Der Arbeitsmarkt in Deutschland und die Ostjüdischen Arbeiter

Aus: Die Einwanderung der Ostjuden - Eine Gefahr oder ein sozial-politisches Problem
Autor: Senator, David Werner Dr. (1896-1953) Sozialarbeiter und Politiker, Verwaltungsbeamter und Vizepräsident der Hebräischen Universität Jerusalem, Erscheinungsjahr: 1920
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Juden, Judentum, Ostjuden, Einwanderung, Einwanderer, Deutschland, Russland, Polen, Progrome, Gewalt, Krieg, Vertreibung, Wohnungsnot, Gründe, Not, Elend, Arbeitsplätze,
In dem Problem, das durch die in Deutschland befindlichen ostjüdischen Flüchtlinge aufgeworfen ist, spielt vielleicht die größte Rolle die Frage der Einordnung dieser Einwanderer in die deutsche Volkswirtschaft. Von einem engen Ressortstandpunkt aus ist man häufig zunächst geneigt, der Frage der Arbeitsvermittlung dieser nun einmal in Deutschland befindlichen Leute grundsätzlich ablehnend gegenüberzustehen. Die Berechtigung dieses Standpunktes wird damit verfochten, dass bei der in Deutschland herrschenden Arbeitslosigkeit die Beschäftigung von ausländischen Arbeitern in keiner Weise geduldet werden kann. Ganz abgesehen davon, dass ein solch einseitiger Ressortstandpunkt bei der Lösung eines nicht unkomplizierten sozialpolitischen Problems, wie es die Ostjudenfrage darstellt, nicht allein ausschlaggebend sein kann, ist auch sachlich diese Argumentation nicht haltbar.

Dieses Problem muss naturgemäß auch von dem Gesichtspunkt aus betrachtet werden, dass viel gefährlicher als die Beschäftigung einiger 1000 ausländischer Arbeiter in der deutschen Volkswirtschaft eine Nichtbeschäftigung dieser Elemente ist, indem durch dauernde Arbeitslosigkeit, wie sie die gegen die Ausländer gerichteten Maßnahmen der Demobilmachungskommissare bewirken, und die illegale Existenz, die ebenfalls durch einzelne Behörden bisher manchmal geradezu begünstigt worden ist, hunderte Personen dem Verbrechen und Schiebertum zugetrieben werden.

Sieht man nun den wirtschaftlichen Tatsachen klar ins Auge, so ergibt sich ein Bild, das ganz anders aussieht als Voreingenommenheit und Unorientiertheit über die tatsächlichen Verhältnisse, über die Berufsschichtung der Ostjuden und die Lage des deutschen Wirtschaftsmarktes es zeichnen.

Zunächst muss einmal darauf hingewiesen werden, dass, ebenso wie die Ziffer der seit 1. August 1914 eingewanderten Ostjuden in der Presse maßlos übertrieben worden ist, auch die Zahl der in Betracht kommenden ostjüdischen Arbeiter, durch deren „Hereinfluten" angeblich Hunderttausende deutscher Arbeiter um Arbeitsmöglichkeit und Verdienst gebracht werden sollen, ungeheuerlich aufgebauscht wird. Bei näherem Zusehen ergibt sich, dass es sich zunächst um die Unterbringung von höchstens 20.000 ostjüdischen Arbeitern handelt, zu denen vielleicht noch später infolge der von den jüdischen Organisationen versuchten Berufsumschichtung und des von ihnen ausgeübten Druckes 5 — 10.000 neue kommen werden, wofern nicht, wie viel eher anzunehmen ist, ein viel größerer Teil inzwischen Deutschland, das die meisten doch nur als Durchgangsland ansehen, verlassen haben sollte. Diese geringe Zahl kann, das muss mit aller Entschiedenheit betont werden, gegenüber den Millionen deutscher Arbeiter kaum eine so bedeutende Rolle spielen, wie es oft vom Ressortstandpunkt aus dargestellt wird,

Ist nun schon die Zahl der unterzubringenden bzw. untergebrachten ostjüdischen Arbeiter im Verhältnisse zur Zahl der deutschen Arbeiterschaft eine ganz geringe, so gewinnt das ganze Problem noch durch verschiedene Umstände ein besonderes Aussehen:

1. Trotz einer in Deutschland noch immer bestehenden, nicht fortzuleugnenden Arbeitslosigkeit, die allerdings seit einem Jahr außerordentlich und ständig abgenommen hat (gab es doch am 19. Februar 1919 Erwerbslose in Deutschland: 1.100.889, hingegen im Januar 1920 nur noch 371.675), besteht in Deutschland ein Arbeitermangel in verschiedenen Berufszweigen für gewisse gelernte Arbeiterkategorien und zwar auch für solche, an denen die ostjüdischen Arbeiter hervorragend beteiligt sind.

2. Aber auch in der Frage der Unterbringung ungelernter Arbeiter bzw. solcher, die in ihrem eigentlichen Handwerk bzw. Berufszweige keine Arbeit finden konnten, muss auf verschiedene Tatsachen hingewiesen werden, die, einer oberflächlichen Betrachtung entgegen, eine Beschäftigung solcher Arbeiter in der deutschen Volkswirtschaft objektiv ohne Schädigung für dieselbe möglich machen. Es ist eine nicht wegzuleugnende Tatsache, dass der deutsche Arbeiter — und das mit Recht — einen Berufsstolz besitzt, der ihm verbietet, wenn einmal in seinem Berufszweige Arbeitsmangel herrscht, nun ohne weiteres in die Klasse der angelernten Arbeiter überzugehen. Er bezieht dann lieber die ja zum Leben kaum ausreichende Erwerbslosenunterstützung, als durch Übergang zu den ungelernten Arbeitern seinem Bewusstsein nach eine soziale Stufe herabzusteigen. Selbst bei den ungelernten Arbeitern, an denen scheinbar großer Überfluss ist, liegt es so, dass auch diese hierzulande viel zu bodenständig in ihrer Heimatstadt sind, wohin sie ja übrigens durch die Vorschriften der Erwerbslosenfürsorge verwiesen werden, als dass sich diese ,,industrielle Reservearmee" in ihrer Verschiebung von Ort zu Ort immer sofort dem örtlichen Bedarf anpassen könnte.

Ganz anders nun liegen die Verhältnisse bei den ostjüdischen Arbeitern. Diese, zum Teil vor den Pogromen flüchtend, zum anderen Teil durch den Krieg in ihrer wirtschaftlichen Existenz völlig vernichtet, ohne Unterstützung ihres Heimatstaates, der sie als Parias behandelt, auf der Wanderung befindlich, können nicht den Berufsstolz des deutschen Arbeiters haben und sind in der Tat bereit, um nur das Leben fristen zu können, zu jeglicher Beschäftigung überzugehen. Wie der Leiter der Jüdischen Abteilung der deutschen Arbeiter-Zentrale in Warschau, Herr Julius Berger, in seiner Schrift „Ostjüdische Arbeiter im Kriege" mit einem großen Verständnis für die Psychologie der jüdischen Massen andeutet, ist die gerade sich darbietende Arbeit dem jüdischen Arbeiter, gleichgültig, wie sie im Augenblick aussieht, zunächst nur eine Chance, um weiter zu kommen, weiter zu wandern nach Gebieten einer großen jüdischen Siedlung, Amerika usw., wo sich dann wieder Existenzmöglichkeiten in einer jüdischen Umgebung, ebenso wie es die polnischen und galizischen Städtchen und Dörfer waren, bieten. Gute Kenner der ostjüdischen Psychologie versichern, dass sich in den letzten Jahren zum Teil durch den Niederbruch des jüdischen wirtschaftlichen Lebens in Polen, zum Teil durch die von der Palästinahoffnung getragene Hechaluz-(Pionier-)bewegung ein bemerkenswerter Umschwung in der Psyche dieses Teiles der Judenheit vollzogen habe. Stärker der Realität zugewandt, ist die Einstellung zur Arbeit, die früher, was die Schwerarbeit angeht, mehr ablehnend war, eine andere und positivere geworden. Es ist nun klar, dass der ostjüdische Arbeiter, der sich in Deutschland ohnehin auf der Wanderung befindet, leichter sich dem Bedürfnis nach ungelernten Arbeitern wird anpassen können, als es der großstädtische deutsche Arbeiter aus den obengenannten Gründen vermag. Dabei ist sein proletarisches Bewusstsein sehr scharf ausgeprägt; die Mehrzahl dieser Arbeiter ist parteimäßig und gewerkschaftlich organisiert und wehrt sich gegen jede Zumutung, als Lohndrücker sich in Arbeit zu begeben.

Dass tatsächlich bereits wieder wie im Frieden ein Bedarf nach ausländischen Arbeitern, besonders in der Landwirtschaft, besteht, geht aus den dringenden Forderungen der Landwirtschafts- und verschiedener Industriebezirke, in denen auch im Frieden in hervorragendem Maße ausländische Arbeiter beschäftigt waren, hervor. So wurden durch die Arbeiterzentralen und durch Arbeitsnachweise nach den Mitteilungen des Reichsarbeitsblattes im Dezember 1919, 2.128, im Januar 1920 1.613 ausländische landwirtschaftliche Arbeiter in Stellung gebracht, wobei zu bemerken ist, dass naturgemäß diese beiden Wintermonate niedrigste Ziffern im Bedarf bringen.

Bei den nun folgenden statistischen Angaben muss von vornherein betont werden, dass sie, soweit sie die jüdischen Arbeitsämter betreffen, naturgemäß nur Ausschnitte geben können, da nur ein Teil der ostjüdischen Arbeiter — wie das übrigens bisher trotz allen Versuchen bei den deutschen Arbeitsnachweisen nicht anders ist — durch das Jüdische Arbeitsamt und seine Zweigstellen vermittelt wird, während ein großer Teil sich wild vermittelt.

Über die Lage des Arbeitsmarktes im Januar 1920 berichtet das ,,Nachrichtenblatt des Reichsamtes für deutsche Einwanderung, Rückwanderung und Auswanderung" nach Angaben des Reichsarbeitsblattes folgendes:

Die Arbeitslosigkeit betrug bei den organisierten Arbeitern im

................ Dezember Januar
1908 .... 4,4%
1909 .... 2,6% ......... 4,2%
1910 .... 2,1% ......... 2,6%
1911 .... 2,4% ......... 2,6%
1912 .... 2,8% ......... 2,9%
1913 .... 4,8% ......... 3,2%

Die Kriegsjahre scheiden wegen der Unvergleichbarkeit der Zahlen aus.

................ Dezember Januar
1918 .... 5,1% .........
1919 .... 2,9% ......... 6,6%
1920 .... ........... ......... 3,3%

Zu diesen Ziffern ist zu bemerken, dass inzwischen die Mitgliederzahlen der großen Gewerkschaften ganz erheblich gestiegen sind. Demgemäß wird ein beträchtlicher Teil der vor der Revolution durch diese Statistik nicht erfassten Arbeitnehmer hineinbezogen, unter denen erfahrungsgemäß die Arbeitslosigkeit größer war als unter den gewerkschaftlich organisierten. Wenn trotzdem der Prozentsatz nunmehr für Dezember 1919 wesentlich niedriger als für 1913 und für Januar 1920 nur um 0,1% höher als für den Januar 1913 lautet, so beweisen diese Zahlen, dass die Arbeitslosigkeit, so groß sie absolut auch noch ist — es werden, wie oben erwähnt, noch immer 371.675 Arbeitslose unterstützt — , dennoch keinen so erschreckenden Umfang aufweist, wie man ohne Kenntnis der Friedenszahlen anzunehmen geneigt ist.

Im Einzelnen nun betrug die Arbeitslosigkeit der organisierten Arbeiter beim Metallarbeiter-Verband im Jahre 1914 4,1%, im Dezember 1919 2,0%. Bei den Fabrikarbeitern (ebenfalls freie Gewerkschaft) im Januar 1914 5,3%, im Dezember 1919 2,9%, im Januar 1920 2,9%. In der Holzindustrie (freie Gewerkschaft) im Januar 1914 7,3%, im Dezember 1919 2,9%, im Januar 1920 1,8%. Bei den freien Gewerkschaften Groß-Berlins, von denen 32 an das statistische Reichsamt berichten, hat in der Zeit vom 29. Dezember 1919 bis zum 26. Januar 1920 die Zahl der arbeitslosen Mitglieder bei den Männern von 40.088 auf 28.911, bei den Frauen von 4.050 auf 2.743 abgenommen, während z. B, noch im Februar 1919 die Arbeitslosenziffer, allerdings einschließlich der unorganisierten, 274.835 betrug. Die Berichte der Landesarbeitsämter im Reichsarbeitsblatt geben weiter ein gutes Bild des Arbeitsmarktes, und wenn auch in vielen Berufszweigen, wie es übrigens auch im Frieden der Fall war, ein Überangebot von Arbeitskräften besteht, so herrscht doch andererseits, besonders im Bekleidungsgewerbe, in der Holzindustrie, zurzeit auch in der Metallindustrie lebhafte Nachfrage nach Arbeitskräften, während für andere Gewerbe, wie sogar für das Handelsgewerbe, die Verhältnisse sich zu bessern beginnen. Die Inserate der großen Unternehmen in Rheinland-Westfalen nach Arbeitern jeder Art, die uns täglich vorliegen, beweisen ebenfalls den dringenden Bedarf der Industrie, der durch die Tätigkeit der öffentlichen Arbeitsnachweise nicht gedeckt werden kann. Zum Schluss seien hier einige Ziffern über die Tätigkeit des Jüdischen Arbeitsamtes in Berlin und seiner Zweigstelle Duisburg mitgeteilt. Danach meldeten sich in den beiden Stellen bisher gegen 5.500 ostjüdische Arbeiter, deren Berufsgliederung wie folgt war:

Landwirtschaft 3,69%
Industrie und Handwerk 68,30%
Handel und Verkehr 11,13%
Freie Berufe 2,62%
Verschiedene Lohnarbeiter
ohne Angabe 14,26%

Die unter „Industrie und Handwerk" gerechneten obigen 68,30%, gliedern sich weiter wie folgt:
Bekleidungsgewerbe:
(Schneider, Mützenmacher, Kürschner) 29,00%
Metallarbeiter:
(Schlosser, Klempner, Elektromonteure, Schmiede) 14,80%
Nahrungsmittelgewerbe:
(Bäcker, Schlächter, Konditor) 10,70%
Schuster und Schäftemacher 10,00%
Holzgewerbe:
(Tischler, Zimmerer, Schreiner) 4,40%
Weber 4,00%
Sattler, Lederarbeiter 3,00%
Friseure 2,50%
Buchdrucker, Schriftsetzer 2,30%
Buchbinder 2,00%
Maler, Anstreicher 2,00%
Uhrmacher 2,00%
Fabrikarbeiter 8,20%

Verschiedene:
(Drogisten, Tapezierer, Gerber, Glaser, Goldschmiede usw.) 5,10%

(vgl. Neue Jüdische Monatshefte, IV. Jahrgang, Heft 11/12.)

Für die Unterbringung ergeben sich folgende Zahlen:

Als Landarbeiter 10,00%
Als gelernte Industriearbeiter und Handwerker 35,00%
Ungelernte Industriearbeiter und Lehrlinge 55,00%
(vgl. Neue Jüdische Monatshefte, IV. Jahrgang, Heft 11/12.)

Es dürfte aus den Ziffern hervorgehen, dass die Auffassung der ostjüdischen Einwanderung als einer Einwanderung von Schiebern und Verbrechern unhaltbar ist. Es handelt sich zum weitaus größten Teil um arbeitswillige und arbeitsfähige Elemente — sind doch die jüdischen Einwanderer meistens junge Leute im militärpflichtigen Alter — die ihrer Berufsschichtung und ihrem Willen nach zu jeglicher Arbeit mit Nutzen in der deutschen Volkswirtschaft produktiv untergebracht werden können. Nur wenn man die Arbeitsvermittlung an diese Flüchtlinge aus bürokratischen Erwägungen unnötig erschwert und statt sie zu verteilen, sie in den Großstädten zusammengepfercht hält, zwingt man sie aus einfachem Selbsterhaltungsdrang zur Schieberei überzugehen.

greiser Jude aus dem Osten Europas

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greiser Jude aus dem Osten Europas 02

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greiser Jude aus dem Osten Europas 08

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jüdisches Mädchen

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junge jüdische Frau

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