Das Gesicht im Königsschlosse in Stockholm

An Königsschlösser knüpfen sich überall gespenstische Sagen, deren Ungrund, wenn sie auch mit ungläubigem Lächeln erzählt und angehört werden, doch oft nicht zu beweisen ist. Anders ist es mit dem geschriebenen Wort, anerkannt von Zeitgenossen, von mehren, die sich zusammen für einen Tatbestand verbürgen. So existiert im schwedischen Reichsarchiv ein Aktenstück, unterzeichnet vom Könige Karl XI., dem Kammerherrn Grafen Brahe, dem Leibarzt Baumgarten und dem Schlosskastellan, das jedem Fremden bereitwillig gezeigt wird und folgende Begebenheit als unbezweifelt wahr bezeugt.

„Karl XI. (Vater Karls XII.) war einer der weisesten Könige von Schweden. Er bestimmte die Vorrechte und Obliegenheiten der Stände des schwedischen Volkes und gab seinem Reiche viel nützliche Gesetze. Überdem war er ein gebildeter, tapferer, frommer, gesetzter und kaltblütiger Mann, der keineswegs zur Phantasterie sich neigte. Er verlor seine Gemahlin, Ulrike Eleonore, und obgleich er sie bei Lebzeiten nicht mit übergroßer Zärtlichkeit behandelt hatte, so bedauerte er doch ihren Tod mehr als man erwartete. Von dieser Zeit an wurde er schwermütiger und wortkarger wie früher, und suchte in der rastlosen Beschäftigung mit Staatsangelegenheiten Zerstreuung seines Kummers. An einem Herbstabende saß er im Schlafrocke und Pantoffeln vor dem Kamin in dem Schlosse zu Stockholm. Es war das alte Schloss auf dem Ritterholm am Mälarsee, eine Fassade mit zwei vorspringenden Seitenflügeln bildend. Das Kabinett des Königs befand sich am Ende eines dieser Flügel, gegenüber in dem andern der damalige Reichsständesaal. Im Zimmer des Königs war an jenem Abende bei ihm der Kammerherr Graf Brahe, der des Königs volles Vertrauen besaß, und der Leibarzt Baumgarten, ein verständiger Mann, der keinen andern Glauben gestatten wollte, als den man aus der Wissenschaft schöpfe. Der König saß an diesem Abend ungewöhnlich lange am Kamin und sah schweigend mit gebeugtem Haupte in die verlöschenden Kohlen. Brahe hatte den König mehrmals erinnert, dass es Zeit sei, zur Ruhe zu gehen, der aber wies das Anmahnen stets mit einer Bewegung der Hand zurück, und als nun der Arzt auch seine Meinung äußerte, wie schädlich der Gesundheit solch langes Wachen sei, sprach der Monarch zu ihnen: „Ich bitte, meine Herren! verlassen Sie mich noch nicht, mich flieht der Schlaf!“ Die beiden Herren unterhielten sich nun halblaut wie vorher, und Brahe, der glaubte, den Gram des Königs über die verlorene Gemahlin dadurch zu beschwichtigen, wandte sich zu diesem, indem er auf ein Portrait der Verstorbenen mit den Worten wies: „Welche Ähnlichkeit, welche Sanftmut und Größe sprechen aus diesen Gesichtszügen!“ Worauf ihm Karl halb ärgerlich erwiderte: „Es ist nicht so! der Maler war ein Schmeichler und die Königin nie so schön!“


Dann aber, als ob er die Äußerung bereue, erhob er sich von seinem Sessel, ging seufzend einige mal im Zimmer auf und ab, und blieb plötzlich an einem Fenster stehen, das nach dem Hof hinausführte. Die Nacht war dunkel, der Mond nicht am Firmament. Dem König schien es, als seien die Fenster des gegenüberliegenden Reichsständesaals erleuchtet; anfangs glaubte er, dass irgend ein Diener dort mit Licht umherginge, auch wohl, dass dort vielleicht Feuer ausgebrochen sei, allein beide Vermutungen waren irrig. Unterdes waren Brahe und Baumgarten auf den Wink des Königs auch hinzugetreten und sahen dasselbe. Der Erstere wollte nach einem Pagen klingeln, der Monarch aber hielt ihn mit den Worten zurück: „Lassen Sie das! ich will selbst in den Saal gehen!“ Obgleich bleich und mit Schrecken im Angesicht verließ er mit festem Schritte das Kabinett, der Kammerherr und der Arzt folgten ihm mit brennenden Kerzen. Man begab sich an das Zimmer des Kastellans, der die Schlüssel bewahrte, weckte ihn und Baumgarten befahl ihm im Namen des Königs die Tür zum Reichssaale zu öffnen. Der erschrockene alte Mann erschien mit seinem Schlüsselbunde und öffnete die Galerie, die als Vorzimmer zum Saale diente. Mit Entsetzen sahen Alle, dass hier die Wände schwarz behängt waren. „Wer hat das befohlen?“ fragte der König mit zorniger Stimme, worauf der Kastellan keine Antwort geben konnte. Unterdes hatte der König rasch die Galerie durchschnitten, ihm zur Seite der treue Brahe, während der Freigeist Baumgarten und der Kastellan zögernd folgten. Der Letztere beschwor den König, nicht weiter zu gehen, weil wohl böse Geister hier ihr Spiel treiben dürften. Auch Brahe riet ab, weil Alle ein seltsames Geräusch im Saale zu vernehmen glaubten.

Der mit jedem Schritt ängstlicher werdende Arzt aber, dem der Wind die Kerze verlöscht hatte, bat mit Zähneklappern um Erlaubnis, wenigstens doch 20 Trabanten der Wache heraufholen zu dürfen. Der König dagegen stieß mit dem Fuße gegen die eichene Tür, dass es weithin durch die Gemächer dröhnte, und befahl dem Kastellan zu öffnen. Dieser vermochte es nicht, denn seine Hand zitterte. Brahe antwortete auf den gleichen Befehl: „Gnädigster Herr! gebieten Sie mir auf eine dänische oder deutsche Batterie loszugehen, so werde ich gehorchen; hier haben wir es aber mit den Mächten der Hölle zu tun!“ Nun riss der König dem Kastellan den Schlüssel aus der Hand und mit den Worten: „Ich sehe, dass die Sache mich allein betrifft, Gott helfe mir!“ öffnete er die schwere Eichentür und trat in den Saal, seine Begleiter folgten ihm. Hell erleuchtet war der Reichssaal, schwarze Behänge wallten von den Wänden, vor denen die von Gustav Adolf erbeuteten feindlichen Fahnen aufgepflanzt waren, die schwedischen Standarten aber verhüllte ein Trauerflor. Eine große Versammlung saß auf den Banken rings umher: die vier Reichsstände des Adels, der Geistlichkeit, der Bürger und der Bauern. Aber die Gesichter der Versammelten, bleich vom Kerzenschimmer, waren dem Könige und seinen Begleitern unbekannt.

Auf dem Throne am Ende des Saals lag ein blutiger Leichnam im königlichen Ornat, zu seiner Rechten stand ein gekrönter Knabe, und links, die Hand auf die Sessellehne des Throns gestützt, ein Mann im weiten Purpurmantel. An einem Tische, bedeckt mit Büchern und Schriften, vor dem Throne saßen ernste, ehrfurchtgebietende Männer in langen, schwarzen Mänteln, wie Richter anzuschauen. Zwischen diesem Tische und dem Throne erhob sich ein niederes, schwarzes Schaffot, mit Block und Henkerbeil. Niemand beachtete den König und seine drei Begleiter, die ein Murmeln in der Versammlung vernahmen, ohne dass ein deutliches Wort zu ihrem Ohre drang. Plötzlich erhob sich der älteste der Richter von seinem Platze und schlug drei mal mit der Hand auf das offene Buch, das vor ihm lag. Und lautlos ward es im weiten Saale. Die den Eingetretenen gegenüberliegende Thür öffnete sich und herein schritten einige jüngere Männer in schöner Kleidung, hoch das Haupt tragend und stolz die Blicke umherwerfend. Aber ihre Hände waren rückwärts durch Stricke geknebelt, und an den Enden hielt sie ein wild schauender Mann, gekleidet in ein Wamms von Elennleder, fest. Als der vorderste der Gefangenen, wie es schien, der bedeutendste seiner Gefährten, dem Schaffot nahe gekommen, blickte er mit höhnendem Lächeln erst auf dasselbe und dann nach dem königlichen Leichnam auf dem Throne.

Der Leichnam aber erbebte wie im letzten Todeskampfe und aus der Wunde floß helles, rotes Blut. Dann kniete der Gefangene am Blocke nieder, der Mann im Elennskoller erhob das Beil, und zischend fuhr es durch den Nacken des Verurteilten, dessen Blut strömend vom Schaffot herab zum Throne floss und sich dort mit dem königlichen Blute vereinigte; das abgeschlagene Haupt rollte bis zu den Füßen Karls XI. und bespritzte sie mit Blut. Der fürchterliche Anblick löste das dumpfe Schweigen des Königs; nun trat er einige Schritte vor und sprach zu dem Manne im Regentenmantel: „Bist du von Gott gesandt, so rede! bist du nicht von Gott, so lass uns in Frieden!“ Und langsam mit feierlicher Stimme antwortete ihm die Gestalt: „König Karl! dieses Blut wird nicht während deiner Regierung fließen, aber — und hier ward die Stimme lauter — nach fünf Regierungen. Wehe, wehe, wehe dem Hause Wasa!“ Und wie die Worte geendet, verschwammen allmählich alle Gestalten und Alles rings umher wie im abendlichen Herbstnebel, die Kerzen erlöschten, und nur die, welche die Begleiter des Königs in Händen hielten, beleuchteten noch den Saal in seinem gewöhnlichen Schmucke. Ein Rauschen und Säuseln, wie von fallenden, dürren Baumblättern, und ein Tönen wie ferne Harfenklänge war nur noch hörbar, bis auch dieses verschwand. Der ganze Vorgang hatte ungefähr zehn Minuten gedauert. Nichts blieb zurück als die Erinnerung des Geschauten und ein großer Blutfleck auf einem Pantoffel des Königs. Der König kehrte schweigend mit seinen Begleitern in sein Gemach zurück, man holte den Kanzler herbei, und von ihm ward noch in derselben Nacht das Protokoll über die ganze Begebenheit aufgesetzt und von Denen, die sie erlebt, an Eidesstatt unterzeichnet. Dieses Aktenstück existiert wirklich; die gespenstische Vorschau hat sich als wahr erwiesen: Jener königliche Leichnam war Gustav III., der fünfte Regent nach Karl Xl., der Enthauptete Ankarström, der gekrönte Knabe Gustav IV., und der Alte am Throne der Regent des Königreichs, der nachmalige Karl XIII.

Wir wollen zu dieser als „unbezweifelt wahr bezeugten“ Erzählung nur hinzufügen, dass wir trotzdem an das Gesicht nicht glauben. Haben die Männer wirklich gesehen, was sie vorgeben gesehen zu haben und bezeugen, so liegt irgend ein Betrug zum Grunde, um wer weiß welchen Zweck dadurch zu erreichen.