Graubünden

Rhätien hieß das Land, eh es durch den in den obersten Rheintälern gestifteten grauen Bund den heutigen Namen erhielt. Auch Graubünden hat seine Teile, u. s. w., ihre Namen sind nicht zu gleicher Berühmtheit gelangt; nicht um Ruhm ja traten sie zusammen, sondern für ihr Volk, und dies erfreut sich noch heute der von ihnen begründeten Freiheit, Die Geschichte könnte der Namen ganz entbehren, viele Wohltäter des Menschengeschlechts nennt sie nicht; die Sage ist dankbarer, sie behält uralt ehrwürdige, der Geschichte entfallene Namen, und im Fall der Not setzt sie den einen statt des andern. Oft aber borgt die Geschichte, die ärmere Schwester, von der Sage, bis die Kritik hinzutritt und jeder ihr Eigentum wieder zuweist. So hat mau neuerdings Tells Apfelschuss aus der Geschichte in die Sage verwiesen, ja selbst Teils wie Gesslers Dasein geleugnet. Wenn aber die Sage aus lebendiger Anschauung den Sohn der Alpen schildert, wie er das Leben täglich für sich und andere wagt, und doch der Dränger Unbill langmütig erträgt, und nur wenn er aufs Äußerste gebracht wird, zu dem sichertreffenden Pfeile greift, ist das nicht auch Geschichte? Aber leugne man nur die Teile, die Eidgenossenschaft freier Schweizer bleibt eine unleugbare Tatsache. So möge auch Graubündens Freiheit noch blühen, wenn einst der Dolch der Kritik die Namen der Männer getroffen hat, die zu ihrer Gründung den ersten Anlass gaben.

Der Geist der Freiheit weht am ganzen Rhein, von den Quellen zu den Mündungen: der Schweizer ist nicht freier als der Friese; beide nicht freigesinnter als die zwischen ihnen im Rheintal wohnenden Völker. Aber in der Schweiz und in Rhätien waren die Landvögte und Kastelane früher bedacht, das Volk zu drücken und zu drängen, bis der lang gesponnene Faden seiner Geduld entzweiriss.


Im Schamsertal, dem der kaum entsprungene Hinterrhein aus dem Rheinwaldtal in schönen Wasserfällen durch die Bergenge Roffeln zueilt, liegt auf einem hohen Felsen die feste Bärenburg. Jenseits, doch tiefer unten, lag in Donat, dem Hauptort des Tals, das Schloss Fardün. Beide ließ Graf Heinrich von Werdenberg zu Sargans durch seine Kastelane verwalten. Diese sollen die Menschheit gehöhnt und das Volk unleidlich gedrückt haben. Der auf der Bärenburg zwang die Bauern, mit dem Vieh aus dem Schweinstrog zu essen; der von Fardün trieb den Landleuten seine Herden in die Saat. Schweigend ertrug es das Volk, bis Johannes Caldar des Kastelans Pferde, die man ihm in die Saat schickte, erstach. Das sollte er in Ketten büßen ; aber die Seinigen lösten ihn mit schweren Summen. Denn Johannes Caldar war vermögend und edeln Geschlechts; aber selbst Edle schonten die Unterdrücker nicht.

Als Johannes Caldar mit den Seinen, die ihn befreit hatten, zu Tische saß, trat der Kastelan von Fardün ins Gemach. Den Eintrittsgruß blieb er schuldig; statt dessen spuckte der übermütige in den Brei, der den Tischgenossen zum Mahle bereitet stand. Da ergrimmte Caldar, fasste den Wüterich ins Genick, drückte sein Haupt in die besudelte Speise und zwang ihn, den Topf selber zu leeren. Ob er noch strengere Rache an ihm genommen, wissen wir nicht ; aber das aufgerufene Volk stürmte den Zwinger, Fardün und Bärenburg wurden gebrochen und der Grund zu der Freiheit des Tals war gelegt. Vielleicht fielen damals auch andere benachbarte Burgen. Von Hohenrealt wird erzählt, dass der letzte Zwingherr, als er von den Schamsern und seinem Volk belagert das Schloss nicht länger halten konnte, sich mit seinem Pferde von der senkrechten Felsenwand Tusis gegenüber in den Rhein hinabgestürzt habe ; eine Tat, eines bessern Täters wert.

Einen andern Vorfall, der zur Befreiung Hohenrhätiens Veranlassung ward, sei uns erlaubt mit Zschockens wenig veränderten Worten zu berichten: ,,Im hohen grünen Tale des Engadin, von dessen Gletscherhöhlen der Innstrom hervorbraust gegen Tirol, war die Burg Gardovall, auf dem Felsen ob dem Dorfe Madulein, der Schrecken des Landes. Der grausame Kastelan von Gardovall sah eines Tages die Schönheit eines Mägdleins aus dem gegenüberliegenden Dorfe Camogask. Und er schickte seine Knechte hinüber, die sollten ihm das Mägdlein zuführen. Da erschrak des Mägdleins Vater und die Tochter verzweifelte fast. Der Vater aber fasste ein Herz und sprach zu den Knechten: Saget dem gnädigen Herrn, ich werde ihm mein Kind zum Morgen selber ins Schloss bringen. Als sie fort waren, lief der Vater zu seinen Nachbarn und Freunden, erzählte was geschehen sei und rief: ,,Sind wir, Menschen, dieses Herren Vieh?'“ Da kochte Zorn in aller Brust und sie schworen in der Nacht zusammen, dem Elende des Tals ein Ende zu machen, oder unterzugehen.

„Im Frühschein führte Adam, der Camogasker, seine schöne Tochter in Feierkleidern wie eine Braut geschmückt nach Gardovall. Einige der Verschworenen folgten wie im Brautgeleite; andere hatten sich um das Schloss im Hinterhalte versteckt, alle bewaffnet.

„Kaum sah der Kastelan das Mägdlein ankommen, so sprang er fröhlich von den Stiegen des Schlosses nieder und wollte die Unschuld vor den Augen des Vaters umarmen. Da zuckte Adam von Camogask das Schwert und stieß es in das Herz des Ungeheuers. Er und die Seinigen stürmten in die Burg, erschlugen die Knechte, gaben das Zeichen der Freiheit aus den Fenstern und der Hinterhalt drang nach. Gardovall ging in Flammen auf. Frei war die Landschaft unter den Innquellen von der Gewaltherrschaft des Zwingherrn.“

Bis hierher wissen wir die Namen der Handelnden, der Dränger wie der Bedrängten ; und doch sind dies nur vereinzelte Vorfälle, die ohne das, was sich weiterhin Dauerndes begab, ebenso erfolglos dastehen würden, wie Tells Schuss in der Geschichte der Waldstätte. Nicht in der hohlen Gasse, auf dem Rütli ward der Schweizer Freiheit gegründet. Und so ward Hohenrhätien nicht auf Gardovall, noch in Johannes Caldars bescheidenem Gemach befreit, sondern im einsamen Walde bei Truns, zwischen Disentis und Ilanz, am Vorderrhein. Die Namen der kühnen Männer, die hier bei stiller Nacht tagten, und des Landes Freiheit berieten, kennen wir nicht; doch meldet die Sage, sie seien Vorsteher der Dorfschaften, wohlbetagte Männer mit langen grauen Barten gewesen. Noch will man auf der nahen Wiese von Tovanosa in den Ritzen der Felsen die Nägel bemerken, an welche die freien Männer ihre Brotsäcke hingen, da sie bei der Quelle lagernd, die mitgebrachten Vorräte verzehrten. Dem weisen Abt von Disentis, Herrn Peter von Pontaningen, wird nachgerühmt, dass er ihr Unternehmen begünstigt und befördert habe. Durch seine Vermittlung kamen 1424 die Vornehmen und Gemeinen des Landes in Truns vor der Kapelle St. Annen unter freiem Himmel, bei der großen Linde, wie des Landes Sitte ist, zusammen, hoben die Hände auf und beschworen den sogenannten grauen, oder obern Bund, der noch besteht und bestehen soll, so lange Grund und Grat steht, das beisst, so lange Täler und Berge sind. Von diesem Bunde heißen die Rhätier Graubünder; aber ungewiss, warum der Bund grau genannt wird: ob die höchsten Alpen, in deren Angesicht er geschlossen ward, damals graue (Alpes grajae?) hießen, oder ob das Volk sieb in graues Tuch kleidete. Mitwirken mochte wohl der Gegensatz gegen den auf Veranlassung des Bischofs von Chur früher geschlossenen Gotteshausbund, welcher von der Tracht der Geistlichen der schwarze hieß. Späterhin bildete sich noch ein dritter, von den zehn toggenburgischen Gerichten in Rhätien genannter Bund; aber der Name Graubünden ging auf alle rhätischen Landschaften, selbst auf diejenigen über, die ursprünglich zum schwarzen Bunde gehört hatten.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das malerische und romantische Deutschland