Fortsetzung

Offenbar muss nun aber die Darstellung vom Werden und Wesen ganz verschieden gestaltet werden, je nachdem es sich um diese oder jene „Stadt“ handelt. Offenbar ist es ein anderes: wann, woher, warum eine Ortschaft mit Stadtrecht belehnt ist oder einen Stadtrat bekommen hat, als dieses: wann, woher, warum sie einen Kranz von Mauern und Türmen erhielt; ist es ein anderes: wann, woher, warum dort ein Markt errichtet wurde, als dieses: wann, woher, warum an diesen Ort eine Universität gelangte; ist es ein anderes: wann, woher, warum sich Tausende von Ackerbauern an einem Punkt zusammenfanden, die eine Stadt im statistischen Sinne bildeten, als dieses: wann, woher, warum eine Stadt im ökonomischen Sinne erstand, d. h. also wann, woher, warum eine größere Anzahl von Leuten sich auf einem Fleck ansiedelten, die von den Erzeugnissen fremder Schollenarbeit leben mussten.

Wenn wir die Fragen nach der Genesis einer Stadt im ökonomischen Sinne aufwerfen, so werden wir, denke ich, zweierlei beantworten müssen:


Erstens: woher kamen die Menschen ohne Halm und Ar, die berufen waren, die Stadt zu bilden und was veranlasste sie, sich zu einer städtischen Ansiedelung zusammenzufinden. Das ist die Frage nach den Gründen, die zu einer Entwurzelung der bodenständigen Bevölkerung führen, ist die Frage nach den Motiven, die die einzelnen bewegen, Städter zu werden. Zweitens aber (und vor allem) wird es uns obliegen, zu erklären: wie es denn (ökonomisch) möglich wurde, dass sich so eigentümliche Ansiedlungen bilden konnten, die aller natürlichen Daseinsweise entfremdet sind. Um hierauf die Antwort zu finden, müssen wir uns zunächst gegenwärtig halten, dass eine Stadt vom Überschuss des Landes lebt, ihre Lebensbedingung, ihr Lebensspielraum also abhängig sind von dem Ausmaß dieses Überschussproduktes, das sie an sich zu ziehen vermag12). Dieser Tatbestand kann durch folgende Sätze etwa in seinen Einzelheiten verdeutlicht werden (nach meinem „Mod. Kap.“ I. Aufl.).

12) „It is the surplus produce of the country only . . . that constitutes the substistence of the town, which can therefore increase only with the increase of this surplus produce“ Ad. Smith, Hook III, Ch. I. Sehr ausführlich, wenn auch nicht immer sehr glücklich, ist von Älteren das Thema behandelt in der Abhandlung des Grafen d’Arco, Dell‘ armonia politica economica tra la cittá e il suo territorio (1771) Custodi, P. M. Tomo 30. Vgl. im Übrigen die 1. Aufl. meines „Mod. Kap.“, wo ich einen Teil dieser Sätze bereits niedergeschrieben habe.

1. Die Größe einer Stadt wird bedingt durch die Größe des Produkts ihres Unterhaltsgebiets und die Höhe ihres Anteils daran, den wir Mehrprodukt nennen können.

2. Bei gegebener Größe des Unterhaltsgebiets und (durch Fruchtbarkeitsgrad der Gegend oder Stand der landwirtschaftlichen Technik) gegebener Größe des Gesamtprodukts hängt ihre Größe von der Höhe des Mehrprodukts ab.

Daher z. B. cet. par. in despotischen Staaten mit einem hohen Ausbeutungskoeffizienten des Landvolks größere Städte als in Ländern mit demokratischer Verfassung.

3. Bei gegebener Größe des Unterhaltsgebiet und gegebener Höhe des Mehrprodukt ist die Größe der Stadt bedingt durch die Fruchtbarkeit des Bodens oder den Stand der landwirtschaftlichen Technik.

Daher fruchtbare Länder cet. par. größere Städte haben können als unfruchtbare13).

4. Bei gegebener Höhe des Mehrprodukts und gegebener Ergiebigkeit des Bodens ist die Größe der Stadt bedingt durch die Weite ihres Unterhaltsgebiets.

Daher z. B. die Möglichkeit größerer Handelsstädte; die Möglichkeit größerer Hauptstädte in größeren Reichen.

5. Die Weite des Unterhaltsgebiet ist bedingt durch den Entwicklungsgrad der Verkehrstechnik.

Daher cet. par. Fluss- oder Seelage auf die Ausdehnungsfähigkeit der Städte günstig wirkt14) und in einem Lande mit Chausseen — wiederum cet. par. — die Städte größer sein können als dort, wo nur Feldwege sind, in einem Lande mit Eisenbahnen größer, als wo nur Chausseen sind.

Sodann werden wir uns klar sein müssen darüber, dass es unter den „Städtegründenden“ Menschen zwei wesentlich von einander verschiedene Arten gibt: solche, die kraft irgendwelcher Macht, irgend welchen Vermögens, irgendwelcher Tätigkeit selbstherrisch imstande sind, die für ihren Unterhalt erforderlichen Erzeugnisse des Landes herbeizuziehen: für ihren und vielleicht auch anderer Leute Unterhalt. Das sind die eigentlichen Städtegründer, die Subjekte der Städtebildung; die aktiven oder originären oder primären Städtebildner. Also ein König, der Steuern erhebt; ein Grundherr, dem gezinst wird; ein Kaufmann, der im Handel mit Fremden Profit macht; ein Handwerker, ein Industrieller, die gewerbliche Erzeugnisse nach auswärts verkaufen; ein Schriftsteller, dessen Schriften draußen vor den Toren gekauft werden; ein Arzt, der Kundschaft im Lande hat; ein Student, dessen Eltern an einem anderen Orte wohnen und der vom „Wechsel“ seiner Eltern lebt u.s.w.

13) J. Botero, Delle cause della grandezza delle cilta (1589), Libro I, cap. IX.

14) „On construit ordinaiement les grandes villes sur le bord de la Mer ou des grandes Rivières, pour la commodite des transports; parce que le transport par eau des denrées et marchandises ntlcessaires pour la subsistance et commodité des habitants, est à bien meilleur marché, que les voitures et transport par terre“ (Cantillon) Essai sur la nature du commerce 1755 p. 22, 23. Im Zeitalter der Eisenbahnen wird die Richtigkeit dieses Satzes stark angezweifelt werden müssen.

Das sind Leute, die leben und leben lassen.

Leben lassen: die anderen Städtebewohner, die nicht aus eigener Kraft die notwendigen Unterhaltsmittel (will sagen Landeserzeugnisse) sich zu verschaffen vermögen, sondern die nur Teil nehmen an denen der primären Städtebildner. Wir können sie bezeichnen als Städtefüller, als Objekte der Städtebildung; als passive oder abgeleitete oder sekundäre (tertiäre, quartäre etc.) Städtebildner. Sekundäre Städtebildner sind sie, wenn sie unmittelbar ihren Unterhalt von einem primären Städtebildner beziehen: der Schuster, der dem König die Stiefel macht; der Sänger, der ihm seine Lieder singt; der Wirt, bei dem der Grundherr speist; der Juwelier, bei dem der Kaufmann seiner Geliebten den Schmuck kauft; der Theaterdirektor, in dessen Theater der Handwerker geht; der Friseur, bei dem sich unser Arzt rasieren lässt, die Phileuse, bei der unser Student sich sein Zimmer mietet u.s.w.

„Verdient“ nun wieder an einem sekundären Städtebildner ein anderer Städter, so ist dieser tertiäre Städtebildner u.s.w. Nehmen wir einen beliebigen Fall an, ein Kellner trinkt in einem Restaurant ein Glas Bier: der Wirt lebt von ihm, vom Wirt der Bierbrauer; der Kellner bezahlt mit Trinkgeld, das ihm ein Arzt bezahlt hat; der Arzt hat Stadtkundschaft, z. B. bei einem Schauspieler; der Schauspieler erhält seine Gage aus dem Verdienste des Theaterdirektors; dieser stammt (zu diesem kleinen Teile) von den Theaterbilleten, die ein Professor genommen hat; der Professor bezieht sein Gehalt vom Staate: hier erst erscheint der erste originäre Städtebildner: der Steuer erhebende Staat; alle anderen sind abgeleitete Städtebildner.

Allgemein: alle Gewerbetreibenden, alle Händler, alle liberalen Berufe, die den Bedarf der Städte selbst befriedigen, sind niemals Städtegründer, sondern nur Städtefüller. Die klare Einsicht in den Unterschied dieser beiden grundverschieden gestellten Gruppen der städtischen Bevölkerung ist die notwendige Voraussetzung jedes Verständnisses für die Genesis einer Stadt.

Diese selbst ist ein geschichtliches Phänomen; sie erhält ihr besonderes Gepräge von der eigentümlichen Gestaltung der Zeitumstände. Aufgabe des Historikers ist es, aus dieser die Entstehung der historischen Stadt zu erkl?ren. Ist es also: die jeweils besonderen Ursachen aufzudecken, die Menschenmassen von der Scholle trennen; die jeweils besonderen Motive bloßzulegen, die Menschen zu einer städtischen Siedlung zusammenführen; die jeweils besonderen Bedingungen festzustellen, unter denen die Städtegründung erfolgt; die jeweils besonderen Typen originärer und abgeleiteter Städtebildner zu schildern und zu deuten.