wolf von Eppenstein: „Ich will dem Schwarzen sein mit Haut und Haar, wenn ich Dir helfen kann, Bruder Gerhard. Du weißt, dass uns der Sattel das tägliche Brot verschafft, – und Deine Dienstherren gerade, – dass sie Gott verdammen möge! – haben es uns so geschmälert, dass es eine Sünde ist. Die Conciliumsfahrer haben unserem Seckel zwar etwas eingebracht, aber Weib und Kind wollen auch leben, und Martinstag will auch gefeiert sein. Da haben wir uns denn hier zusammengetan, in Friede und Eintracht die Milch unserer lieben Frauen reichlich genossen, und müssen dafür Morgen kahl wieder abziehen.“
„Hilf Dir selbst!“ rief der wilde Hornberger Veit: „Brich die Stalltüre auf und reite dem verdammten Kneipenwirt vor der Nase weg. Ich helfe Dir, und je mehr Auflauf es gibt, desto besser.“
„Die Frankfurter setzen mich auf den Eschenheimer Turm, erfahren sie dergleichen;“ versicherte Gerhard kopfschüttelnd. –„Euch aber meine „Euch wäre es ein Leichtes, mir zu helfen, – denn das Frühjahr bringt Euch wieder Messeleute und Marktschiff, die Euch das kleine Darlehen reichlich ersetzen,– kann ich's bis dahin nicht erstatten.“
„Ich schwöre einen körperlichen Eid, dass ich nicht helfen kann!“ beteuerte der Herr von Hyrzenhorn, und der Eppsteiner holte eine in vergoldetem Kupfer gefasste Reliquie des heil. Marcellinus aus seinem Wamms, auf welche alle drei Edelleute in aller Eile und bester Form den teuersten Schwur leisteten, dass sie außer Stand seien,
für ihren gemeinsamen Freund das Geringste zutun. – Gerhard, wohl wissend ein solcher Eid mache ein unwiderrufliches Ende, – sei er auch noch so falsch, – wendete sich alsdann zu dem vierten Freund, der bis jetzt ein stummer Zuhörer des Auftrittes gewesen war. „Werde ich auch bei Euch vergebens anhalten, lieber Trautwein?“ sprach er zuckersüß: „Ihr habt des Vermögens viel, habt mir gestern erst im Rosengarten all' mein Klingendes abgenommen und werdet wohl nicht anstehen, mich der unverdienten Schmach zu entreißen.“
Der Goldschmied lächelte aber eiskalt, zuckte sich ein und erwiderte: „Getrenger Herr; im Handel und Wandel braucht man sein Geld, und dass des Letzteren nicht zu viel werde, sorgen schon treulich Kaiser und Reich, die Ehewirthin und ihre Kinderlein - und die Herren vom Stegreif. Deshalb bin ich außer Stande, etwas zu tun, als ich die fünf Schillinge nachzulassen, die Ihr mir noch gestern auf Euer Wort schuldig wurdet.“
„Ich wollte, alle Martinsfeuer, die gestern brannten, um Wetterschaden zu verhüten, schlügen über Euch alle zusammen und kochten Euch zu Brei und Mus;“ rief Gerhard in hohem Unmut: „Mein Gaul, mein armer Gaul! Übermorgen soll ich in Costnitz sein. Ich hab's den Schöffen Holzhausen und zum Braunfels in die Hand geloben müssen. Der Kaiser gibt ein Turnier, auf dem ich zu Frankfurts und des Reichs Ehre mit stechen soll. Ich bin ewig beschimpft, erscheine ich nicht auf diesem Rennen. Und ohne meinen Roland, ohne mein gutes Pferd, komme ich nicht hin, kann ich nicht mitkämpfen.“
„Schlimm! sehr schlimm!“ meinten die adligen Herrn und machten Miene, zu gehen. „Willst Du einen Römer Würzwein mitnehmen, so komme mit uns!“ sprach der Hornberger gutmütig, aber Gerhard verweigerte Alles mit Ungetüm, und ließ die adligen Brüder und Freunde ohne Widerrede ziehen. Trautwein blieb an der Tür zurück.
„Hört noch ein Wort, lieber Herr!“ sprach er mit einiger Teilnahme: „Ob es gleich grimmig kalt in Eurer Stube ist, bin ich doch hinter jenen rohen Gesellen zurückgeblieben, um Euch einen Rat zu geben.“
„Nun?“ fragte Gerhard, unwirsch auf- und niedergehend. „Der Kaiser gibt wohl übermorgen kein Rennen zu Costnitz, indem er noch in Aachen auf seiner Krönung verweilt,“ sagte Trautwein: „allein Eure Lage ist doch misslich und es lieg außer meinen Grundsätzen und Kräften, Euch dienen, aber es gibt noch andere Leute, die


vielleicht gerne tun, wenn einiger Gewinn dabei zu verspüren ist.“
„Wer sind diese Leute?“ fragte Gerhard, auf merksam werdend. „Ei, nun!“ sprach der Goldschmied zögernd: „Es sind unsers heil. römischen Reiches liebe Kammerknechte.“
„Was?“ fuhr Gerhard an: „Juden? Hebräer? Seid Ihr toll geworden mit Einemmale?“
„Wie so?“ fragte Trautwein gleichgültig: Hebräisch Geld zählt wie das unsere; es kommt ja ohnehin nur aus christlichen Taschen. Fürsten und Herren wissen das wohl.“ „Hm!“ sprach Gerhardüberlegend: „Mein ganzes Leben hindurch habe ich mich gehütet, den Galgenvögeln in die Hände zu fallen, und in meinem fünfzigsten Jahre . . . . indessen . . . . wer weiß . . . . damit ich nur fortkomme . . . . wo gelangt man zu dem Gesindel? Ich will gleich . . . .“
Der Goldschmied hielt ihn zurück. „Ihr werdet doch nicht am hellen lichten Tage . . . ?“ sagte er missbilligend: „In eigener Person, . . .?“
„Ihr habt Recht;“ antwortete Gerhard: „Es ist wegen des Geredes . . . also will ich mich gedulden . . . . diesen Abend sobald es dunkel.“
„Behüte!“ fiel Trautwein ein: „Es ist bei zehn Pfund Heller Strafe verboten, bei Nacht in ein Judenhaus zu gehen, um zu leihen oder zu zahlen.“
„Aber beim Donner! was soll ich denn tun?“ fragte Gerhard ärgerlich.
„Abwarten, bis ich Euch einen vertrauten Mann schicke, mit dem Ihr alsdann handeln könnt;“ versetzte Trautwein.
„Einen vertrauten Mann, durch den es die ganze Stadt erfährt, von welchem Rocken ich spinne, nicht wahr?“
„Gerade im Gegenteil. Ich weiß einen, der, wenn ich nicht irre, in der Nähe von Frankfurt zu Hause ist. Ein verschwiegener Mann, mit dem ich selbst manch Geschäft gemacht. Ist er gerade hier, kann er vielleicht bewogen werden, Euch zu helfen. Mich dünkt, ich sah ihn gestern unweit von dem Dalbergschen Hause in der Kämmererstraße. Ich sende ihn Euch, und will besorgen, dass mein Gevatter Rebstockwirt Euch zum Mindesten ein Feuer anmache in dem Ofen.“
„Nun, so geht, und plaudert nicht lange!“ drängte Gerhard, und schob ihn zur Türe hinaus. Als dann fing er wieder eine gewöhnliche Rennbahn in der Stube an, rieb sich die Hände, die Stirn, brummte einen Fluch nach dem andern, und schwor sich zu, in der Folge nie mehr auf einen Freund sich zu verlassen, seine Zeche immer nach der Habe zu richten, oder, . . wollte er einen Wirt prellen – die Sache gescheiter anzufangen. Ein leises Schluchzen und Weinen unterbrach den Lauf seiner Gedanken, und da es sich hinter den Vorhängen des mächtigen Himmelbetts vernehmen ließ, so fiel ihm mit einem Male der Gedanke an den Knaben, den er gestern aufgenommen, siedendwarm auf die Brust. Er eilte zum Lager, und sah das vier- bis fünfjährige Kind aufrecht sitzend, und eng in den groben Mantel gewickelt, aus dem nichts hervorguckte als der braungelockte Kindskopf, mit blauen, von Tränen überfließenden Augen. Der Knabe fuhr etwas zusammen, da er das kupferrote mit dichtem Bart versehene Gesicht seines Findelvaters gewahr wurde, aber bald beruhigte er sich wieder in etwas, da er sich deutlich erinnerte, dass ihn derselbe Mann gestern von der offenen Straße genommen, und den Müden erwärmt, aufs Lager gebracht hatte. Er streckte ihm die kleinen Arme bittend entgegen, und sah ihn mit einer Wehmut an, die ihm fast das Herz abzudrücken schien. Der raue Hagestolz fühlte sich gerührt und angezogen von der hilflosen Unschuld des Kindes, und nahm es, in Mantel und Decken gehüllt, auf seinen Schoß. „Komm' her,“ sprach er, „und lass uns vernünftig reden, mein Junge! Wir haben gestern Abend nur flüchtige Bekanntschaft gemacht. Heute wollen wir's einbringen. Wie heißest Du, mein Kind?“ – „Hans!“ antwortete der Knabe mutig und vernehmlich. „Und Dein Vater?“ – „Ich habe keinen mehr.“ – „Doch eine Mutter hast Du?“ – „Ja, die Mutter und die Gundel.“ – „Wie nennt sich Deine Mutter?“ –„Ich weiß es nicht.“ – „Wo wohnt sie aber?“ – „Ach, weit, weit von hier!“ – „So? demnach nicht in der Stadt!“ – „Wir sind drei Tage gefahren, bis wir angekommen sind. Wo ist denn aber die Mutter?“ – „Ja, wenn Du das nicht weißt . . . “ – Der Knabe schüttelte traurig den Kopf. „Sage mir doch, Hänschen,“ fuhr Gerhard neugierig fort: „Wie lange bist Du denn hier?“ – „Ich heiße nicht Hänschen,“ versetzte der Knabe: „Hänschen hat vier Füße, und ich habe zwei; darum heiße ich Hans. Hänschen ist aber zu Hause geblieben. Wirst Du mich wieder heimbringen, fremder Mann?“ – „Wenn ich weiß, wo Deiner Mutter Haus steht, mein Knabe“ – „Ach, es ist fern, recht fern. Wir haben dreimal geschlafen, ehe wir gestern in der Nacht ankamen.“ – „Wie kamst Du denn auf die Straße?“ – „Ich weiß es nicht. Auf dem Wagen schlief ich ein, und auf der Erde bin ich auf gewacht. Ach, wie war es so kalt, da Ihr mich aufnahmt. Die Mutter muss mich verloren haben.“ – „Wie war die Mutter gegen Dich?“ – „Böse, lieber Mann, immer böse und finster. Aber Gundel ist herzensgut, und zu ihr möcht' ich lieber als zur Mutter, und auch zu Hänschen lieber als zur schwarzen Mutter.“ – „Zur schwarzen Mutter? Warum nennst Du sie so?„ – „Sie ist immer schwarz gekleidet, und hat so dunkle Augen; aber Gundel hat helle, und geht immer grün oder rot. Hänschen ist weiß und braun.“–

Der Junker schüttelte bedenklich den Kopf, und zweifelte nicht mehr daran, dass der Knabe mit Vorbedacht zurückgelassen worden sei, auf der Durchfahrt durch die fremde, im nächtlichen Dunkel verhüllte Stadt. Aus dem Knaben war übrigens nichts herauszubringen, als dass der Mutter Haus auf einem Hügel stehe, unfern von einem Strome, dass viel Waldung und ein Dorf sich in der Nähe befinde, und nicht allzuweit eine Stadt, in der sich das Kind besann, vor einiger Zeit gewesen zu sein, zur Zeit eines Jahrmarkts. Über den Namen seines mütterlichen Hauses, des Stroms, der Stadt, war er in wahrscheinlich geflissentlicher Unwissenheit erhalten worden. Fern von Jugendgespielen und Gefährten seines Alters kannte er niemand, als die schwarze Mutter, die er nicht liebte, die freundliche Gundel, nach der er sich sehnte, und das vierfüßige Hänschen, das er am schmerzlichsten vermisste. Gerhard ersah aus Allem, dass ihn seine, größtenteils vom Wein erregte, Weichherzigkeit hier in eine sonderbare Historie verwickelt hatte, und ihm wahrscheinlich eine Last zugefallen war, die er bei der äußersten Beschränkung seiner Lage nicht auf die Dauer würde tragen können. Eine plötzliche Vermutung ergriff ihn; und er durchsuchte die Kleider des Kindes nach Geld und Kleinodien, die vielleicht dem Finder als eine Entschädigung zugedacht sein möchten; doch war sein Bemühen umsonst. Keine Blechmünze, kein armseliger Hohlpfennig war bei dem Verlassenen zu finden. Außer dem höchst einfachen Gewande des Kindes trug es nichts bei sich. Unmutig stellte er den Knaben nieder, und ging, von Neuem gegen sein Geschick grollend, auf und ab. Das Kind schmiegte sich indessen stille und in sich gekehrt an den durch Trautweins Vorsorge erwärmten Ofen, und weinte nur von Zeit zu Zeit vor sich hin, teils im Andenken an die gute Gundel, teils im Bewusstsein des quälenden Hungers, den es verspürte. Ein Glück war es, dass Gerhard in der Tasche seiner Pluderhosen noch ein sogenanntes Martinshorn auffand, ein Gebäck, mit dem er alsobald den seufzenden Knaben beschwichtigte, . . . . zum Mindesten auf Augenblicke. Indem er jedoch mit sich selbst zu Rate ging, wie die es lustige Bürde vom Halse zu schaffen, und sein eigenes betrübtes Verhältnis zu wenden sei, ließ sich von Außen ein schlürfender leiser Tritt vernehmen, und ein demütiges Pochen erklang an der eichenen, schwerfällig verzierten Türe. Gerhard öffnete schnell, und vor ihm stand. Einer aus dem Volke Abrahams. Seine Statur bot nichts ausgezeichnetes dar, noch weniger seine Kleidung, die, den wandernden Handelsjuden bezeichnend, in Schnitt, Farbe und Gestalt höchst unbedeutend erschien. Aber das Gesicht das aus dem unscheinbaren grauen Kittel und aus dem schlecht gefaltetem Kragen heraussah, war auffallend genug. Ein nicht fern von den Fünfzigern stehendes Antlitz mit Spuren tiefen Kummers entweder, oder schwerer Erschlaffung, bleich und hager, war von Augen belebt, die, wenn gleich etwas klein, an Lebhaftigkeit und stechender Schärfe mit denen der Eidechse wetteiferten. Die kahle Stirn, von wenigen, dünnen und grauen Locken besetzt, gab großen Spielraum der Beweglichkeit von Gesichtszügen, die wie die Schlangenwege eines Labyrinths sich nach allen Seiten in merkwürdiger Verschlingung ausdehnten. Eine breite Narbe, die quer von dem rechten Schläfe sich über Wange und Nase herüberzog, bis zu dem linken Ohrläppchen, schied das Gesicht so zu sagen, in zwei ungleiche Hälften. Die Nase, vorspringend und gebogen, zeugte von orientalischer Abkunft, und die Form des Mundes wäre gut geraten zu nennen gewesen, hätte sich nicht in der etwas hängenden Unterlippe jener, schon angedeutete Charakter der Abspannung offenbart, der nicht vermögend ist, einem menschlichen Angesicht etwas Angenehmes mitzuteilen. Der Bart kurz, kraus, grau und schwarz gemischt, passte zu dem Übrigen. – Der Jude neigte sich untertänig vor dem Edelknecht, ohne ein Wort zu sprechen. – „Wer bist Du?“ fragte ihn der Letztere barsch und kurz. „Was willst Du hier?“
„Was ich hier soll, möchte ich wissen, gestrenger Herr?“ erwiderte der Jude mit unterwürfigem Tone: „Der achtbare Meister Trautwein sendet mich zu Euch. Er sagte mir, Ihr könntet meine Dienste brauchen, und somit biete ich sie Euch an.“
„Trautwein?“ fragte Gerhard. – „Durch seine Empfehlung bist Du mir willkommen, insofern Du nicht hier in Worms geboren oder ansässig; denn ich fordere dass Du schweigest.“
„Gestrenger Herr Ritter!“ versetzte der Jude wie oben: „Ich weiß zwar nicht, wie Ihr könnt hegen Zweifel an der redlichen Verschwiegenheit meiner Glaubensgenossen hier zu Worms. Es sind die Besten von unsern Leuten, . . . die schon vor der Geburt Eures Erlösers eine Synagoge gehabt haben in dieser Stadt, und diese Synagoge hat durchaus nicht gewilligt in den Tod Eures Messias, der nur darum sterben musste, weil die Entfernung zu groß ist, zwischen dem Rheinstrom und Jerusalem, und der Bote von der Schule zu Worms um einige Stunden zu spät gekommen ist, mit der Verwendung von den Wormser Rabbinern und Ältesten. Wenn Ihr indessen dem ungeachtet Grund zu glauben habt, unsere hiesigen Brüder zu beargwohnen, so vertraut Euch mir. Ich stamme von Friedberg, und dieses Zeichen auf meinem Rocke mag Euch beweisen, dass ich nicht von hier bin, wo dies Schibolet in Vergessenheit geraten ist.“
Hier zeigte er auf den Ring von gelber Seide, den jeder Jude in und um Frankfurt auf der linken Brust trag musste. Gerhard, ungeduldig, die missliche Angelegenheit ins Reine zu bringen, machte dem Juden eine ausführliche Beschreibung seiner Lage, und verlangte ein Darlehen auf Wort, Schrift und Glauben. Seine eindringlichen Worte, eine ziemlich herrische Forderung verrieten wohl, dass er eine abschlägige Antwort nicht im Bereich der Möglichkeit vermute; um so mehr befremdete ihn das überlegende und durchaus nicht billigende Kopfschütteln seines Gegenübers. Nach langer Pause sprach der Jude endlich: „Seht, werter Herr. Wir halten auf das, was die Väter sagten und uns einprägten. „Ben David,“ sagte der Meinige, dem einst das Paradies sei, öfters: „Hüte Dich, großen Herren und Kriegsleuten auf das blinde Wort, auf das leere Geschrift hin zu vertrauen. Das Wort verweht der Wind, und das Papier zerhaut der Degen, der auch im besten Fall nie richtige Zinsen zu zahlen geneigt ist. Bare Münze lacht; ein gutes Pfand macht Mut“ – Ich hab's nun immer so gehalten, und Euch, lieber Herr, soll geholfen sein, wenn Ihr mir Bürgschaft stellt in Dingen von Gewicht und Wert, oder im Wort eines wackeren Mannes, dem die Rechtschaffenheit wert ist, soll er sie auch nur gegen Juden beweisen.“
„Da steckt eben der Knoten!“ polterte Gerhard. „Auf Pfand und reichliche Bürgschaft kann jeder Fastnachtsnarr Kappe und Pritsche leihen. Ich habe keine Kleinodien, nichts von Wert, als meinen Gaul, und von ihm trenne ich mich um keinen Preis“ –
„Das glaube ich!“ versetzte Ben David: „Das ist ein Pferd! Gott! ich habe Euch gestern reiten sehen, als der heilige Martin in der Prozession. Ihr ward so stattlich, und das Pferd so geputzt und so blank; . . . nein! einen solchen Gaul gibt man nicht her!“
„Wie soll ich aber aus dem verdammten Worms kommen?“ rief der Junker: „Willst Du die Bürgschaft der Herren von Eppstein, von Hornberg und von Hyrzenhorn?“
„Was soll mir die Bürgschaft von diesen Herren?“ fragte Ben David: „Sie sitzen mir zu hoch und haben mich selbst schon zu oft gepfändet, als dass ihr Wort mir ein gültig Pfand sein könnte. Ja, – wenn es der edle Herr von Dalberg wäre, der wackere Kämmerer von Worms, unsers Glaubens Beschützer; . . . oder nur der Meister Trautwein, . . . aber . . .“ setzte er lächelnd hinzu: „Der Erste kennt Euch nicht, und der Zweite ist zu klug, um jemals sich zu verbürgen.“
„Kreuz und Dorn!“ fuhr Gerhard auf: „Mach' mich nicht wild, elender Hundsjude. Ich will Dich lehren, mein adelig Wort zu ehren. Zur Stelle wirst Du mir gehorsamen! Einem Fürsten oder dem Krämermagistrat einer Reichsstadt seid Ihr gleich zu Willen mit Geld und Gut. Aber einen wackeren Edelmann lasst Ihr verderben.“
Der Jude zuckte die Achseln. „Fordert die Stadt unser Geld,“ sprach er kalt: „so geht's mit Stürmen los auf unsere Habe, und der Gewalt weichen wir. Der Kaiser gibt uns Schutz, und nennt uns seine Kammerknechte; und da wir zufrieden sind, wenn wir atmen dürfen, wenn gleich als Knechte; so geben wir gern dafür, was unser ist. Dem einzelnen steht aber nicht die Befugnis zu, uns gewaltsam zu plündern, zum mindesten nicht in Worms, wo wir eines billigen Schutzes uns erfreuen.“ – Bei diesen Worten näherte er sich der Türe, um das Gemach zu verlassen. Gerhard jedoch, von der Notwendigkeit des Augenblicks bedrängt, wollte ihn aufhalten, und gab von einer Störrigkeit vieles nach, indem er ihm sagte: „Es war nicht so übel gemeint, Ben David. Du solltest aber auch einen ehrlichen Mann nicht so lang auf die Folter legen.“
„Alle Ehrfurcht vor Eurer Ehrlichkeit,“ erwiderte der Jude: „Aber Euer Benehmen macht mich nicht lüstern auf ihre nähere Bekanntschaft.“
„So lass doch mit Dir reden“; fuhr Gebhard fort, ihn zurückhaltend. „Ich will mit Dir handeln, wie ich es mit einem braven Christen tun würde, und mit einem ebenbürtigen Manne, während Du doch keiner von Beiden bist. Ich verschreibe Dir Zins und Rückzahlung bis zum Sonntag Lätare kommenden Jahrs mit meinem Namen und Wappen, und mit der Klausel: dass, wofern ich Dir bis dahin nicht gerecht werden könnte, ich mein Einlager mit zwei Knechten und drei Pferden hier im Rebstock halten will, bis Du befriedigt bist.“

„Ei! ei! bei meinem Bart! was mutet Ihr mir zu?“ fragte Ben David. „Da säßen zwei im Unglück statt des Einen. Ich, weil Ihr mir meine Schuld nicht bezahlt, – der Wirt, weil Ihr Euer Einlager nicht bezahlt. Nein! bin ich gleich ein Jude, will ich doch nicht einen braven Christen, wie diesen Rebstockwirt, in Schaden bringen. Ich sehe schon, Ihr würdet mir noch anbieten Eure Hausfrau als Pfand, wenn Ihr nicht unbeweibt wär’t. Gott befohlen!“
„Jetzt hast Du Zeit zu gehen, verdammter Spötter!“ tobte der Junker, und erwischte ein großes Fechterschwert, das er drohend gegen den Juden schwang. „Hinaus! oder ich lege Dir den Solinger so um die Ohren, dass Du vielleicht nachher keine Spur von ihnen findet!“
Ben David wollte schnellfüßig aus der Türe. Indem sprang aber der kleine Hans, der bisher hinter dem Kachelofen gelauscht hatte, ängstlich schreiend hervor, und hing sich an Gerhard, entsetzt von dem gewaltig drohenden Schwerte, und einen schrecklichen Auftritt fürchtend. Der Junker hielt inne, und beugte sich zu dem Knaben, ihn zu beruhigen. Während dessen aber hatte Ben David einen Blick auf den Letzteren geworfen, einen Augenblick teils überrascht, teils überlegend verbracht, und sich endlich wieder gelassen über die Schwelle in das Zimmer verfügt. „Was willst Du noch hier?“ schnauzte ihn Gerhard an, als er nach flüchtiger Liebkosung des Findlings wieder in die Höhe sah.
„Mit Verlaub, gestrenger Herr!“ sprach Ben David, das linke Auge auf den Erzürnten, das rechte auf das Kind richtend: „Ist das Euer Knabe?“
„Kümmert's Dich?“ fragte Gerhard, wie oben. – Der Jude verneigte sich geschmeidig, schüttelte leicht den Kopf. „Um des Knaben willen möchte ich dann mit Euch ins Reine kommen;“ fuhr er fort. –
„Ich bedaure;“ versetzte Gerhard: „Der Knabe ist nicht mein; obendrein eine sehr unnütze, widerliche Last.“
„Eine widerliche Last muss man sich schassen vom Halse;“ meinte Ben David und erkundigte sich, neugierig, nach seines Volkes Sitte, um die nähere Bewandtnis, die es mit dem Kinde habe. Gerhard machte auch kein Geheimnis aus der Art, wie er zu demselben gekommen, und aus seinen Mitteilungen, wie unvollkommen sie auch sein mochten. Der Jude hörte aufmerksam zu, und in den Muskeln seines Gesichts zeigte sich eine auffallende Bewegung, die einem bessern Menschenkenner, als es Gerhard war, unmöglich hätte entgehen können. Gleichgültig jedoch dem äußern Anscheine nach, wiegte er den Kopf und sprach, nachdem Gerhard geendet: „Es ist seltsam, wie das zusammentrifft. Der Knabe hat nicht Vater, nicht Mutter, denn die ihn böslich verlassen hat, ist so gut als tot. Und zufälligerweise kenne ich eine trauernde Mutter, die geben würde, was in ihren schwachen Kräften steht, könnte sie einen Sohn dafür erhalten, in dem gleichen Alter dessen, den ihr ein frühzeitiger Tod entriss. Überlasst mir und der jammernden Mutter diesen Verstoßenen, damit er noch werde die Freude eines Menschen, und einstens stehe an einem eigenen Herde.“
„Ist's eine Christin doch, der Du das Kind bestimmt?“ fragte Gerhard, schon zu der Ansicht des Juden sich neigend. „Die Rechtgläubigste; die Witwe Schechlerin in Friedberg,“ versetzte Ben David. „Sie besitzt einen kleinen Kram, der gerade hinreicht, sie zu ernähren und den Knaben.“
„Die Waise zwingst Du nicht zum Judentum, und schwör'st mir's zu?“ fuhr Gerhard fort, der sein erwachendes oder zweifelndes Gewissen durch leere Form zu beschwichtigen dachte. „Bei dem Haupte meines Vaters schwör' ich's Euch!“ entgegnete Ben David sehr ernst: „Wie könnte ich wohl einst eingehen ins ewige Jerusalem, hätte ich mit Vorbedacht einen Menschen elend gemacht? Der Elendste aber auf Erden ist ein Jude.“
„Ja wohl, ja wohl!“, entgegnete Gerhard, den Sinn von Ben Davids Worten nicht begreifend, mit verächtlichem Blicke: „Damit wir aber schnell ins Reine kommen, . . . zahle fünfzig Turnosen, und führe den Knaben hinweg.“
„Fünfzig? Du Herr meines Lebens!“ rief der Jude, wie im größten Erstaunen die Hände zusammenschlagend: „Wo denkt Ihr hin, lieber Herr? Von zwanzigen war bis jetzt die Rede; wie soll ich zu fünfzig . . .“
„Dort ist die Türe!“ erwiderte Gerhard trocken, und kehrte ihm den Rücken. Ben David ging aber nicht, sondern kam näher: „Als ich gebe dreißig Turnos, gebe ich Alles und Alles, was in meiner Macht steht!“
„Schmutziger Schacherer!“ versetzte Gerhard: „einen Menschen verkauft man nicht um solch'elendes Geld.“
„Ich wette doch,“ sprach Ben David ironisch: „Ihr verkauft mich um ein Geringeres.“
„Um das Vergnügen, Dich zwischen zwei Hunden aufhängen zu sehen;“ brummte der Junker: „Du hast recht. Aber einen Christen verhandelt man nicht um dreißig Silbergroschen.“
„Hat denn nicht Judas den ersten aller Menschen, Euern Herrn, den Born alles Christentums um gleiches Geld weggegeben?“ fragte Ben David.
„Es konnte auch nur ein Jude solchen Handel treiben!“ polterte Gerhard, rot werdend vor Zorn: „und jetzt packe Dich. Ich fürchte ohnehin, dass ich Sünde tue, wenn ich dies junge Leben Deiner graugewordenen Verworfenheit überlasse.“
Ben David zuckte die Achseln, schlug seufzend die Augen gen Himmel, stellte sich hierauf zum Tische, langte aus einem Zwerchsack einen nicht übermäßig gefüllten ledernen Beutel hervor, und begann Geld aufzuzählen. Gerhard spielte hierbei den Gleichgültigen, obgleich er im Innern bereits an seinem Siege frohlockend zehrte; der Knabe, der arme Unschuldige, um dessen Haut und Haar der ganze böse Handel ging, ergötzte sich mit kindischer Lust an dem Glanz der Silberstücke, die aus des Juden hagern Fingern auf den Tisch rollten, und sehr langsam und sehr bedächtig von ihrem bisherigen Besitzer in Reihe und Schnur gestellt wurden. Gerhard konnte nur mit Mühe bei dieser geflissentlichen Langsamkeit seine Ungeduld bändigen. Endlich schüttelte der Jude den leeren Beutel, und sprach: „Seht da mein ganzes Vermögen; zweiundvierzig Turnosen – nicht mehr und nicht weniger als Alles, was ich habe. Wollt Ihr's, so nehmt. Die fünfzig kann ich nicht voll machen.“
„So trolle Dich, und versieh Dich ein Andermal mit mehreren Gelde, wenn Du zu einem Edelmann gerufen wirft;“ antwortete Gerhard kalt, der nun die Handlungsweise seines neuen Bekannten begreifen lernte.
„Ich kann nicht mehr geben;“ fuhr der Jude fort: „Ich habe nicht mehr, als das und mein Leben.“
„So behalte Beides in Gottesnamen und schere Dich fort!“ versetzte der Junker mit immer größerer Zuversicht. – „Ich finde einen Andern.“
„Ihr seid ein böser Kaufmann;“ meinte Ben David und stellte sich, als wollte er das Geld zusammenraffen. Da ihn aber Gerhard von diesem Tun nicht abhielt, so ließ er es bleiben, und holte statt dessen einen wollenen Lumpen aus seinem Sacke, in welchem sich mehr Geld eingeschnürt befand, als in dem geleerten Beutel gewesen war. – „Seht,“ fuhr er fort: „wozu mich Eure Hartnäckigkeit verleitet. Das ist anvertrautes Geld, und ich muss davon entwenden acht Turnos, um sie Euch zu geben. Ich möchte mich selber schlagen ins Gesicht, dass ich das tue, aber ich bin zu freundschaftlich für Euch gesinnt, als dass ich Euch nicht helfen sollte aus der Not“ –
Die fünfzig Turnosen waren voll, und behaglich lächelnd strich der Junker das Geld ein. – „Für das Geld den Knaben,“ sprach er: „auf Nimmer wieder zu erstatten; aber erkundigen werde ich mich zu Friedberg, wie Du den Knaben versorgt.“
„Das könnt Ihr,“ antwortete der Jude mit aller Aufrichtigkeit: „Ich schenke dem Knaben - eine wackere Mutter. Komm', Bübchen!“
Der Kleine weigerte sich anfänglich. „Der Mann bringt Dich zur Mutter!“ redete ihm Gerhard zu. – „Ich will lieber bei Dir bleiben;“ meinte das Kind. – „Aber auch zur Gundel und dem kleinen Hänschen!“ setzte Gerhard bei. Der Jude nickte freundlich grinsend zu dieser Zusage, und der Knabe war schnell für den neuen Führer gewönnen. Fröhlich hing er sich an seine Hand und eilte, ohne viel Abschied zu nehmen, mit ihm von dannen. So springt das unschuldige Lamm neben seinem Herrn dahin, in harmloser Fröhlichkeit, . . . nicht wissend, wird es zur lustigen Weide, wird es zur Schlachtbank gebracht.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Jude. Band 1