Der große Lauffen

Der Rheinfall bei Schaffhausen hat nicht nur den Namen dieser Stadt in aller Welt berühmt gemacht, sondern er ist es eigentlich, dem sie Entstehung und Blüte verdankt. Dies geschah nicht etwa durch den Besuch der Fremden, welche ein so einziges Naturschauspiel zu betrachten zahlreich herbeieilen, obwohl auch diese nicht ganz unbedeutend dazu beitragen mögen, sondern durch das natürliche Stapelrecht, welches der Rheinfall zu Gunsten der Stadt, besser als es ein kaiserliches Privilegium vermöchte, begründet hat. Da kein Schiff, ohne in tausend Stücke zu zertrümmern, den Rheinfall hinab kann, so müssen alle Güter, die aus dem Bodensee u. s. w. hierher gelangen, oberhalb Schaffhausen ausgeladen, auf der Achs durch die Stadt geführt und unterhalb des Wasserfalles wieder an Bord genommen werden. Die großen Schiffe fahren daher nur bis nach Schaffhausen ; kleinere aus leichten Tannendielen gezimmerte, sogenannte Lauertannen, werden wie ihre Ladung durch die Stadt, am Wasserfall vorbeigetragen und unterhalb desselben wieder auf den Strom gesetzt. Vermutlich lag hierin der Grund der ersten Ansiedelung, aus welcher Schaffhausen, dessen Name auch von Schiff, oder dem lateinischen Scapha abgeleitet wird, hervorging. Dabei könnte aber befremden, dass Schaffhausen eine gute Stunde oberhalb des Wasserfalls liegt; deshalb müssen wir des Umstands gedenken, dass schon vor der Stadt die Schifffahrt durch einen Felsendamm gehemmt wird, der bei niederem Wasserstand sichtbar hervorragt. Er besteht, gleich der Felswand und den Felszacken des Wasserfalls, aus Kalksteinen, was den Zusammenhang beider Steinmassen mit dem hier auslaufenden Juragebirge bestätigt. Die Volkssprache nennt die Felsen des Damms die Lächen.

Bei Schaffhausen hört man den Rheinfall schon toben und brausen. Er ereignet sich aber erst bei dem Zürcher Schlösschen Lauffen, das auf der linken Rheinseite auf einem hohen Felsen liegt. Dieser bildete wohl einst mit dem Steindamme, welchen hier der Rhein zu durchbrechen hatte, eine fortlaufende Bergwand, von der die Felsblöcke, die sich jetzt mitten im Strom dem Sturz entgegenstemmen, nur Überbleibsel sind.


Die Tiefe der Felswand, welche sich der Rhein herabzustürzen hat, beträgt etwa siebzig bis achtzig Fuß. Aber eben da er den Anlauf zum Hinabspringen nimmt, stemmen sich ihm fünf (jetzt nur noch drei) Felsblöcke entgegen, welche aus der Wand emporragen. Einer derselben wird ganz überströmt, die übrigen nur bei dem höchsten Wasserstande. Der überströmte Felsen ist dem Schloss Lauffen am nächsten, an dessen Fuß das Gerüste Fischenz, ein hölzerner balkonartiger Vorbau über dem Abgrunde, die vorteilhafteste Stellung gewährt, um den ganzen vollen Findruck des erhabenen Schauspiels mit einem Mal zu gewinnen.

Schon oberhalb des Sturzes musste sich der Strom in ein enges Felsenbette zwängen lassen, aus dem zahllose Klippen emporstarrten. Darüber schäumend vor Unmut gelangt er mit starkem Gefalle in die Nähe der Felszacken, wo der Boden schon unter ihm weicht, und der Fall, obwohl erst allmählich, beginnt. Mit gewaltsamer Eil schießt er gegen die Felsblöcke hinab, an denen sein Fall sich bricht, der erst jetzt eigentlich geschehen soll. Beim Anprallen gegen die Felsen zerstäubt ein Teil des Wassers und steigt als dichte Nebelwolke in die Höhe, ein anderer bildet siedende, schäumende Gischt, ein dritter wälzt sich in großen Maßen über den Felsen und gelangt hinab in den Kessel, wo das Sieden, Schäumen und Strudeln von Neuem anhebt. Denkt man sich dies in der größten Geschwindigkeit hinter einander und zugleich neben einander, da ein Teil des Wassers schon im Kessel zischt und brandet, wenn der andere erst wider die Felsen prallt, und über sie hinaus spritzt; denkt man sich dies Schauspiel bei jedem der Felsblöcke mit der Abänderung wiederholt, dass nur der erste Felsen überströmt wird, und lässt man dann die Sonne sich entschleiern, um den mannigfaltigsten, herrlichsten Farbenwechsel hervorzubringen, indem sie die vom Wind gekräuselten Säume des Schaums vergoldet, den Wasserspiegel mit Glanz überstrahlt, und im aufsteigenden, schnell bewegten Dunst den flüchtigen Regenbogen hervorzaubert, dessen Oberes von der Luft hin und her getrieben, vom neu aufwallenden Nebel verwischt und doch gleich wieder neu erzeugt wird, während der Fuß ruhig und unbeweglich in Gischt und Schaum des Kessels steht — fasst man dies Alles in eine Vorstellung zusammen, so hat man ein schwaches Bild dessen, was an dem Phänomen Sichtbares ist. Auf das Ohr wirkt gleichzeitig das ungeheure Donnergetöse des Sturzes so gewaltsam, dass man es in stiller Nacht auf zwei Meilen weit hört, in der Nähe aber Niemand sein eigenes Wort vernimmt. Auch dem Gefühle macht es sich durch die Lufterschütterung und den Staubregen bemerklich, der den Zuschauer in kurzer Zeit durchnässt, wenn er sich dem Anblick zu unbedachtsam hingibt.

Vom Gerüste Fischenz kann man die dem andern Ufer näher liegenden Fälle nicht deutlich erblicken, deswegen begibt man sich wohl nach einem in der Nähe des Schlosses stehenden Pavillon, oder fährt nach dem jenseits liegenden Schlösschen Wörth, das auch das schaffhausische Lauffen genannt wird, wo man sich der Mitte des Falls gerade gegenüber befindet, obwohl schon in zu großer Entfernung. Noch ungünstiger ist der Standpunkt bei den Neuhauser Mühlen auf dem rechten Ufer, wo sich alles verkürzt und der kleinere Sturz den größeren verdeckt. Hat man nun noch die Neuhauser Höhe besucht, wo man eine Übersicht der ganzen Gegend gewinnt, so wird man sich wieder hinübergezogen fühlen, um den unvergleichlichen Anblick, der nur auf dem Gerüste Fischenz ganz genossen werden kann, noch einmal zu erleben; es wäre denn, dass man für diesmal auf der Schaffhauser Seite zurückzukehren gedächte, um bei anderer Stimmung oder Beleuchtung, z. B. bei Nacht und Mondenschein, das erhabene Naturschauspiel sich noch einmal aufführen zu lassen.

In einer im Jahr 1797 niedergeschriebenen skizzenhaften Beschreibung des Rheinfalls bemerkt Goethe, das Wunderbarste daran seien ihm die Felsen, welche sich in dessen Mitte so lange erhielten, da sie doch vermutlich von derselben Gebirgsart seien, wie der klüftige Kalkstein, welcher die Felsen beider Ufer bilde. Allein seitdem, in diesem Jahrhundert, sind zwei der 5 Felsen im Strombette zusammengestürzt, welche weder die ersten gewesen sein mögen, noch die letzten bleiben werden. Bedenkt man, dass schon ein Tropfen durch öfteres Niederfallen einen Stein höhlt, wie viel größer muss die Wirkung eines ganzen Stroms in Jahrtausenden sein? Wenden wir dies auf Vergangenheit und Zukunft an, so wird sich dort eine Zeit ergeben, wo die jetzt durchbrochenen Felsen des Strombetts mit jenen der Ufer dem Rhein einen Damm entgegensetzten, den er nicht sogleich bewältigen konnte, wodurch vielleicht die Ausbildung der beiden großen Seebecken begünstigt ward. Das vorschauende Janusantlitz blickt hingegen auf das gerade Widerspiel, auf ein vollkommen ausgewaschenes, von allem Widerstand gesäubertes Strombette, in dem der Rhein ruhig hinwandelt, leichte Kähne, wie die stolzen Dampf- und Segelschiffe auf dem glatten Rücken tragend. Daher ist dem schaulustigen Leser, der den größten Wasserfall Europas noch nicht gesehen hat, alles Ernstes zu raten, den Besuch desselben nicht allzulange hinauszuschieben: nach tausend Jahren fände er vielleicht die Stelle, wo er einst Statt hatte, nicht wieder auf.

Der Rheinfall wird im Munde des Volks jener Gegend nicht anders als der Lauffen, und zwar der große Lauffen genannt, wenn man ihn von dem kleinen Lauffen, einem zweiten nicht so bedeutenden Falle des Rheins, der weiter unten bei Lauffenburg Statt hat, unterscheiden will. Die beiden Lauffen genannten Schlösschen und jenes Lauffenburg führen ihren Namen ohne Zweifel erst von den entsprechenden Wasserfällen, wie auch das leberbergische Städtchen Lauffen von dem schönen Falle der Birs genannt ist. Gewöhnlich findet man die umgekehrte Angabe ; selbst Glutz-Blotzheim sagt, zuweilen trage der Rheinfall den Namen des Schlosses. Ob der Name Lauffen deutsch oder keltisch sei, ist schwer zu sagen; mit dem deutschen Zeitwort laufen hat er aber wohl nichts zu schaffen. Eher möchte man einen Zusammenhang mit Lawine vermuten, da das althochdeutsche louuin, von welchem dieses Wort abgeleitet wird, einen Gießbach bedeutet.

Schaffhausen selbst ist als Geburtsstadt Johannes von Müllers berühmt. In seinem Münster hängt die große 1486 gegossene Glocke, welche die aus Schillers Gedicht berühmte Umschrift führt: vivos voco, mortuos plango, fulgura frango. Was der sogenannte große Gott von Schaffhausen, der nach dem rheinischen Antiquarius zwei und zwanzig Fuß lang war, eigentlich für ein Heiliger gewesen, wird vielleicht noch auszumitteln sein. Der gleichbenannte Schweizerkanton, der einzige, der nach Graubünden noch auf der rechten Rheinseite liegt, bildet gleichsam den Brückenkopf zwischen Deutschland und der Schweiz. Um so weniger dürfen wir der merkwürdigen Brücke vergessen, welche ehemals die Stadt mit dem jenseits liegenden Zürcher Flecken Feuertal verband. Diese Brücke, meldet Eichhof, war zwar nur von Holz, aber ein Meisterstück in ihrer Art, ein Hängewerk, welches, außer an den Ufern, nur auf einem einzigen Pfeiler ruhte, oder vielmehr auch auf diesem nicht einmal ruhte, wenigstens ist darüber gestritten worden. Man behauptet nämlich, des Künstlers Plan wäre gewesen, nur einen einzigen Bogen über den Fluss zu legen; da er aber von der Stadtobrigkeit angewiesen worden, sich jenes von einer ehemaligen steinernen Brücke noch vorhandenen Pfeilers zu bedienen, so hätte er zum Scheine dem Befehle sich gefügt, aber seine Baueinrichtuugen auf eine Art gemacht, dass in der Tat gleichwohl kein Teil durch denselben getragen worden. Dieser Künstler war nur ein gewöhnlicher Zimmermann von Tüffen im Kanton Appenzell, Hans Ulrich Grubenmann mit Namen, und man muss gestehen, dass in dieser Hinsicht, auch angenommen, dass durch den gedachten Pfeiler wirklich zwei Bogen entstanden wären, die Brücke dennoch Bewunderung verdient hatte, denn immer wären, da diese in ihrer Ausdehnung 364 englische Fuß enthielt, auf die Öffnungen der beiden Bogen, des größten 193, und des kleinsten 171 Fuß gekommen. Ein einzelner Fußgänger, der über dieselbe hinschritt, fühlte das Gerippe unter seinen Füßen zittern, und dennoch trug sie schwerbeladene Lastwagen wie jede andere. Ihr Bau, der von 1754 an in drei Jahren vollendet wurde, hatte über 60.000 Rthlr. gekostet; ein einziger Tag vernichtete sie, da sie in dem Krieg zwischen Österreich und Frankreich zu Anfang dieses Jahrhunderts, bei einem Rückzug der Truppen letzterer Macht, in Brand gesteckt wurde.

Die mündliche Sage behauptet, die allen Alamannen hätten am Rheinfall Pferdeopfer dargebracht. Wem könnten diese gegolten haben als dem Stromgotte, der sich hier gewaltiger als irgendwo zeigt? Auch ein Volkslied, das am ganzen Rhein, von den Quellen zu den Mündungen, gesungen wird, spielt in dieser Gegend. Einzelne Strophen desselben haben sich nur in niederländischen Mundarten erhalten. Erfreut, die Einförmigkeit des prosaischen Vortrags mit diesem schönen Liede unterbrechen zu können, teilen wir es hier so vollständig mit, wie es sonst nirgend gefunden wird.

Der Zimmergesell

Es war einmal ein Zimmergesell,
War gar ein jung frisch Blut,
Er baute dem jungen Markgrafen ein Haus,
Sechshundert Schauläden hinaus.

Und als das Haus gebauet war,
Legt' er sich nieder und schlief:
Da kam des jungen Markgrafen Weib,
Zum zweiten- und dritten Mal rief:

,,Steh auf, steh auf, junger Zimmergesell,

Denn es ist an der Stund,
Hast du so wohl ja gebauet das Haus,
So küss mich an den Mund.“ —

,,Ach nein, ach nein, Markgräfin fein,
Das war uns beiden ein' Schand,
Und wenn es der junge Markgraf erführ',
Müsst' ich wohl meiden das Land.“

Und als sie beide zusammen war'n,
Sie meinen sie wären allein,
Da schlich wohl das älteste Kammerweib her.
Zum Schlüsselloch schaut sie hinein.

,,Ach edler Herr, ach edler Herr,
Groß Wunder, zu dieser Stund
Da küsset der jung frische Zimmergesell
Die Frau Markgräfin an Mund.“ —

,,Uud hat er geküsst meine schöne Frau,
Des Todes muss er sein,
Einen Galgen soll er sich selber bann
Zu Schaffhausen draus an dem Rhein.“

Und als der Galgen gebauet war,
Sechshundert Schauläden hinaus.
Von lauter Silber und Edelgestein
Steckt er darauf einen Strauß.

Und als die Frau Markgräfin das vernahm,
Ihrem Knappen rief sie schnell:
,,Mein Pferdchen sollst du mir satteln bald
Um den jung frischen Zimmergesell.“ —

,,Ihr Herren, säht ihr alleine
Die junge Frau Markgräfin stehn.
Würdet ihr sie halsen und küssen,
Oder würdet den Kuss verschmähn?“ —

Sie spracheu: ,,Böt' sich zum Kusse
Die junge Frau Markgräfin an.
Wir wollten sie halsen und küssen
Und wollten sie freundlich umfahn.“ —

„Wolltet ihr sie halsen und küssen
Und wolltet sie freundlich umfahn.
So hat auch der jung frische Zimmergesell
So Arges nicht getan.“

Da sprach der Markgraf seiher wohl:
„Wir wollen ihn leben lahn ;
Ist Keiner doch unter uns Allen hier,
Der dies nicht hätte gethan.“ —

Was zog er aus der Taschen ?
Wohl hundert Goldkronen so rot:
„Geh mir, geh mir aus dem Land hinaus,
Du findest wohl überall Brot.“

Und als er hinaus gezogen war.
Da ging er über die Haid,
Da steht wohl des jungen Markgrafen Weib
In ihrem schneeweißen Kleid.

Was zog sie aus der Taschen gar schnell?
Viel hundert Ducaten von Gold:
„Nimm's hin, du schöner, du feiner Gesell,
Nimm's hin zu deinem Sold.“

„Und wenn dir Wein zu sauer ist.
So trinke du Malvasier,
Und wenn mein Mündel dir süsser ist,
So komm nur wieder zu mir.“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das malerische und romantische Deutschland