Das kranke Volk. Sekten und religiöse Sonderbündler in Russland

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1922
Autor: L. Marf., Erscheinungsjahr: 1922

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Religion, Sekten, Auswanderung, Massenselbstmord,
Russland ist unter den europäischen Staaten der Vorkriegszeit am meisten von religiösen Sonderbündlern bevölkert gewesen. In fast jedem Gouvernement gab es „Erleuchtete“, denen es gelang, eine gläubige Gemeinde um sich zu sammeln. Die Angehörigen mancher von diesen Sekten, die man im Lande nicht dulden wollte, wanderten in großer Zahl aus. An vielen Orten kamen die Bauern heimlich zusammen und suchten ihren neuen Glauben ängstlich geheim zu halten, um in Ruhe leben zu können. Aus entlegenen Distrikten machten sie sich nacheinander auf die Wanderschaft, traten allmählich in kleinen Hafenstädten zusammen und entkamen trotz aller Erschwerungen des Passwesens übers Meer. In den neunziger Jahren erregte es das größte Aufsehen, als man entdeckte, dass ganze Gemeinden spurlos aus dem Reiche verschwunden waren. Man fand nur noch die verlassenen Dörfer.

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Die Steuerbehörden hatten lange Zeit aus einem größeren Dorfe kein Geld erhalten. Schriftliche Mahnungen wurden nicht beantwortet. Da entsandte man aus der Kreisstadt zwei Beamte in das Dorf. Als sie im Wagen ankamen, war auch in dieser Gemeinde keine lebende Seele mehr. Tiere liefen frei, halbverwildert umher, kehrten aber doch teilweise in die Ställe zurück. Den Beamten blieb nichts übrig, als wieder heimzufahren. Unterwegs sahen sie ein weibliches Wesen, das am Waldrande in der Sonne hockte. Die Männer stiegen aus und fanden eine verwahrloste Irrsinnige, die ihnen, ohne zu widerstreben, folgte. Aus ihren verworrenen Reden ging nichts hervor, das über das geheimnisvolle Verschwinden der Dorfbewohner Klarheit gegeben hätte. Das Mädchen sagte immer wieder: „Gott hat alle zu sich gerufen.“ Man brachte die Geisteskranke in ein Irrenhaus, wo sie sich bei guter Pflege nach einiger Zeit wieder erholte. Was sie aber nun bei scheinbar klarer Vernunft erzählte, wollte kein Mensch glauben; es machte den Eindruck, als sei die Ärmste noch irrsinnig. Nach ihrer Aussage sollten sich die Bauern, um „von der Welt erlöst zu werden“, gegenseitig lebendig begraben haben. Beharrlich erklärte das Mädchen: „Unter der Erde wird man sie alle finden.“ Endlich entschloss sich die Behörde dazu, noch einmal nachsehen zu lassen, und das Mädchen reiste mit einer Untersuchungskommission nach ihrer Heimat. Unterwegs gab es genau an, wo man die einzelnen Dorfbewohner eingegraben finden würde. Die Wahrheit dieser Worte bestätigte sich. Es konnte festgestellt werden, dass über fünfhundert Menschen jeden Geschlechts und Alters freiwillig aus der Welt geschieden waren. Sie hatten sich lebendig begraben lassen.

In Russland gibt es in fast jedem größeren Dorfe ein meist aus massigen Baumstämmen gezimmertes, ziemlich umfangreiches Badehaus. Darin befinden sich große Feldsteine, die so aufeinandergeschichtet werden, dass man darunter Feuer anmachen kann. Diese Steine werden erhitzt und mit Wasser- überschüttet. Rings um die Wände laufen roh gezimmerte Galerien, auf denen die Leute sitzen, um ein Dampfbad zu nehmen. Anfang Juni des Jahres 1921 kam aus dem russischen Gouvernement Tambow die grauenvolle Nachricht, dass dort die Einwohner eines ganzen Dorfes Massenselbstmord begangen hätten. Mehr als dreihundert Männer, Frauen und Kinder versammelten sich im Badehause, das fest zugenagelt wurde. Als dies geschehen war, entzündeten sie das in der großen Blockhütte angehäufte Holz. Das Haus geriet in Brand, und alle fanden in den Flammen den ersehnten Tod.

070 Dorf an der Wolga

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096 Mennonitengehöft

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097 Bauern in Bessarabien

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098 Ein Zimmer wohlhabender Bauern

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100 Ochsenfuhrwerk in der Steppe

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106 Ländliche Wohnung in der Krim

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